Mirko Bonné

Der Zollinspektor von New York City

Jeden Vormittag stellte er sich zwischen
zehn und elf einmal in die übermauerte
Nische, in die das weite klare Leuchten
vom Meer hereinfiel. Silbriger Hudson.
So rauchte er. Bis ihm der milchige
Himmel vor Augen verschwamm.
Er las Zeitung. Im Herald Gedichte,
die Buchbesprechungen, Kritiken.
Solange aus den schwarzen Zeilen
nicht die alte Schalheit herauskroch.
Dann hob er den Blick, sah hinüber
zum Gewimmel auf der Schonerpier.

Manchmal ein Käfig mit einem Tier.
Im Juli 1873 schwebte am Lastbaum
ein Orchester, das spielte wie der Wind
in Pittsfields Ulmen. Alle Jahre im Kopf,
neunzehn. Die Heimfahrten im Dunkel,
über den Gaslaternen am Astor Place
das Flattern der Fledermäuse. Herman,
sagte er zu sich selbst. Herman Melville!
Bleib stehen im Licht. Verbirg dich darin.
Und hörte Jack Chase, vor vierzig Jahren.
Komm, wir hauen uns hin, rief er im Mast.
Genug ist genug, Herman. Los, zum Bug!

*

19. Mai 2013 00:24










Mirko Bonné

Parkplatzkönig

Nicht mal ein dürrer Gaul zieht so ein Fuhrwerk,
Wie ihr es „parkt“ auf Gloucesters lautem Grab.
Noch unter Schlamm und plattgewalztem Stein
Kann ich, der König, eure Karren riechen.
Schert euch davon, ihr York, mein England ihr,
Ihr meine Welt verpestenden Hanswurste!
Denn ich fühl mich erinnert, und was ist
Erinnerung? Doch nur ein Gaukelschmerz.

Gespalten meinen Schädel, nackt, geschändet,
Im Rücken einen schwarzen Pfeil, den Strahl
Von Einem, der sich für ein Lichtchen hielt,
Lag ich in Bosworth Field tot auf dem Schlachtfeld
Bei tausend Aufgespießten und Verrenkten.
Man band mich auf ein Pferd, Arsch in die Luft.
Der Klepper trottete mit mir nach Leicester.
Ein Kerl, ein Metzger schleifte mich durchs Tor.

Ich wurde aufgebahrt, verhöhnt, beschmiert,
Im Inn The New Wake angegafft vom Volk
Ob meiner Buckligkeit, und kam ins Grab
In einem Kloster, das ein Henry – welcher!
Der neunte, glaub ich, oder gab’s den nicht? –
Bald schleifen ließ. Mich König grub man aus,
Mir Krüppel hackte man die Füße ab
Und warf die Leiche Richard in den Soar.

Ich war die Sonne, die im Fluss versank!
Fragt meine Brüder, Knechte meiner Folter.
Fragt Clarence, Hastings, Rivers, Grey, die Kinder,
Fragt alle hinters Licht Geführten – tot!
Verbrannt von Richards Sonne wie er selbst.
Hier unterm Stein – „Behindertenparkplatz“ –
Als angeschwemmter Menschenrest verscharrt,
Ist seit fünfhundert Jahren Mitternacht.

Ich war ein Mensch, war ich es nicht? Ich liebte,
Wenn auch nur mich, und war vor Zweifeln krank,
Ob Mister Shakespeares klügstes Ungeheuer
Wohl wirklich etwas außer Schmerzen fühlt.
Mag sein, ich bin bloß noch ein Parkplatzkönig.
Wer weiß, ob ihr noch wirklich Menschen seid.
Vielleicht seid ihr vergraben in der Luft,
Wie ich’s bin im Morast. Wer gräbt uns aus?

Wo sind sie hin, mein Königreich, mein Pferd.

*

28. März 2013 21:40










Mirko Bonné

Morgen

Am Morgen war die Schneelandschaft zurück,
nicht irgendwie und irgendeine, sondern die
am Ende des Romans und damit auch
das ganze Buch mit seinen Menschen
und ihrem Weiß des neuerlichen Winters.
Noch immer dieser Frost Unwirklichkeit
zwischen den Zeilen der Empfindungen
und den Gedanken von Gespenstern.

*

4. März 2013 10:37










Mirko Bonné

Schnee im Mirabell

Im Garten knackt das Eis. Die Nacht
legt sich zu einem Tuch aus Frost
um alles, was sie spiegelt, und
der Himmel wandert. Jemand lacht

im Wind der weggebeizten Sterne,
vielleicht weil oben, heller Blick,
so groß der Mond steht. Dunkelblau
zieht es zwei Fahnen in die Ferne,

und in den Lichthof stürzt der Schnee,
als könnte er sich damit retten.
Sechs Uhr. Die Glocken. Eine Frau
am Ufer bettelt noch. Ich geh

und sink zu ihr durch stumme Zeit –
zu Felsen und Musik der Toten,
dick Eingemummten in den Bussen,
dem Schmerz in der Genügsamkeit.

Für Hans Weichselbaum

17. Februar 2013 09:15










Mirko Bonné

Nach Huchel

Es stimmt, auch ich war mal im glücklichen Garten.
Nur bin ich mir nicht sicher, wo das war
und ob mir Verwandte damit ersparten,
die Schrecken zu sehen, vielleicht für ein Jahr.

*

9. Januar 2013 23:03










Mirko Bonné

Die Tür auf dem Meer

Du bist alt, sagt das Boot.
Yang Lian

(3/3)

Dann ruh dich aus

von deinem Tagwerk,
eine gestorbene Liebe
in den Netzen zu suchen.

Xu Lian, streck dich aus!

im Boot mit weißem Segel
weit draußen auf dem Meer,
das alle Stimmen schluckt.

Dort ist die Verlassenheit groß,

ein endloser Flugzeugträger,
auf einmal vor deinem Bug,

von den Netzen in der Tiefe
zu den Wolken am Himmel

graue Wand. Und du
schläfst. Bist im Traum
die eine weiße Tür.

*

28. Oktober 2012 20:48










Mirko Bonné

Die Tür auf dem Meer

Du bist alt, sagt das Boot.
Yang Lian

(2/3)

Da gehen die weißen Türen auf,

und hindurch fahren die alten Fischer,
hinaus auf den Strom, Krabben zu fangen,

Krabben mit starken Scheren und Beinen,

die den überrunzelten Händen der Fischer
und den Gesichtern ihrer Frauen gleichen,

sodass manchmal wie unterm Brautschleier
eine Krabbe aussieht, die im Netz stillhält.

Küss sie, Xu Lian, lachend küss die Krabbe,
damit die am Ufer wissen: Gut war die Zeit!

*

22. Oktober 2012 13:07










Mirko Bonné

Die Tür auf dem Meer

Du bist alt, sagt das Boot.
Yang Lian

(1/3)

Türen führen auf den Fluss, Segel,
so weiß wie ein Schlafzimmerschrank.

Zwei Brücken sind die Ufer, zwei Betten,
und am dritten Ufer warten die Toten.

Alle wollen sie münden, Xu Lian,
und wie du sein,

Tropfen,
der ins Gelbe Meer fällt.

*

17. Oktober 2012 16:41










Mirko Bonné

Changning/长宁

1
Wenn die Vögel anfangen zu sprechen, sprechen sie Mandarin.

Sie werden sich beklagen, dass sie uns gleichgültig sind,
wir ihre Küken in Karamell tauchen und essen am Stiel.

Achtet auf ihr Schweigen! Klingt es nicht vorwurfsvoll?
Zehntausend Dynastien alt, das Sperlingsgedächtnis.

2
Der Lärm aus den Platanen scheint eine Aufgabe zu haben.

Durch das Knarren der Zikaden fällt als künstliche Nacht
die Stille auf den Zhongshan-Park, und wir unter Bäumen,
stumme, hektische Falter, müssen lesen im Schattenbuch,

in Gesichtern der für alle Besinnung Verlorengegangenen.

3
Tanzen wir! Wie schwarze Falter, für die Zeit Musik ist,
taumeln wir übers Pflaster, brechen durch die Masken,
fliegen als schlafende Kiesel durch verlassene Pavillons.

Wir werfen unsere Kinder, werfen sie hoch in die Luft!
Türme aus Erinnerungen bauen sie, wenn sie fallen,

doch wir fangen nur den Sockel, den schwarzen Stiel.

Für Wang Anyi
献给王安忆

*

2. Oktober 2012 04:00










Mirko Bonné

Wenn du mit deinem Duft

Wenn du mit deinem Duft zu mir kommst,
seh ich deine jungen Augen, seh in die Zeit
und fühle dich, wenn du mit deinem Duft
dich zu mir legst. Ich atme ihn und dich,
ein Glück, ich atme. Es kommt eine Zeit
ohne dich, und eine Zeit wird es geben
ohne mich für dich. Jetzt bist du da.

*

22. September 2012 16:53