Nikolai Vogel

Beim Kastaniensammeln zwischen Biergartenbänken

Drei kleine Kinder, zwei Mädchen, ein Junge, ziehen eine schon gut gefüllte Stofftasche hinter sich her. „Wir haben Hunderte“, sagt die Größte. „Hunderttausend“, die Zweite. „Milliarden, wir haben Milliarden“, triumphiert der Kleinste.

22. September 2010 19:43










Thorsten Krämer

Code connu

VII.

die Biographie einer Fernbedienung

deine grimassierende Brust

ein Gewissen mit dritten Zähnen

ohne die Möglichkeit einer Anzahlung

dein nanotechnisches Grübchen

mit den Vorteilen einer verbesserten Bremsung

das Gezwitscher, das im Netz nicht zu finden ist

dein dem Lehrbuch entnommenes Ohr

ohne vorzeigbaren Terminplan

die Blusenhaftigkeit dieser Berührung

ein mit Kusshand begrüßter Klamauk

ein Sonderfall, die einsame Facette

im Gewahrsein einer Bananenschale

ohne Taxi, dessen Problem ungelöst bleibt

die tränenreiche Umkehrung des Prinzips

der jedes Gähnen verklärende Scharfsinn

dein bilanzierender Rücken

19. September 2010 00:00










Mirko Bonné

Schweinesermon

Acht oder neun muss ich gewesen sein, als ich irgendwo am Tegernsee, in einem Dorf, wo ich als fremdes Kind mit Gleichaltrigen draußen spielen ging, auf dem Gelände eines großen Bauernhofs unvermittelt Zeuge wurde, wie dort ein Schwein, eine mächtige Sau, viel größer, als ich es war, getötet wurde. Es war ein Erlebnis, das mein ansonsten immer erschreckend löchriges Gedächtnis nie hat vergessen können. Ich erinnere mich an die Schreie des Tieres, die Gewalt, die es der ihm zugefügten Gewalt entgegenzusetzen versuchte, ich sehe das Kolbenschussgerät vor mir und fühle noch den Apparat, den ich in die Hand nahm, als ihn der Bauer oder Schlachter dem Schwein an den Schädel gepresst und abgedrückt und dann fallen gelassen hatte. Manchmal, wenn ich ein Schwein sehe, fallen mir, so will es mir scheinen, die Augen der Sau wieder ein, in meiner zerquälten Erinnerung sind sie in ihren letzten Augenblicken auf mich gerichtet, schließen sich nicht, sondern zeigen mir ihre Furcht, ihre Wehmut, ihr Erdulden und schließlich ihre Erlösung oder doch wenigstens Erleichterung.
Seltsamerweise hatte ich nie Mitleid mit dem Schwein. Ich fühlte mich ihm verbunden, ja fühlte – meinte ich – mit ihm. Gab es Erläuterungen seitens des Bauers, oder meiner Mutter? Ich weiß es nicht mehr. Ich sehe in meiner Erinnerung keine anderen Kinder, obwohl wir viele waren, die damals an dem Sommernachmittag dort auf dem Hof herumgespensterten. Ich weiß noch, wie erschüttert meine Mutter war, als ich erzählte, der Hinrichtung eines Schweins beigewohnt zu haben, und dass sie mich fragte, was auch ich mich selber fragte: Warum hast du das getan?
Ich denke, ich wollte verstehen, was das ist: ein Schwein, ein großes Tier, das getötet wird, auch in meinem Namen, obwohl es nichts getan hatte, was einen so barbarischen Akt rechtfertigen würde. Doch es ist das Gegenteil eingetreten, eine Leerstelle, eine leere Insel in meinem Gedächtnis, so kommt es mir vor, ist seinerzeit entstanden. Seit über fünfunddreißig Jahren fragen nicht mich die Augen des Schweins, sondern frage ich die Augen in meiner Erinnerung, goldenbraune, runde, tiefe Augen.
Seit ich Gedichte lese, ist es mir nur selten passiert, in Versen eine Antwort zu finden – einen Klang, eine Musik aus Bedeutungen finde ich dagegen viel öfter. „Lied aus reinem Nichts“ nennen, nach Versen von Wilhelm von Aquitanien, Michael Braun und Hans Thill ihre Anthologie, die deutschsprachige Lyrik des noch jungen 21. Jahrhunderts versammelt. Gestern las ich erstmals darin und fand ein bezaubernd-verstörendes Gedicht, um dessen Lob willen ich mir diesen Schweinesermon abgerungen habe.
Das Gedicht heißt zärtlich-lakonisch „Saurüssele“; geschrieben hat es Günter Herburger:

Das Wichtigste,
was man von Schweinen
lernen kann: kein Mensch zu sein.

Sie sind sehr sauber,
sehr gefühlvoll, ein wenig zänkisch,
kämpferisch, aber dann lieben
sie einander wieder,
und wenn sie weinen,
was sie gerne tun, schreien
sie kaum und lächeln dabei.

Einen Tag, bevor sie
geschlachtet werden sollen,
sind sie nervös und konfus,
rennen umher und beschmutzen sich.
Dann beginnen sie zu singen,
sehr tief und sehr hoch,
wir vermögen es nicht zu hören.

Kein einziges Schwein ist bekannt,
das alt, krank und mager
noch auf der Weide lebte,
ganz und gar nicht allein,
weil umgeben von Igeln,
sodass, wenn es stirbt,
es auch ein Häufchen wäre,
bedeckt von Blättern und Geschmeiß,
deren Konzerte
wir niemals vernehmen.

*

15. September 2010 12:45










Kerstin Preiwuß

das müssen Sie verstehen, das geht nicht, dass ich das kann

mein kopf, eine schale, kein haus
aber ich hause ja da drin und ich tue so
mal links mal rechts um mein hirn kreisen und so weiter
dass ich mit dem kopfkern immer schon ein stück weiter bin
als wäre ich zweimal, wie extraspontan, immerhin
ich wär schon ein stück weiter als ich bin, in gedanken
wenn ich die zeit nicht unterwandern würde in gedanken
ein gedanke hetzt zum nächsten. das strengt an
ich würde gern so konsequent wie die pflanzen wachsen
aber ich muss mir meine intervalle selbst suchen
und sehe sie mir vorher alle an
das sind dann soundso viele möglichkeiten an die man denkt
aber nicht gleichzeitig bedenken kann
wie der wille zur form mir jede idee in der vollendung vorzustellen
die dinge bereits in der vorstellung vergehen lässt
weil jede möglichkeit nur eine andere vertritt
und keine verwirklicht sich
und das schöne erscheint dann nicht

aber dieses bild von matisse, kennen Sie das?
und die blüten der kastanien beschreiben
die blüten, die im sommer ein heftiger regen über den asphalt schwemmt
ein erstarrter vogel liegt daneben, atmet nicht mehr die atmung, die er kennt
und jemandem mit einen tumor im kopf noch von den störchen erzählen
die ich sah, als ich ihn zu ostern besuchen ging

13. September 2010 19:07










Thorsten Krämer

Code connu

VI.

die Predigt gegen die Mittagshitze

damit die Postkarten flugfähig bleiben

ein Wort, dessen Sinn einen Hut trägt

deine in der Ambulanz behandelten Schulterpolster

ein Gewinde mit eingeschränkter Akzeptanz

dein aufblasbares Bücherregal

damit jeder einmal in Höhenangst watet

unter dem Eindruck einer Erregung

die simultan applaudierenden Empfindungen

neben dem Überrest eines Anstands

dein postfeministisches Mischpult

der Doppelstecker, die aufgeladene Phase

damit das Uhrwerk koloriert wird

ein Imbiss unter bereinigtem Himmel

eine zarte, kluge Überforderung

deine schwerbehinderte Haarspange

ein Lächeln, das keine Briefmarke braucht

damit der Handtuchhalter ein Entzücken spürt

die telefonisch bestellte Umnachtung

dein telepathisch begabter Schlüsselbund

11. September 2010 13:53










Sünje Lewejohann

hafen

hafen/ auch hier war der hafen
die krähen die pechschwarze brut.
paarten sich mit möwen und
fischen und von den schiffen kam
immer nur ein ton ein einziger.
sie sprachen in bildern:
ein hase der sich zusammenrollte im graben
eine taube auf der scheibe des autos,
ein rehbock dem wir den lauf zertrümmerten,
ein igel eine, katze ein winziger schwarzer hund,
eine füchsin voller milch.

wenn der tag fiel wohnte all das bei den krähen.
ihre kinder lauerten am kiel, klopften
an gesprenkelte eier. ein insektenschwarm
panzer auf panzer, lichtschwaden, ganze millionen,
und ich auf dem rücksitz,
ein zerschnittener sohn mit haaren aus licht.
die fuchswelpen waren zu dritt, zwei Schwestern,
ein bruder.

4. September 2010 13:09










Andreas Louis Seyerlein

~

8.18 – Kurz nach sechs Uhr abends. Church Street. Auf einer Treppe sitzt ein Mann in einem dunklen Anzug, weißem Hemd, blauer Krawatte. Seit bald einer Viertelstunde, Aktenkoffer zwischen den Beinen, Hände gefaltet, verharrt er in dieser Weise bewegungslos, schaut in den Luftraum über Ground Zero. Presslufthämmer sind zu hören, Tauben picken über den Boden. Eine Armlänge entfernt von dem Mann, der zu beten scheint, balanciert ein sehr viel jüngerer Mann auf den Schultern eines weiteren jungen Mannes. Er hält mit einer Hand einen Fotoapparat so weit wie möglich in die Höhe, um eine Fotografie jenes Ortes aufnehmen zu können, der hinter einem Bauzaun verborgen liegt. Das sieht so aus, als versuche er rückwärts in die Zeit vorzudringen, als wolle er noch etwas vom Verschwundenen, vom Schrecken dokumentieren, all das finden vielleicht, was dort nicht mehr ist, so gründlich wurde aufgeräumt. Wie er jetzt von den Schultern des Freundes springt, fällt ihm der Fotoapparat aus der Hand. Der kleine Blechkasten scheppert über den Gehsteig, Tauben fliegen auf. Auch der Blick des betenden Mannes bewegt sich, flackert für einen Moment in den Räumen der Zeit. – stop

22.12 – Es ist die Welt des Raymond Carver, die ich betrete, als ich mit dem Bus die Stadt verlasse, westwärts, durch den Lincolntunnel nach New Jersey. Der Blick auf den von Steinen bewachsenen Muskel Manhattans, zum Greifen nah an diesem Morgen kühler Luft. Dunst flimmert in den Straßen, deren Fluchten sich für Sekundenbruchteile öffnen, bald sind wir ins Gebiet niedriger Häuser vorgedrungen, Eiszapfen von Plastik funkeln im Licht der Sonne unter Regenrinnen. Der Busfahrer, ein älterer Herr, begrüßt jeden zusteigenden Gast persönlich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Hasbrouck Heights, eine halbe Stunde Zeit, deshalb liest man in der Zeitung, schläft oder schaut auf die Landschaft, auf rostige Brückenriesen, die flach über die sumpfige Gegend führen. Und schon sind wir angekommen, ein liebevoll gepflegter Ort, der sich an eine steile Höhe lehnt, einstöckige Häuser in allen möglichen Farben, großzügige Gärten, Hecken, Büsche, Bäume sind auf den Zentimeter genau nach Wünschen ihrer Besitzer zugeschnitten. Nur selten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlendere von Straße zu Straße, werde dann freundlichst gegrüßt, how are you doing, ich spüre die Blicke, die mir folgen, Bäume, Blumen, Gräser schauen mich an, das Feuer der Azaleen, Eichhörnchen stürmen über sanft geneigte Dächer: Habt ihr ihn schon gesehen, diesen fremden Mann mit seiner Polaroidkamera, diesen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns nehmen, wird klingeln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gerade fotografiert. Wollen Sie sich betrachten?

> particles

3. September 2010 18:34










Norbert Lange

LÖSUNG AUF DEM FLUSS KIANG

Ko-jin fährt westlich ab Ko-kaku-ro,
Die Rauch-Blüten verschmieren darüber den Fluss.
Sein Segelboot bekleckst den Himmel.
Und nun seh ich nur noch den Fluss,
Den tiefen Kiang, der den Himmel erreicht.

(nach Ezra Pound nach Rihaku)

1. September 2010 00:26










Mirko Bonné

Die Gewalt der Gedichte

The base of all inks and pigments is seawater.
Seamus Heaney

Ein warmer blauer Sommervormittag,
von den hölzernen Kais an der Liffey
schnappten sich Möwen die Brotrinden
und weichten sie im Schlammwasser auf,
und beglückt von der Raffinesse der Vögel
schlug Paddy Haughy Mick FitzRoy vor,
am Merrion Strand schwimmen zu gehen.
Sie kauften Bier und trotteten zum Zug.

Ein silbernes Flimmern in der Luft,
im Nachbarabteil gestapelt Kartons,
und an den Fenstern vorbei schossen
die Möwen gleichauf mit dem Waggon,
in dem Haughy und FitzRoy durstiger
von Halt zu Halt plauderten übers Meer,
Nachmittage in ihrer Kindheit am Meer,
Atlantizismus und Gewalt der Gedichte.

Grün gewesen war der Himmel immer,
kamen sie mit der Klasse nach Blackrock,
um da auf den Bus zum Strand zu warten.
Umschwirrt von Wespen fragte Paddy:
Warum beschreibst du das nicht mal?
Mick zog an der schwarzen Zigarette,
sie tranken, sie summten, es war heiß.
Der Bus stand da, Möwen auf dem Dach.

Ein Spiegel aus Gold überm Asphalt,
durch den die Jungen, die sie mal waren,
und die Toten, die sie begraben hatten,
wankten zu dem leeren Bus. Haughy klopfte,
und die Tür flog auf – Wann fährst du?
Der Fahrer gähnte, ob das da FitzRoy sei,
der Dichter, und als sich der verneigte,
sprang der Motor an und starteten die Vögel.

Album (9), 2006

*

31. August 2010 22:29










Sylvia Geist

Empathie

Du hast Recht, lieber Thorsten, in meinem Text vermische ich Problemfelder und stosse so leider nicht auf des Pudels Kern. Hier liegt wohl auch die Krux meiner Ausgangsposition: ich wuenschte, es gaebe so einen Kern, eine gesellschaftliche Stellschraube, die zu justieren waere, um Exzesse zu verhueten, indem man deren Voraussetzungen bekaempft. Stattdessen gibt es solche Schrauben die Menge, und viele davon sind so locker, dass man eigentlich nur staunen kann, dass nicht noch oefter noch Schlimmeres geschieht.
Der Hinweis auf den zum Teil hysterischen Umgang mit kindlichen Aggressionen ist richtig. Leugnung des aggressiven Potenzials bringt nichts. Dass ein Mensch lernen kann, es zu steuern, darf man aber als erwiesen betrachten. Temperament ist Veranlagungssache, Verhaltensweisen werden abgeschaut und eingeuebt. Kleine Jungen (und auch manche kleinen Maedchen) „pruegeln“ sich seit Menschengedenken und werden das auch kuenftig tun, das praedestiniert sie nicht zu Gewalttaetern. Unangemessen reagierende Kindergaertnerinnen schaffen das aber auch nicht. Vielleicht ueberschaetze ich die Moeglichkeiten einer Einflussnahme auf diesen Prozess im Kindergartenalter, und die Pubertaet ist diesbezueglich die wichtigere Phase. Ich weiss auch nicht, mit wieviel Psycho-Gramm die Lizenz zum Sandkastenraufen nun genau ins Gewicht fallen wuerde. Doch dass das Wilde umso schmerzlicher vermisst wird, je weiter zum Beispiel der Weg in den Wald ist, das bezweifle ich nicht.

Und schon bin ich wieder in einem Exkurs… Wirtschaftliche Faktoren, soziales Umfeld, systemimmanent gefoerderte Fehlentwicklungen, individuelles Versagen – wenn es eine Wurzel gibt, hat sie natuerlich viele Straenge. Daneben gibt es vielleicht doch so etwas wie eine Voraussetzung, oder bescheidener formuliert: ein Phaenomen, das immer wieder anzutreffen ist, den eklatanten Mangel an Empathie, der zur Gewaltausuebung im unten geschilderten Mass faehig macht. Entsteht der aus ueblen Parolen? Muss sich erst ein menschenverachtendes Ideenwirrwarr in einem Kopf festgesetzt haben, damit jemand zum Schlaeger wird? Oder ist ein gravierender Empathiemangel eine Voraussetzung fuer die Hinwendung zu diskriminierenden Ideologien, die im Kern ohne Gewalt nicht denkbar sind?
Vieles laeuft auf Altbekanntes hinaus, nimmt im Bemuehen, einen moeglichst breiten Ausschnitt der Lebenswirklichkeit in den Blick zu nehmen, die deprimierende Form von Gemeinplaetzen an. Die Fokussierung auf konkrete Teilaspekte wiederum vernachlaessigt andere Aspekte, es gibt Widerspruechlichkeiten, und es gibt die grosse graue Muedigkeit. Nichts ersetzt Elternliebe, auch so einfach kann man es sehen. Und steht dann doch wieder im Dickicht, wenn man nicht im Fatalismus landen will. (Nein, das meintest du nicht, Thorsten.) Was ich ueber Tabuisierung schrieb, beduerfte allerdings der Differenzierung. Dieses Fass habe ich im Zorn aufgemacht. Mein Aggressionspotenzial ist, wie man so sagt, auch nicht von schlechten Eltern.

31. August 2010 00:23