Mirko Bonné
Du bist alt, sagt das Boot.
Yang Lian
(2/3)
Da gehen die weißen Türen auf,
und hindurch fahren die alten Fischer,
hinaus auf den Strom, Krabben zu fangen,
Krabben mit starken Scheren und Beinen,
die den überrunzelten Händen der Fischer
und den Gesichtern ihrer Frauen gleichen,
sodass manchmal wie unterm Brautschleier
eine Krabbe aussieht, die im Netz stillhält.
Küss sie, Xu Lian, lachend küss die Krabbe,
damit die am Ufer wissen: Gut war die Zeit!
*
22. Oktober 2012 13:07
Mirko Bonné
Du bist alt, sagt das Boot.
Yang Lian
(1/3)
Türen führen auf den Fluss, Segel,
so weiß wie ein Schlafzimmerschrank.
Zwei Brücken sind die Ufer, zwei Betten,
und am dritten Ufer warten die Toten.
Alle wollen sie münden, Xu Lian,
und wie du sein,
Tropfen,
der ins Gelbe Meer fällt.
*
17. Oktober 2012 16:41
Mirko Bonné
1
Wenn die Vögel anfangen zu sprechen, sprechen sie Mandarin.
Sie werden sich beklagen, dass sie uns gleichgültig sind,
wir ihre Küken in Karamell tauchen und essen am Stiel.
Achtet auf ihr Schweigen! Klingt es nicht vorwurfsvoll?
Zehntausend Dynastien alt, das Sperlingsgedächtnis.
2
Der Lärm aus den Platanen scheint eine Aufgabe zu haben.
Durch das Knarren der Zikaden fällt als künstliche Nacht
die Stille auf den Zhongshan-Park, und wir unter Bäumen,
stumme, hektische Falter, müssen lesen im Schattenbuch,
in Gesichtern der für alle Besinnung Verlorengegangenen.
3
Tanzen wir! Wie schwarze Falter, für die Zeit Musik ist,
taumeln wir übers Pflaster, brechen durch die Masken,
fliegen als schlafende Kiesel durch verlassene Pavillons.
Wir werfen unsere Kinder, werfen sie hoch in die Luft!
Türme aus Erinnerungen bauen sie, wenn sie fallen,
doch wir fangen nur den Sockel, den schwarzen Stiel.
Für Wang Anyi
献给王安忆
*
2. Oktober 2012 04:00
Mirko Bonné
Wenn du mit deinem Duft zu mir kommst,
seh ich deine jungen Augen, seh in die Zeit
und fühle dich, wenn du mit deinem Duft
dich zu mir legst. Ich atme ihn und dich,
ein Glück, ich atme. Es kommt eine Zeit
ohne dich, und eine Zeit wird es geben
ohne mich für dich. Jetzt bist du da.
*
22. September 2012 16:53
Mirko Bonné
Über Nacht, so scheint es, über Nacht
sind alle Blüten gekommen. Die Bienen
schwärmen aus, sie fliegen, beschwingt
vom ersten dünnen Aprillicht über den
silbernen Rollbahnen. Wissen Bienen,
dass die schöne Saumseligkeit eine
vorgetäuschte ist?
mmmmm mmmmmFlughafenbienen!
Erhöhte Schadstoffbelastung der Luft
lässt sie in ihren Kästen bleiben, Licht,
Duft weitgereister Flugbegleiterinnen,
den Margeriten in Kübeln zum Trotz.
Fliegen die Bienen, fliegen Maschinen.
Über Nacht, so scheint es, über Nacht.
8. September 2012 05:19
Mirko Bonné
1-Meter-Lauf der Gartenkräuter
Zieleinlauf
Bahn 1: Pimpernelle (FRA) 5 Mon, 28 Tg, 17 h, 3 min, 26 sec
Bahn 2: Zitronenmelisse (DEN) 5 Mon, 27 Tg, 23 h, 23 min, 17 sec
Bahn 3: Schnittlauch (GER) 5 Mon, 28 Tg, 12 h, 25 min, 19 sec
Bahn 4: Kerbel (GB) 5 Mon, 27 Tg, 22 h, 58 min, 38 sec
Bahn 5: Bohnenkraut (RUS) 5 Mon, 27 Tg, 23 h, 15 min, 42 sec
Bahn 6: Petersilie (USA) 5 Mon, 29 Tg, 2 h, 5 min, 54 sec
Bahn 7: Thymian (GR) 5 Mon, 27 Tg, 22 h, 55 min, 3 sec
Bahn 8: Minze (ITA) 5 Mon, 29 Tg, 12 h, 3 min, 19 sec
Bronze: Bohnenkraut
Silber: Kerbel
Gold: Thymian
*
10. August 2012 21:29
Mirko Bonné
Summ weiter, erzähl,
was du noch keinem sagtest,
spreiz sie, zeig
die dunkle Flügelmitte
tief in der Nacht im Bienenkeller,
dein Kind im Bett,
im Honigschlaf,
doch du bist wach, komm zeig,
was du dir erzählst.
*
29. Juli 2012 13:49
Mirko Bonné
7 – Jürgen Becker: „Wenige Leute stehen am Ufer, schauen aus den Fenstern, warten an der Bushaltestelle, haben einen Schirm bei sich, helfen einer Dame in den Mantel, betreten sonntags ein Bergwerk, fahren eine Maybachlimousine, wollen es ungemütlich haben, schaffen es bis zur Todeszelle, bevorzugen unreife Äpfel, verwechseln die Wohnungstür, essen lieber schlecht als gut, gehen lieber im Regen spazieren, sind immer die üblichen Verdächtigen, gehen Hand in Hand über die Dünen, kennen sich noch in der Reichskanzlei aus, kaufen im Januar Kirschen, planen für die Zeit nach ihrer Wiedergeburt, sammeln Kippen von der Straße auf und rauchen sie zu Ende, trifft der Blitz, blicken hinter die Kulissen, leben als reiche wie arme Leute, wechseln zweimal am Tag das Hemd, haben eine Waffe im Haus, trinken vor dem Frühstück ein Bier, warten im August auf Schnee, sind unter den Trümmern gefunden worden, haben dauerhaft Glück beim Glücksspiel, erreichen schwimmend die englische Küste, sind ehrlich genug, gehen Holzsammeln im Wald, haben ein Fahrrad gestohlen, haben die Niederlage erhofft, lehnen die Freiheit ab, stehen am Zaun, können sich an den nächtlichen Traum erinnern, bezahlen für viele, warten noch auf fließendes Wasser und Strom, würden es wieder freiwillig tun, passen in einen Kahn, verschwinden plötzlich.“
Jürgen Becker wird heute 80 Jahre alt.
*
10. Juli 2012 15:56
Mirko Bonné
Die jubelnde Frau
auf der Ehrentribüne,
in dem grasgrünen Kostüm
die Kanzlerin springt,
schwebt und hebt ab
hoch in die Luft,
ein Ball, Ballon,
ein Kohlkopfluft-
schiff über Toren,
dem Anstosspunkt,
Mittelkreis, Rasen
und dem Stadiondach
ins finstere Nichts
der Nacht und ist
in Sternbildern
und Starwolken
unbezahlbar
nirgendwo funkelnd,
nirgends mehr zu finden.
*
26. Juni 2012 13:52
Mirko Bonné
Als es darum ging, etwas
zu sagen. Als wir hineinstarrten
in das Himbeergebüsch. Als keine,
keine Antwort kam. Als die Nacht
nicht aufhören wollte. Als sie
aufhörte ohne Klagen. Als
die Schmerzen nachließen,
als keiner mehr etwas wusste
gegen Schmerz. Als ich wieder nur
dich liebte. Als du mich fast vergaßt.
Als die Kirchen einstürzten. Als er starb,
der Elefant, der Angst hatte vor der Umsiedlung
nach Belgien. Als wir endlich verstanden,
warum. Als einer das Gras mähte.
Als das Gras weiterwuchs.
*
16. Juni 2012 23:24