Mathias Jeschke

Freibad 7

Der Tag, an dem die drei afrikanischen Musen,
grazile Nachfahrinnen der Erato – nigra sum,
sed formosa – in der gleißenden, auf dem Wasser
blitzenden Nachmittagssonne den Tempelbezirk
des Freibads durchschritten, war ein Sonntag.
Es war unfassbar heiß. Sie durchschnitten einen
sorgsam gewobenen, bunt gewirkten Teppich.
Sie teilten ein Meer. Irgendjemand in deiner Nähe
atmete hörbar aus. Wir kniffen die Augen zusammen
und griffen blind nach gekühlten Getränken.

2. August 2014 21:48










Christine Kappe

Zustellversuch 8

Clemens 5. 4 Uhr 10. Ich lehne mein Rad an die Hauswand, ein Fenster im Erdgeschoss wird aufgerissen, hoffentlich habe ich niemanden geweckt. Schnell die Haustür aufgeschlossen und mit den Zeitungen hinein. Als ich wieder rauskomme, steht das Fenster noch offen; bestimmt lüftet bloß jemand. Doch als ich weiterschieben will, stellt sich ein Mann mit nacktem Oberkörper ans Fenster und zündet sich eine Zigarette an. Wir blicken uns kurz in die Augen, keinen Meter voneinander entfernt, keiner hat den anderen erwartet, ein ‚guten Morgen‘ scheint sinnlos, es ist noch nicht Morgen, jeder schämt sich ein bisschen, er räuspert sich, ich bringe die Zeitungen durcheinander im nächsten Haus… Mensch, es ist Sommer, und die schönen alten Häuser und das Kopfsteinpflaster, es könnte idyllisch sein, aber es ist nur das Ende einer unruhigen Nacht, die Stadt wartet schon, die Zeit- und Menschenfressende Maschine.

30. Juli 2014 10:21










Hans Thill

… von den Wäldern …

haben wir noch das asymmetrische Blinzeln,
wenn die Schrift bereits träge auf einem Bildschirm steht.
Es ist das wässrige Licht nachts auf den
Straßen, das aus den Fenstern
fällt

still wie das Wild um diese Zeit. Von den gespielten
Wäldern aus Fly-Over-Country haben wir noch
die gesprächigen Taxifahrer, ängstlich
in ihrem Leder. Von den
blanken

Wäldern haben wir noch das Hochwerfen
der Arme, wenn wir auf einem bezeichneten Fleck Grün stehen,
der Hubschrauber auf sich warten läßt.
Oder wenn der Ball in den
Korb

fällt, droben auf dem Königstuhl, unten in
Finisterre. Von den dichten Wäldern des Nordens
haben wir noch den Strichcode, der dir
ein Lächeln abnötigt. Jetzt liegt
Schnee

29. Juli 2014 09:48










Mathias Jeschke

Zygaena lonicerae

Das Kleewidderchen fliegt von Thymian zu
Oregano, der Truppenübungsplatz liegt still
und atmet unter der Sonne. Du denkst an
deinen Mitschüler, dessen Vater explodiert
war. Wer wählt schon einen solchen Beruf?

Die Kampfmittelbeseitigung, kann denn das
Berufung sein? Du denkst an die ebenfalls
explodierenden Kaninchen im Gedicht von
Jürgen Becker und fragst dich, warum euch
eigentlich nichts passiert war damals, als ihr,

Kinder, die ihr wart, Munition gesammelt,
euch in den Gürtel gesteckt habt, ihr wart
verkleidet als Soldaten mit den abgelegten
Uniformteilen eurer soldatischen Väter,
die sich euer Spiel aus der Distanz besahen,

die aber nicht eingriffen, es betraf sie selbst,
sie waren betroffen, wussten ja selbst nicht,
wer sie waren, wenn sie die Uniformen nicht
trugen, die Uniformen waren es, die ihnen
Sicherheit gaben. Dank sei den Uniformen.

28. Juli 2014 22:14










Christian Lorenz Müller

Was die Stunden wogen

Mittagsstille steht auf einer Leiter
die im Kirschbaum lehnt.
Plötzlich das Verlangen
hinauf ins Geäst zu klettern,
die schorfige Glätte der Rinde
unter den nackten Füßen;
das Verlangen, ganz oben
in einer Gabel zu sitzen
und die Kerne weit hinaus
auf den Wiesenhang zu spucken;
der Wunsch nach einem Eimer
und die wiederkehrende Lust
sich verboten weit
ins Blaue hinauszurecken,
zwei, drei Sekunden für jede Frucht.

Ich wusste, was die Stunden wogen
wenn ich zurückging zum Haus
wo in dämmernder Schattenkühle
die gefüllten Körbe standen.

28. Juli 2014 11:37










Mathias Jeschke

Phoenicurus ochruros

Der fidele Hausrotschwanz umgibt dich mit
Geknickse und Gewippe. Sein Gesicht unter
der schwarzen Haube meinst du schon lange
zu kennen. Es wirkt vertraut wie ein alter
Brief, den du im Leben nicht mehr vergisst.

Was sagen die Zeilen, die Zeichen, das Zittern?
Es riecht nach blühenden Linden, das Laken
der Nacht, es flattert wie eine knatternde
Flagge, ein Hoheitszeichen. Doch wo ist
das Land, wo der Boden, auf dem du stehst?

Welcher Verheißung fällst du anheim und wo
sind die Erlöse der Unruh? Du wanderst
im Garten umher und wirst von dem Vogel
umlagert, als wüsste er, dass es nicht gut wär,
dich in diesem Zustand alleine zu lassen.

Lange dachtest du nicht mehr an jenen Brief
Nun kniest du vor der knarrenden Truhe und
wühlst dich durch die vergessenen Schichten.
Da fällt dir ein Auge ins Auge und eine Brust
in die Hand, du fühlst einst verheißenes Land.

23. Juli 2014 19:38










Sylvia Geist

Charl-Pierre Naudé

Der weißeste Strand

Man kann sehen, wie der Fluss
mit der Zeit den Kurs geändert hat;
die Trennlinie zwischen hier und da.

Das Ufer, an dem ich gerade stehe,
war sonst immer die andere Seite.
Und in die beiden Gegenrichtungen gestreckt,
ist alles, was du siehst, makellosester Strand.

Nicht weit von hier auf offener See
schmetterte so um Fünfzehnhundert herum
ein Sturm Bartholomeu Dias‘
kleine kristallene Karavelle,
(völlig durchschaubar bis auf den heutigen Tag),
gegen widrige Klippen.
Das Schicksal übergab das klirrende
Seewägelchen mit seiner Takelung, gewirkten,
an Kreuze genagelten Zierdeckchen,
dem Grund des Ozeans.
Das Wasser heulte wie Wölfe,
die durch die Tülle einer Teekanne geschüttet werden.

Das “Hier-Sein” und das “Da-Sein” …
Die Strandlopers* sind längst darauf gestoßen.

Und späterhin, welcher Abschnitt unserer Küste
entging diesen Teilungen?
Hier: “Nur Weiße”. Da drüben, verbannt (irgendwo): “Nicht-Weiße”.
Die allerersten Linien wurden an den Stränden gezogen:
Auf einer Seite Kolonistenbanden, zusammengeschweißt in einer Art
Club wie in einer Tüte, aus der Pulverfürze knallten;
und auf der anderen Seite die Versenkten,
die menschlichen Wachteln, die: wandernder Sand.

Scherben einer Kanne.
Komplotte der Väter. Vielgeliebte
Ferien am Strand. Der anderen.

Dabei ist doch ganz klar,
wie die Ufer die Plätze tauschten.

Jahrelang dachte ich immer wieder zurück
an einen schmerzlichen Vorfall zwischen mir und meinem Vater
– der inzwischen, wie man so sagt, “hinüber gegangen” ist -,
mit Groll, sogar Hass;
voller Selbstgerechtigkeit.
Eines schönen Morgens aber wachte ich auf
und versuchte mich ein letztes Mal
mit Sturheit vollzusaugen.
Vergeblich.
Was stattdessen übrigblieb,
war Sanftmut, die Nieselregensanftmut
ersten Begreifens.
Und das
durchtränkte alles.

Genau dann entdeckst du dich
auf der anderen Seite;
während du schon immer auf dieser Seite warst.
So wie die Toten,
geblendet
vom endlosen, nahtlosen, makellosesten Strand.

Vielleicht ist es dies,
was man Vergebung nennt.

*

* Die Bezeichnung bezieht sich auf die Khoisan, die zur Zeit der ersten Kolonisten am Kap eine der wichtigsten Bevölkerungsgruppen in Südwestafrika darstellten. (Anm. d. Ü.)

21. Juli 2014 22:26










Mathias Jeschke

Erythromma lindenii

Die Pokaljungfer begibt sich zur Paarung
an eines der Schilfrohre, die senkrecht aus
dem Karpfenteich ragen. Du identifizierst
dich mühelos mit dem Azur des Männchens
und findest auch den Ort sehr gut gewählt.

Die Karpfen betätigen sich währenddessen
als Unruhestifter am Grund des Teichs, vier
sind es an der Zahl und kapitale Exemplare.
Die dreihundert Kinder, denen du gestern
deine Geschichten erzählt hast, vor Augen,

denkst du an die dreihundert Menschen, die
über der Ukraine abgeschossen wurden von
einer Rakete russischer Bauart. Von der
Theodizee ganz zu schweigen, was bleibt
nach Tränen, Trauer, Ohnmacht und Tod?

Was für ein Gott, der sich Paarung und Tod
zugleich ausgedacht haben soll! Solch ein
Sommertag stimmt dich versöhnlich, jedoch
wie kommst du klar mit diesem und dem
nächsten Abschuss, Krebstod, Herzinfarkt?

21. Juli 2014 21:18










Christine Langer

Der Kopf

Einer Krähe

Streckte sich
Für den Bruchteil
Einer Sekunde
Vor dem Abflug
Nach vorne:
Hinauslehnen
Ins Offene
Nach oben fallen
Grenzen verlassen
Die Luft hinter sich
Im schwerelosen Hinauf

Wo Erdaugen nur noch
Kreischende Wege kreuzen
Himmel sehen lernen

19. Juli 2014 15:32










Andreas H. Drescher

LINDERUNGSBAUM

Wer ihn zuerst gelebt hat
Den Riss der die Erde ist
Als Partikel vor der Iris

Sonnentag zwischen Gewittern
Das trinkende Schwarz als Opal

Wer das zuerst gelebt hat
Das Klaffen zwischen Ich und Ding
Atmet sich ein Blatt entgegen im

17. Juli 2014 23:04