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Texte des Goldenen Fisches
Januar 2004 – Januar 2009 :
Archivierung durch das
Deutsche Literaturarchiv Marbach.
Diese archivierte Textspur wird, sobald
möglich, bereitgestellt.

1. Februar 2009 09:08










Oliver Platz

NACH MEXIKO

Die Flügel im Regen,
und Stewardessen,
mit dottergelben Händen
markieren sie Plätze,
den Ungeduldigen
zum Trotz.
Fahrbare Treppen
zeigen ins Nichts,
in der Ferne Kiefern,
Verzweiflung.
Wohin willst du?

Nach Eich

1. Februar 2009 21:32










Simone Unger

Wandelnde Blätter

Wir gingen nebeneinander her, der Morgen war hell und der Bürgersteig sehr schmal, gelbe Müllsäcke hingen an den Zäunen und an den Häusern die Briefkästen. Ich konzentrierte mich auf meine Schritte; ich will jetzt keinen Unfall bauen, ich muss an meine Zukunft denken. Erst kam der Tunnel, auf der anderen Seite dann der Park. Du bist immer so transitiv, alles durchgehst du nur. Er nickte: Nur schwache Verben können Objekte binden, sieh mal: flehen – floh – geflohen. Ich schaute auf den Boden zu ein paar Zweigen und Kieseln und dachte an Stammformen.
Am Bahnhof erklärte er mir ein letztes Mal die Strategie im öffentlichen Fernverkehr. Leistung erschlich er sich durch Transparenz, im Zug wurde er übersehen und zu Hause nicht gefragt.

Gegen seine Starre war Lakonie nur eine Milchglasscheibe, sie stellte Verborgenheit noch aus. Er aber war so unauffällig, dass man ihn erst zu erkennen glaubte, wenn er nicht mehr zu sehen war.

Abschiede waren leicht, denn zu ihnen konnte man sich hinbewegen, wie zu einem Punkt. Und überhaupt sollte die Welt nur noch aus Stellen bestehen, an die man sich fristgemäß und sicher abzuliefern wusste.

2. Februar 2009 10:29










Fernando Offermann

Meinekestraße

Jepsen wollte immer so sterben, und gestern ist es einer noch unbekannten Frau tatsächlich passiert. Oder vorgestern. Stehst auf der Straße und wirst erschossen, aus einem um die Ecke biegenden Wagen heraus. Täter unbekannt, Zeugen haben nichts gesehen, ging so schnell. Jepsen hatte sich eine Maschinengewehrsalve gewünscht, doch wer weiß, ob es die überhaupt noch gibt oder sind das jetzt automatische Handfeuerwaffen?

Auf der Straße ist Opa Scheel havariert, mitten im Berufsverkehr, Joachimsthaler Ecke Kant. Handkrampf im Rollstuhl mit neunzig, aber er dachte ganz bestimmt nicht an Autos, nur an die Meinekestraße. Stand eine Weile auf dem Asphalt und quakte mit Spasmen, Leute zückten Telefone, und bevor jemand kam, waren wir schon unterwegs zur Pension Lutz. Opa Scheel erzählt von der Schwester, bei der wir klingeln müssen, sie rasiere ihn sogar, und zwischendurch heult er frohblöd auf, wenn wir mit dem Rollstuhl auf dem Kudamm die Passanten abdrängeln und sie zur Achtsamkeit nötigen, wie auf der Autobahn mit Dauerlinksblinker. Jepsen hätte es geliebt. Opa Scheel quiekt auf, die Passanten misstrauisch, doch dann sehen sie uns, und er beschimpft die träge Masse, die umhertreibt und keinen Platz macht, endlich Platz macht, weil wir doch durch wollen, durch zur Pension.

Auf offener Straße erschossen, mit 23 Jahren. Tags drauf rammt einer dem Türsteher ein Messer in die Leber und rennt in den Tiergarten, andere hinterher, sticht der Kerl die anderen im Park auch noch ab. Dann wird er geschnappt. Aus Spandau. Pension Lutz sagt danke, bei Opa Scheel vertschüßen, zurück in den Verkehr.

 
meinekestrasse

3. Februar 2009 06:21










Thorsten Krämer

Full springtime in Chattanooga, Tennessee

Hinterm Haus spielen die Kinder, streiten sich
schreiend vor der brüchigen Mauer, in jeder
Hand ein Spielzeugauto. Im Umkreis

des Hauses verwischen die Grenzen zwischen
den Grundstücken, geflickte Zäune
schrecken hier niemanden ab. Die Kinder

schleudern ein Auto durch ein Loch in der
Mauer, und sofort, ohne zu zögern, setzt das
Kleinste sich in Bewegung.

3. Februar 2009 10:19










Gerald Koll

Aus dem Kakaofilmparadies

Weiß und braun sind die Farben des Paradieses. Wie weicher Kakao mit einem Turban aus Sahne sieht es aus, und es schmeckt nach gutem Film aus einem Spitzenjahrgang.
In Berlin wird es wahr, das Paradies, in Berlin, der Staubstadt und Zeitfressmaschine, im Mundgeruch-Moloch, in dem am Tag die Löffel zum Takt des Mischmaschinenmotors im Kaffeeglas klingeln. Doch es ist Nacht geworden und warm wie Kakao. In Regalen stapelt sich die Zeit, man kann sie zupfen: Frankreich 1973.

Ein blasser Gott regiert das Reich der Zeit, das Negative-Land heißt. Er schweigt, fragt man nach Bdelliumharz und Karneolsteinen. Will man aber „La Maman et la Putain“ von Jean Eustache, in dem in Schwarz und Weiß die Liebe und das Leben einander müde reden, bis Jean-Pierre Léaud um Gnade winselt, weiß der Gott aus seinem Kopf, dass auf dem Band die ersten vierzig Sekunden fehlen, zugegeben: fünfzig.
Treibt dich draußen der Pischon nach Osten, wird es wieder warm und braun und weiß, cremig weiße Stühle stehen da, Kakao liegt matt in Glas und Becher, Kakao gestreut auf Brot, kakaobraun ist die Haut schöner Schultern aus Paris.
Am schönsten an diesen Pariserinnen ist, dass sie kein französisch können, sie führen stummen Dialog mit dem Ambiente. In Paradiesen fehlt der Reiz, hier jedoch geht ein Schamane ein und aus, mit Sofakissen auf dem Kopf, er spricht besetzte Tische an, singt für sie Lieder, ist Schlangenbeschwörer und farbiger Klecks.

Im kakaobraunweißen Paradies bestellt ein Mann der Frau und sich je einen Cuba Libre. Schon geht die Nacht zur Neige. Der Wirt ist höflich, er gewährt die letzte Runde. Es wird halb drei. Die entzückende Bedienung zückt das Portemonnaie. Hat es geschmeckt?
Höflichkeitshalber bemerkt der Mann, die Ehrlichkeit gebiete das Geständnis, sein Cuba Libre habe nicht geschmeckt.
Höflichkeitshalber sagt die Bedienung, es läge vielleicht an der ungewöhnlichen Cola. Ja, diese Cola ändere wohl den Geschmack.
Höflichkeitshalber sagt der Mann, nein, die Cola sei bestens, wirklich, es läge vielmehr an dem Rum, ja, es sei der falsche Rum gewesen, nur als Hinweis.
Höflichkeitshalber flankiert die Frau des Mannes, es sei ja so, dass der Cuba Libre mit sechs Euro auch nicht eben billig sei.
Höflichkeitshalber sagt die Bedienung, es sei vielleicht ein anderer, sicherlich nicht ein schlechterer Rum verwendet worden, und die Zubereitung sei mit diesem wie mit jenem Rum die gleiche.
Höflichkeitshalber ergänzt die Frau es Mannes, sie hätten drüben in der Bar, gleich schräg dort gegenüber, soeben einen billigeren und, nichts für ungut, besseren Cuba Libre getrunken.
Höflichkeitshalber fragt der Wirt, was es mit dem Rum denn auf sich habe. „Havanna Club“ gehöre in den Cuba Libre, sagt der Mann und fragt höflich, welcher Rum sich denn in diesem sogenannten Cuba Libre befunden hätte. Havanna Club? Der Wirt, er lacht. Seine Marke, wehrt er höflich ab, würde ihm, dem Mann, sicher nicht viel sagen.
An dieser Stelle, eigentlich zu spät, hört die Höflichkeit auf, Worte plumpsen wie weiche Äpfel. Ins laue Blau der Dämmerung schwanken die Vertriebenen.

3. Februar 2009 21:15










Nikolai Vogel

Nacht und die Stunden der Lektüre

Die Müdigkeit hat sich schlafen gelegt. Die Worte kommen heraus, besehen sich die Welt, fragen nach der Meinung.

4. Februar 2009 12:10










Christine Langer

Zum Tod von Michael Hamburger – eine Interpretation eines seiner Gedichte.

Anläßlich seines 80. Geburtstages im Jahr 2004 wurde ein Geburtstagsprojekt verwirklicht – ein Buch, an dessen Übersetzung über vierzig Kollegen mitgewirkt haben. Michael Hamburger, 1924 in Berlin geboren, lebte seit 1933 in Suffolk. Seine Lyrik thematisiert vordergründig eher unscheinbare Wunder des Alltags, sei es das Beobachten von Libellen, Schleiereulen und Mauerschwalben oder die jährliche Ernte von Kürbissen und Pflaumen, deren Blau in Nuancen wahrgenommen wird. Das Betrachten der Wolken gehörte für Michael Hamburger, der es liebte, Bäume selbst zu pflanzen, zum Ritual eines gewöhnlichen Tages, und das Bestaunen selbst wird wie die „erdverhaftete“ Sinnlichkeit zum glückhaften Augenblick. Tiere, verschiedene Arten von Vögeln, das Land und das Wetter, Gewächse und viele Sorten von Blumen finden seine wache Aufmerksamkeit. Michael Hamburgers Kunst ist es, das flüchtig Gesehene zu bebildern, Verborgenes wird ganz unmittelbar entdeckt, die Gedichte wirken mit ihrer Nähe zum Dunklen und Tiefgründigen, zum Tod und zur Vergänglichkeit wahrhaftig.

Schwäne im Winter

Ist ihre lange Zeit als Paar zu Ende gegangen? Getrennt auf Weiden,
Weniger durch unsren Wassergraben als durch selbstgewählten
Abstand,
Gelassenheit, die in unsern Augen Gleichgültigkeit scheint:
Während sie, nicht zusammenkauernd, an niedrigen Kräutern und
Gräsern picken,
Wogt der langsame Hals, als könnte kein Reißzahn, kein Wetter
Auch nur die Seide kräuseln, die er trägt.
Für sie ist das Land eins, den ganzen Lauf des Bächleins entlang;
Fließen, allein beständig, wenn auch jetzt zu schnell,
Angeschwollen durch starke Regenfälle, um ihnen Nahrung zu geben.
Doch müssen ihre Hälse einander nicht begegnen,
Noch Blicke sich treffen, so fest sind sie gepaart.

Aus dem Englischen von Gerhard Falkner

Mit einer grundsätzlichen Frage beginnt dieses Gedicht. Woher kommt der Zweifel, gerade während der kalten Jahreszeit eine gefestigte Bindung in Frage zu stellen? Der angekündigte „Winter“ wird hier weniger als Jahreszeit, sondern eher als innere Verfassung geschildert. Aber ist der „selbstgewählte Abstand“ der beiden Schwäne als Zweifel an ihrer Bindung zu verstehen? Selbstbestimmung: Spielraum der Freiheit; oder sagt die menschliche Moral etwas anderes. Während die „Gelassenheit“, mit der sich jedes der beiden Tiere selbständig ernährt, beim Beobachter angenehme Assoziationen hervorruft, evoziert der Begriff „Gleichgültigkeit“ negative Vorstellungen. Stolz und erhaben wirkt der einzelne Schwan mit seinem langen, weich schimmernden, zierlichen Hals, als würde er mit aller Ruhe und Langsamkeit plötzlichen Bedrohungen trotzen. Allmählich erkennt der Betrachter mit Bewunderung die gelassene Ruhe der beiden Schwäne trotz ihrer äußerlichen Trennung. So leicht vermutet er deren Empfinden, so sorglos und frei im Einklang mit den Gegebenheiten der Natur. Die eigene Wahrnehmung jedoch bleibt subjektiv und an das Ich gebunden. Sie regt dazu an, Erahntes zu formulieren und geistige Parallelen zu finden. Wie erleichternd ist es, am Beispiel der Schwäne zu erkennen, daß die Gewißheit der Nähe des anderen weit hinausreicht – voller Vertrauen.

Michael Hamburger:
Unterhaltung mit der Muse des Alters
Gedichte
Hanser Verlag 2004 (geb., 191 S, EUR 16,90)

4. Februar 2009 21:07










Andreas H. Drescher

Katharina von Bora

Sie schreibt jetzt an der Ruhe als Familiengeschichte
An ihrer Hartnäckigkeit und ihrer Wiederholung

Vor allem an den ungeraden Namen

Es interessiert sie gar nicht
Wie ihr Mann im Taufregister heißt

Seine Dorfnamen interessieren sie
Seine Spitz- und Spottnamen

Lächelnd stibbt sie die aus ihrem Tintenfass

Von ihrer Heirat angefangen
Bis zu seinem schlanken Tag vorm Petersdom

 
bora

5. Februar 2009 21:03










Andreas Münzner

Geschäftsbericht

Dieses Jahr wieder ein, zwei Wahrheiten
in den Onlineschlagzeilen, die wir immer
schon wussten. Wie damals, die Erfindung des Gleitschirms.
Der erfolgreiche Paarmensch im Schlafzimmer
erwähnt nur das Positive, Betriebe überleben, wenn sie wachsen,
ein Organismus oft noch danach. Sind

die Grauwerte ausgelagert, werden Berichte zu einer notorisch
verspäteten Gattung. Worüber sollen wir noch reden?
Lacher wirken verdächtig. Das 21. Jahrhundert ist eben
gelandet, so früh hat es niemand erwartet. Jetzt stehen wir, stetig,
uns nur noch selbst im Weg. Der Rest ist Arithmetik.
Die Pessimismen von früher dürfen belächelt werden. Ein Tor ist,

wer seine Träume nicht umbenennt. Der Ton ist härter geworden zwischen
den Geschlechtern. Für Nostalgien habe er
keine Zeit mehr, meinte kürzlich ein Bekannter.
Gestern das Telefonat mit den Eltern: Sie mischen
noch mit. Eine Generation weit weg, und so viel Misstrauen schon.
Gesenkt werden konnten die Kosten für Kommunikation.

6. Februar 2009 10:59










Markus Stegmann

kommende nacht

habichtlose himmel fallen aus den organen der zeit die laue luft im märz
fristet unterm dach im darin eingenisteten stroh vor den krallen der nacht
geschützte brut mit viel zu wenig magenhaut verfroren dann der wind in
grauer farbe gestrichne stirn am nächsten morgen hinter dünner haut aus
warten kocht die suppe mit angehefteten mündern erstaunt stecken die
augen im erbsenbeet und blicken senkrecht zum mond der mit stangen sich
von der erde abstösst und vom wald der sich fürchtet vor der kommenden nacht

6. Februar 2009 12:55










Rebecca Maria Salentin

Vorfahren

Meine Vorfahren waren Tataren.
Ich stelle mir vor, wie mein Urgroßvater auf seinem kleinen Takhi durch die Gräser der Steppe galoppiert. In der Hand hält er die Urga, mit der er das Vieh wieder einfängt, das es gewagt hat, sich zu weit von der Herde zu entfernen. Sein stämmiger Körper und seine buschigen Haare verschmelzen mit dem Takhi zu einer urigen Gestalt.
Meine Großmutter liegt an der Brust ihrer Mutter. Sie ist schon fünf Jahre alt, aber das Leben ist hart und Nahrung rar. Durch die Milch der Mutter bekommt sie alles, was ihr kleiner Körper braucht. Sie schmiegt sich in die Felljacke meiner Urgroßmutter und atmet den vertrauten Geruch nach Schaf und Schweiß ein.
Zu dieser Zeit haben sie sich am Fuß des Altai niedergelassen. Hier werden sie bleiben, bis die Urgroßmutter niedergekommen ist, und sich genügend von der Geburt erholt hat. Alle ihre Kinder hat sie am Ufer des Durgen-Nur geboren. Danach wird sie das neue Kind in Felle wickeln und auf ihrem Rücken wird es mit der Familie den Dzabhan entlangziehen.
Meine Urgroßmutter sitzt am Feuer und singt die alten schamanistischen Weisen, die ihr eine gute Geburt und dem Kind das Leben bringen sollen. In ihrem seltsamen Singsang wiegt sie sich dabei vor und zurück während sie die Felle trocknet. Das ist die Musik des Tages. Nachts schläft meine Großmutter mit ihren Geschwistern eng aneinandergedrängt in der warmen Jurte. Wieder riecht sie den vertrauten Geruch des Schweißes ihrer Eltern, hört die Geräusche, das Atmen und Schnarchen der gesamten Familie. Das ist die Musik der Nacht.

8. Februar 2009 16:35










Carsten Zimmermann

zum beispiel du spazierst
über den alexanderplatz
an einem mittelgrauen
vormittag

oder im wald
ein teich, worin
frösche quaken
du stehst da, wehrst
den mücken

das bild würde dich umwerfen,
wenn es dich nicht
enthielte

(das sehende unendlich
gelassen)

8. Februar 2009 20:31










Nadja Einzmann

Eine Reise in den Süden

Heute Nacht werden wir in ein Abenteuer aufbrechen, sagt mein Vater und klatscht in die Hände, dass ihr euch ja die Zähne putzt, euch hinter den Ohren wascht, bevor es losgeht. Und wir, die wir so etwas nicht gewohnt sind, keine Reise, gar nichts, die wir blass sind, vom Herumsitzen in dunklen Wohnungen und Zimmern, waschen uns hinter den Ohren, putzen die Zähne und bürsten uns die Haare, bis sie glänzen und fliegen. Wir ziehen unser feinstes Nachthemd an und tappen an der Hand unseres Vaters, unser Köfferchen unter dem Arm, durch die nächtlichen Straßen zum Bahnhof, der ein Bahnhof ist, der zum Aufbruch in den Süden nur so einlädt.
Es wird eine Fahrt, an die wir uns immer erinnern werden. Erinnert Euch an diese Fahrt, sagt unser Vater, denn so etwas erlebt ihr nicht alle Tage, so ein herrliches Abenteuer. Und also schauen wir aus dem Zugfenstern, lehnen uns weit aus den Zugfenstern die ganze Nacht über, um ja nichts zu verpassen von dieser köstlichen Fahrt und Aussicht. Es wirbelt uns der Wind durch die Haare und wir singen in die Nacht hinein alle Reiselieder, die wir kennen. Als die Dämmerung hereinbricht und die ersten Orangenbäume und Pinien sichtbar werden, die ersten Landhäuser und der südliche Himmel, rollen wir uns auf unseren Sitzen zusammen, ziehen uns die Nachthemden weit über die Zehen und schlafen bis in den Mittag hinein, bis unser Vater uns wach rüttelt. Auf, auf, sagt er, auf, auf, das Abenteuer beginnt. Er bindet uns, jeder, eine Schleife ins Haar, streicht uns die Nachthemden glatt und nimmt uns an der Hand, an der wir in den Süden hinaustreten. Ein freundlicher Wind weht und von allen Seiten lächelt man zu uns herüber. Blonde Haare und blaue Augen, sagt unser Vater, davon hat man hier immer geträumt, und er zwinkert uns munter zu. Noch auf dem Bahnhofsvorplatz stehend, winkt er einer Frau, die aussieht, als habe sie nur auf uns gewartet. Hier, sagt er, hier, ein wunderbarer Tag, und legt unsere Hände feierlich in die ihren, wie eine Gabe, ein Geschenk. Selbstverständlich sehen wir uns nicht um, sind wir doch die Töchter unseres Vaters, als wir uns von ihr an all den Straßenbahnen und Bussen vorbei in eine und dann in die nächste und übernächste der engen Gässchen und Straßen dieser Stadt führen lassen.

9. Februar 2009 18:25










Kerstin Preiwuß

hausieren

in diesem jahr ziehe ich
straßenlang um
 
ist das ein habicht
wispert das dorf
 
ich schnäbel doch nur

9. Februar 2009 20:20










Hartmut Abendschein

Grüne Dinge (notula nova 4)

Die strenge Konsequenz, aber auch das, was das Eigentümliche (die quidditas, Washeit und die spezifische Differenz des Haiku, der EPIPHANIE und der BEGEBENHEIT (incident, H.A.)) ausmacht, ist der Zwang zum Nicht-Kommentar. (Barthes, Vorbereitung, ?)

Montaigne: So gibt es triumphale Niederlagen, die es mit jedem Sieg aufnehmen können.

Nebel lichten sich 
Kähne
vertäut an dem Steg 

Zwei müde Fischer

Seit Nächten immer die gleiche Sequenz eines spannenden Hörspiels lauschen. An der immergleichen Stelle in einen tiefen Schlaf fallen. (Die Bedeutung dieser Stelle. Narkotische Dichtung? Spez. sprachl. Eigenschaft oder Atmosphäre? Der Beschluss, diese Stelle auch einmal tags zu hören).

Bruder Klaus hat seine Familie verlassen, um sich in einem angrenzenden Tal zu Tode zu hungern. Wo ist da der heilige Moment? Und die quidditas?

Notiz (notula) > Nota (notatio). (Barthes, 15). In der Notula also die Beschaffenheit eines Textes vor der Überführung in ein anderes Medium. Vor dessen Bearbeitung, Formenwechsel, Form. (Das ungeschliffene Ereignis, incident? Ursprünglichkeit?)

Surfgitarren. (Geschmeidig, beiläufig). Green things have entered my skin. (So far: Ich kann mich nicht erinnern je ein Mofa besessen zu haben. Ich kann das allerdings auch nicht ausschliessen.)

Und: Die Welt scheint nicht so informiert zu sein, wie viele denken. Kein Mensch schrieb über den Vulkanausbruch am vergangenen Tag bei Luzern.

“Satori” aber auch mit Blitz zu übersetzen. Die Entladung zwischen zwei Schichten. (Das Leuchten, das Beobachten dessen, Lesen, Nachvollziehen, Erkennen. Doppeltes Blitzen. Donnern?)

10. Februar 2009 20:05










Mirko Bonné

Astroland

Das Meer war so laut! In der Luft Wogen,
und Himmel und See vom selben Grau:
Über den Holzpier kam bloß ein Schwarm
lachender Vögel aus dem Nebel herein.
Frachtschiffe waren zu hören, ihre Hörner
in Dunstschwaden vor Rockaway Point,
die Brandung, die Gischt, Seevögel. Leicht
flogen sie einen Bogen um das verrostete
Riesenrad bei der Mondrakete und segelten
durch die Karussells. Und der Nebel stieg
vom leeren Strand auf, hüllte Mietblocks ein,
Gondeln der Balkone, aus Feuertreppen
die Achterbahn im Coney Island der Möwen.

*

10. Februar 2009 20:12










Sünje Lewejohann

wieder eingefallen

am ortsausgang kroch dir schnecke den daumen entlang. niemand tat etwas. als der wind pfiff und man mit den augen sich an der spur entlang tastete, den spurrinnnen glauben schenkte, mehr war nicht einmal nötig. ich habe dir gesagt: laß dich nicht tragen. vom wind nicht, vom wasser nicht. kriech an der hecke entlang, bleib nahe an den büschen. es schießt, wie immer, aus allen ecken. hinter den gardinen leuchteten die fotos grell aus all den jahren. sich weiter um die büsche schleichen, drück dich auf den rasen, das sagte ich, ich bin nicht sicher, war es das?. die schnecken krochen ihren weg über die brauen. bräutigam sein und braut: je nach dem.  wir lachten noch lange, weil er im kleid bei uns blumen streute. auf all den fotos, jahre her. bevor sie weiter schossen, der wind um die häuser pfiff, und wir dann froh waren unter dem ortsschild mit dem durchgestrichenen namen. wo man schlafen konnte, das gesicht auf das gras legte. ich die leichten finger auf dem jochbein.
suenjebaum

11. Februar 2009 00:01










Marjana Gaponenko

Kismet

Dieses Zimmer betrete
nicht ich.
Ich sitze nicht da am Fenster,
raschele nicht mit der Zeitung.
Wie ein Staubkorn gerate ich
nicht in den Blick dir ins Auge,
Kind. Es ist etwas.
Es ist’s.
Aus dem Hut zaubert es nichts
als sich selbst, nichts als sich,
nichts.
Laß es, mein Bruder,
wozu dieser bittere Mund?
Niemand ist tot der noch lebt.
Wir können nicht sterben
auch wenn wir wollten.
Wir waren, wir sind –
jeder für sich
als Gott im eigenen Wort
Saft im Baum des eigenen Lebens,
eilend, aufflammend darin.
Aber hier können wir wenig,
vermögen nicht einmal
die Hände zu heben.
Im Traum träume ich vom Feld
in dem unser Rennen beginnt:
du rennst zu deiner, ich zu meiner Mitte,
mit Fahnen, die wir anzünden,
rennen wir durch uns hindurch
unendlich…

11. Februar 2009 19:51










Hans Thill

Propheten (15): Michail Bakunin

B. war ungewöhnlich groß und massiv, sein Gesicht aufgedunsen, unter seinen hellgrauen Augen lagen dicke Wülste. Seinen mächtigen Kopf krönte eine hohe Stirn; am auffallendsten war jedoch sein halbergrauter, krauser Backenbart. Er kleidete sich keuchend an, und von Zeit zu Zeit starrte er auf mich. Beim Sprechen stieß er stark mit der Zunge an, da ihm viele Zähne fehlten. Als er sich bückte, um seine Stiefel anzuziehen, bemerkte ich wie sein Atem stockte. Als er sich wieder aufrichtet, begann er sehr schwer zu keuchen – der Atem ging ihm aus, sein aufgedunsenes Gesicht wurde blau. Dies alles wies darauf hin, daß seine Krankheit bereits in hohem Maß fortgeschritten war … Später erschien Saizew, und es ergab sich ein Gespräch über den Aufstand in Barcelona, der mit einem Mißerfolg endigte. B sagte, die Revolutionäre selbst trügen eine große Schuld am Mißlingen des Aufstandes. Man hätte die Amtsgebäude in Brand stecken sollen! Das muß bei einem Aufstand der erste Schritt sein – und sie haben es nicht getan. Er war ganz erregt.

(Aus: Erinnerungen von Debagorij-Mokriewitsch, russ. Manuskript, Paris 1894. Zitiert nach: Horst Bienek, Bakunin eine Intervention. Hanser München 1970.)

12. Februar 2009 04:40










Sylvia Geist

agarden

: a garden

12. Februar 2009 08:35










Hendrik Rost

Blindbewerbung

Erst ein paar Fakten zu mir:
Aufgrund meiner intellektuellen
oder auch kulturellen Fähigkeiten
als Mensch bin ich in der Lage,
mich veränderten Umweltbedingungen
sehr viel besser und schneller
anzupassen als jedes andere Tier.
„Die Aussicht auf einen zukünftigen
Hunger macht mir schon jetzt Sorgen.“
Im Übrigen gelte ich als direkte
und größte Schöpfung eines
oder mehrerer Götter.
Als Mensch bin ich vermutlich stärker
als jedes andere Tier in der Lage,
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
in kausale Zusammenhänge zu bringen.
Ich kann Handlungen vergleichen,
planen und teilweise eine Zukunft
kreativ entwerfen und erreichen.
Das alles in komplexer Sprache,
die differenzierte Aufgabenteilung ermöglicht.
Als Mensch bin ich in der Lage,
die Lebensbedingungen meiner Art
durch Arbeit willentlich zu gestalten,
solange ich mir die Tätigkeit aussuchen kann
und keine Hindernisse mich aufhalten.
Menschliche Individuen wie ich
sind sich ihrer Sterblichkeit bewusst.
Wann kann ich anfangen?

12. Februar 2009 15:28










Sylvia Geist

Manitoba

Dein Nachbar hat seine Schindeln
weggelegt neben die ausgedienten
Nägel und die Kinder

nebenan das Lachen, das du
an schlechten Tagen verdächtigst.
Um diese Zeit lacht niemand über

die Zäune. Die Dunkelheit der Häuser
streicht die Zeile, die Trampelpfade und
das Gebell und was immer zu hören ist: dies

ist der Platz, beleuchtet von nur diesem Tag.
Dort rücken wir die Stühle aus den Hageln
des Nussbaums, die hirnschönen Kerne liegen

weiß und bitter bloß zu früh.
Wie Angehörige einer alten Religion
beugen wir uns der Augenzahl der

Blätter, schütteln unsere Deutungen ab
und noch einmal beschreibst du mir das
Wild mit der falschen Frage.

13. Februar 2009 12:00










Andreas Louis Seyerlein

~

2.26 – Eine jedem Propellerkäfer zutiefst verbundene Leidenschaft ist, auf Bäumen zu sitzen und nach Winden Ausschau zu halten. Sie sind in diesem Warten und Schauen außergewöhnlich geduldige Persönlichkeiten. Wochen, gar Monate sitzen sie kaum wahrnehmbar in Gestalt kleiner Zigarren auf knorzigen Ästen, Stämmen und Blättern herum, indessen sie ihre Augen stets geöffnet halten, blaue, sehr blaue Augen, selbst wenn sie schlafen, was nicht ganz sinnvoll zu sein scheint, weil doch heranwehende Winde eher zu hören als zu sehen sind. Wenn man nun einen Propellerkäfer bei seiner leidenschaftlichen Arbeit, insbesondere den Präludien seiner Arbeit beobachten möchte, sollte man geduldig sein und immerfort an seiner Seite, weil man nie vorhersagen kann, ob ein Wind, der sich näherte, unserem Propellerkäfer gefallen wird. Manche Winde, so seltsam das erscheinen mag, noch feinste Stürme, die vom Meer her kommen, lassen unseren Propellerkäfer völlig kalt, während bereits die leiseste Ahnung ganz anderer Winde, heftigste Erregung erzeugen kann. Dann, von einer Sekunde zur anderen, ändert der Propellerkäfer seine Farbe, ob er nun will oder nicht, er sieht jetzt ein wenig so aus, als würde Feuer in ihm brennen. Seine Füße indessen haben kleine Zehen ausgefahren, Phantasien der Natur, rein nur zur Verankerung ausgedacht, weil der Propellerkäfer sich sofort wild entschlossen mit jedem seiner Propeller gegen den Wind stemmen wird. Stürme, gerade Stürme will er fangen. So sitzt er mit geschlossenen Augen hinter pfeifenden Rotoren bebend und knistert und wartet, wartet bis all das wilde Wetter vorübergezogen sein wird. Der Ordnung halber sei folgendes noch rasch gemeldet: Propellerkäfer sind friedvolle aber doch gefährliche Wesen, sobald sie aufgeladen sind. Mal haben sie sechs, mal acht, mal zehn Propeller, die sie je in ihrem Leib verbergen, um für Wochen, für Monate wieder zur Baumzigarre zu werden. Jetzt hören wir sie leise und zufrieden knallen.  

 

propeller

> particles

14. Februar 2009 06:30










Markus Stegmann

Walensee

Verfangst an Walensee genachtete
schriebst blinkt Paestum Lage
als Tochter Sturm verwehte
Tritte zittern griff und verfädelst
östlicher als Seeschwarz
Gegenruder langt
ein Finstersturz
Eis das Wasser Korn
verbodet ans Kinn
achterlich die Verfahrt
Motorschlag so kehrt
merzliche Last schneit
partizipiert das Minuten
senktrechter als Firn
schüttet kolossale
Geburt

16. Februar 2009 22:38










Nikolai Vogel

E. T. A. Hoffmann z. B.

Ein Doppelgänger vielleicht, eine Spiegelung, oder eine Kopie (die Automate Copy/Paste), eine Sicherheit, Zwillingstext, eine Aufteilung der Welt in fast identischer Perspektive.

17. Februar 2009 12:58










Carsten Zimmermann

in der stadt

wir sind hier voller menschen,
sind voller autos, häuser,
bürgersteig und himmel

wir kaufen ein
wir gehen entlang
wir schauen nur mal

um uns ist dieses leuchten,
ein heller schaum, wir sind
in rauhen mengen
geheimnisvoll allein

18. Februar 2009 10:47










Hartmut Abendschein

Beim Münchner Micha

Draussen tobt die Normalität. Mit dem Münchner Micha feste in der Innenstadt getrunken. Dann ins Fraunhofer, x-cess, Trachtenvogel. Wir stellen fest, dass wir Publikum und Interieur nicht mehr sortieren können, weil … sich alles verändert hat? Oder weil: wir dafür keine Begriffe mehr haben? Oder weil: s. Satz 2? Jedenfalls hat der Micha vor kurzem seine Armbanduhr verloren. Und ich rate ihm vom Kauf einer Neuen ab. Wir diskutieren eine kleine Philosophie der Uhrenlosigkeit.

Und verkrachen uns beinahe daran. Renitenzerhaltungsenergiekopplungen. Subjektivzeitakkumulationsfragen, Signifikation und Symbolisierung durch Leerstelle. Dies zählt alles nichts. Ich versuche die Punkte noch einmal am nächsten Tag zusammenzutragen. Es sind nur noch wenige da.

P.S.: Der Münchner Micha ist jetzt auf löslichen Kaffee umgestiegen. Aber Fair Trade. Und Bio, wie er sagt. Das dürfen auch alle wissen.

2 Jahre habe ich den Micha nicht besucht. Seitdem hat sich viel getan. Er ist mit Partnerin umgezogen. Auf der Toilette gibt es nichts mehr zu lesen. Ich frage ihn, was los sei. Bologna? Er antwortet nicht und legt das Programmmagazin „in“ neben eine Rollenburg. Nach meiner Abreise wird dort sicher wieder nichts liegen.

(Wir beschliessen aber: Ein Museum der Handgriffe muss gegründet werden. Und: vielleicht ist das Schreiben aber auch nur … professionalisierte Innerlichkeit.)

Notstromprobe am Karl-Preis-Platz. Rolltreppenprobleme. Schnellstmögliche Behebungen. (Micha hat sich eine neue Uhr gekauft. Casio. Digital. Das Zwicken an Haut und Haar hat nicht unmittelbar mit dem Neuerwerb zu tun. Seien ganz normale Zeitschmerzen, erfährt man.)

Im Tollwood: „Man kann ja nie wissen, was alles so passiert“. – „Ja, passieren kann schnell was.“

Im Wassermann: Schwaben ohne Schwaben gegen Bayern ohne Bayern. Sprechen der Sprache ohne Sprache. Leichtes Weissbier (2.4 %). Lucio. Cacao. Und andere Bekannte. Alte Streitigkeiten werden überspielt. Stuttgart führt nach 45 Minuten 1:0. Nervöse bayrische Raucher vor der Tür. Alles friert.

Dann: 1:2 gegen die Gastgeber. Apathie. Lethargie. My mourning table, subsound Ländler. No a Weissbier, bittschön.

Dankschön, Micha.

(Auf der Heimfahrt im 4er, 3 St. Gallener Visagistinnen. Wie Oberflächenoptimierung? Wie Sonnenschutz? Wie Sonnung mit dunklem Teint? Welche Zeitschrift und wie lesen? Wie richtig Skifahren? Wie Taschenkaufen? Etwas ist zu teuer: Mama, Papa und Geburtstag fallen mit Weihnachten zusammen. Undsoweiter.)

(Überhaupt: Wohin man überall Dinge schrauben und stecken kann. Ohren, Nasen, Brauen, Lippen, Zungen, Zähne. Selbst im Häutchen (Name?) zwischen Oberkiefer/Schneidezähne und Oberlippe ist noch Platz für einzwei Ringe.)

[notula nova 26]

20. Februar 2009 09:25










Thorsten Krämer

Interiors

Ein leer geräumter Wintergarten: Den Blick auf den Garten versperrt eine Mauer, aber bis vor kurzem gab es auch gar keinen Garten; jeder freie Meter wurde genutzt, hinter dem Anbau ein weiterer Anbau. Der wurde als Werkstatt konzipiert, die Reste des Fundaments lassen noch die Raumaufteilung erkennen. Die Mauer ist aus Ytong-Bausteinen: billig, aber effizient. Für Ästhetik hat erst die nächste Generation wieder einen Sinn. An der anderen Wand steht eine zusammengeklappte Leiter, daneben ein ungeöffneter Sack Grillkohle. Die Lichtorgel sieht aus, als sei sie damals teuer gewesen: nicht nur die drei Standard-Leuchtelemente, sondern ein kleiner Turm, etwas über einen Meter hoch, mit diversen Strahlern, die alle einzeln ausgerichtet werden können. Rechter Hand die gestückelte Glaswand: zwei Holzfenster, die Tür in einem Aluminiumrahmen. Auf dem weiß gekachelten Boden ein ordentlich zusammengefegtes Häuflein aus feinem Baustaub, genau in der Mitte.

20. Februar 2009 18:53










Sylvia Geist

Wiederfund (10): Aus dem Leben eines Satzes

„Ich nehme die Sonne und werfe sie…“: Als Marie Sklodowska im November 1891 in einem Hörsaal der Sorbonne diesen Satz hörte, war sie vierundzwanzig Jahre alt. Nachdem sie als Erzieherin gearbeitet, ihrer Schwester Bronia das Medizinstudium in Frankreich finanziert und daheim in Warschau ihren kranken Vater gepflegt hatte, war sie gerade erst in Paris angekommen, um ihr Physikstudium aufzunehmen, und nun hörte sie von Paul Appell diesen Satz, von dem sie später Eve Curie erzählte und den diese in die Biographie ihrer Mutter aufnahm.
Marie war schon in Warschau von Mathematik und Physik bezaubert gewesen, der Satz von der geworfenen Sonne war ihr nur eine Bestätigung, dass sie sich endlich auf dem Weg ins Berufsleben befand. Zu welchen wunderbaren Entdeckungen der führen würde, wusste sie nicht.
Doch ist das, was Marie Curie – im Laufe von Jahren, das heißt: während ungezählter wenig wunderbarer, sondern unbequemer und vermutlich zuweilen auch recht eintöniger Stunden, die sie in einem staubigen, im Winter kaum beheizbaren, zum Behelfsabor umfunktionierten Hangar zubrachte – sind also die Stoffe, auf sie die dort in den Kesseln mit brodelnder Pechblende stieß, überhaupt „wunderbar“ zu nennen? Bis sie und Pierre Curie die Elemente Radium und Polonium nachgewiesen hatten, waren ihre Hände verbrannt von Säuren, mit deren Hilfe sie die neuen Stoffe isoliert hatten, und von der Arbeit an der Erforschung einer weiteren Entdeckung, die sich darin verbarg, nämlich von dem Element, um das man nun die Reihe Feuer, Wasser, Erde, Luft erweitern musste, vom Element Strahlung.
Ahnte sie, wenn sie ihre verbrannten Hände betrachtete, dass die Auswirkungen dieser Emanation über solche Oberflächenschäden hinausgehen würden, dass das fünfte Element schon begonnen hatte, im Körperinnern, im Knochenmark, die Leukämie auszubrüten, an der sie erkranken würde? Schwer vorstellbar, dass die Wissenschaftlerin sich der schlichten Hypothese, die sich aus den Verbrennungen an den Händen ergab – dass es zu weiteren, inneren Verbrennungen kommen konnte – hätte entziehen können. Und wenn sie eine Gefahr ahnte, kam ihr da der Gedanke, die Arbeit mit dem Element Strahlung aufzugeben oder auch nur einzuschränken?
Wohl kaum. Die Frau, die von dem Satz „Ich nehme die Sonne und werfe sie…“ so hingerissen, so mitgenommen worden war, dass sie ihrer Tochter davon erzählte wie von einem Initiationsmoment, hätte sich bei aller Rationalität nicht gegen die riskante Arbeit entscheiden können. Dabei dachte sie auch in den Dingen des täglichen Lebens sehr vernünftig, und wenn sie einen praktikablen Weg gesehen hätte, sich gegen eine mögliche Gefahr zu schützen, hätte sie es getan. Leider gab es einen solchen Weg nicht, schon deshalb nicht, weil man Art und Ausmaß der Risiken ja erst noch in Erfahrung bringen musste, und abgesehen davon ging es, wenn sie die Pechblende rührte, Proben nahm und untersuchte, maß und rechnete, auch nicht darum, vernünftig zu sein. Die Verfassung, in der man arbeitete, lässt sich dagegen aus einer überlieferten Bemerkung Pierre Curies ableiten: „Ich wünsche mir, dass es eine wunderschöne Farbe hat.“
Nicht nur diesem Hinweis nach ist es fraglich, dass die sich erst allmählich herauskristallisierende Bedeutung ihrer Entdeckung sie antrieb. Es dauerte vier Jahre, bis ein Dezigramm reinen Radiums isoliert war (nicht gerechnet die Zeit, die es brauchte, die neuen Elemente zu erahnen), eine Spanne, gegen die sich die der Entwicklung der Radiumindustrie und der Anwendungen des Stoffs unter anderem auf medizinischem Gebiet kurz ausnimmt, vier Jahre in einem zugigen Hangar, in denen noch gar nicht abzuschätzen war, wann die Arbeit zu einem greifbaren Resultat führen würde und welche Nutzeffekte sich daraus ergeben würden. Pierre Curies Wunsch aber wurde mehr als erfüllt. Das Element – das winzige Stückchen, das man schließlich aus acht Tonnen Schlacken destilliert hatte – war, wie Marie notierte, von der „schönsten Farbe“: es leuchtete.
Ich glaube, Marie ging es bei alledem immer noch und immer weiter um den Satz, der in ihr lebte wie ein Bild, in dem sie sah, was für sie zum Glück gehörte: die unerhörte Freiheit darin, seine Ausblicke auf die Möglichkeiten des sonderbaren Handwerks, die sie damals, 1891, zu erproben begann. In der Poesie dieses Satzes fand sie all das wieder, und wenn sie ihre verbrannten Hände betrachtete, war es vielleicht, als sähe sie im Grunde nur das Werk der gedachten Sonne, die sie seit dem Tag im Hörsaal hatte werfen wollen – aber diese Annahme ist natürlich schon nicht mehr Teil der Geschichte, des offiziellen Lebens dieses Satzes.
Sie gehört zu seinem zurückgezogenen Dasein in meinem Kopf. Ich begegnete dem Satz, als ich vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war, in der Curie-Biographie, die meine Mutter mir in der heimlichen Hoffnung geschenkt hatte, irgendwie mein Interesse an einem Fach wecken zu können, in dem meine Leistungen einfach unterirdisch waren, und obwohl ich keinen Schimmer davon hatte, wie Formeln wohl funktionierten, spürte ich in dem Gleichnis von Paul Appell, dass sie so etwas wie ein Konzentrat sein mussten, transparent, gehaltvoll und schön. Auch viel später noch, als mir langsam schwante, dass ich eben nicht zu denen gehörte, die im Chemielabor die Abenteuer erleben können, von denen ich als Schülerin geträumt hatte, blieb mir eine Art Kinderfreude an dem Wenigen, das ich von dort mitnehmen konnte.
An den Satz dachte ich dann aber lange nicht mehr. Erst neulich traf ich wieder auf ihn, als ich mir das Gedicht Nocturne noch einmal ansah. „Ich habe schwarze Hände fürs Gras“, lautet der Schlussvers, und schon als ich ihn schrieb, fragte ich mich, woher dieses Bild gekommen sein mochte, wovon die Hände des lyrischen Ich da eigentlich schwarz sind. Von Druckerschwärze? Immerhin eine Spur, in einer äußeren Schicht des Gedichts. Als ich es mir nun vor ein paar Wochen wieder vornahm, fiel es mir endlich ein: es ist Ruß, und unter dem Ruß sind die Hände verbrannt von der Sonne des Satzes.

(Strahlung Sprache / Notizen)

23. Februar 2009 15:54










Carsten Zimmermann

Brainstorming zum Thema Strahlung

Die Quinta essentia, Quintessenz, war seit der Antike das feinste, nichtmaterielle, lichtähnliche, lebensspendende fünfte Element, auch die Substanz der Seele oder des Seelenkörpers (Augeoides), schließlich ein zentrales Spekulationsobjekt der Alchemie. Immer schon gleichgesetzt mit dem Äther:
„Aether, in Greek mythology, is one of the Protogenoi, the first-born elemental gods. He is the personification of the „upper sky,“ space, and heaven, and the elemental god of the „Bright, Glowing, Upper Air.“ He is the pure upper air that the gods breathe, as opposed to normal air, the gloomy lower air of the Earth, which mortals breathe.“ (Quelle: Wikipedia)
Noch Hölderlins „Vater Äther“ steht für diese ewige geistige Essenz, für die dem alles in Gegensätze aufspaltenden Verstand unzugängliche primäre Einheit aller Dinge. Und ähnlich noch symbolisiert in dem schönen, lehrreichen, sicherlich auch altertümlichen impressionistischen Gedichtband „Ultra Violett“ von Max Dauthendey eben das Ultraviolett, das Licht jenseits des sichtbaren Spektrums, diese vorbewußte Einheit und zudem die dichterische Inspiration, die schöpferische Latenz und mithin die Zukunft:

„Ultra Violett,
das Einsame, sprach zu mir:
Noch lebe ich unsichtbar.
Aber ihr könnt mich alle empfinden.
Versucht es mich zu erkennen.
Ich will euch neue Sonnen,
Neue Welten geben.“

Neuzeit und Moderne, die alles zu verdinglichen strebten, haben den ohnehin nur noch körperlich aufgefaßten Äther in der Physik schließlich nach langen Kämpfen abgeschafft (ob er nicht als Vakuumenergie wieder zurückgekehrt ist?) und die Quintessenz aus der Seele in den Atomkern verlegt. Man hat das himmlische Feuer tatsächlich auf die Erde geholt. War dieser ganze Prozeß das folgenschwere Mißverständnis einer Metapher?

25. Februar 2009 12:42










Mirko Bonné

Kiesel

Im nächtlichen Garten zu Weißenfels
üben Gänse zu fliegen mit Ellbogensegeln.

Hardenberg spuckt, nervös, wie er ist,
ausgelassen vor lauter Vorfreude.

Friss er die Kiesel, gröhlt Tieck.
Der Arsch stopft mich mit Steinchen!

Am Waldrand blinkt das Cabriolet auf,
Charpentiers frei fliegende Sterne.

Novalis rennt los und brüllt: Alles stop,
Tiecks Kiesel rieseln aus mir raus.

*

25. Februar 2009 19:41










Andreas Louis Seyerlein

~

2.15 – Gestern Abend, während ich Strukturen einer menschlichen Hand studierte, hab ich die Zeit aus den Augen verloren. Anstatt 22 Uhr, war es bereits sehr viel später geworden und ich hatte noch nichts Warmes gegessen, gleichwohl noch nicht nachgedacht über letzte Fotografien wie vorgenommen, über Lichtbilder, was sie bedeuten und wie ich eine dieser letzten Aufnahmen eines Menschen für mich entdecken und gestalten sollte, damit sie als authentisch betrachtet werden kann. Ich habe mir also überlegt, dass ich zwei kleine Stunden zusätzlichen Lebens rückwärts erfinden könnte, wenn ich mir schon Schiffe und Bäume auszudenken vermag in einer Weise, dass ich sie Tuten und Rauschen höre, warum dann nicht zwei oder drei Stunden Zeit für Arbeit vor der Nacht. Und so war plötzlich wieder früher Abend geworden. Ich räumte meine anatomischen Atlanten aus dem Weg, spazierte in die Küche, bereitete mir eine halbe Ente zu und fing an, über das Fotografieren nachzudenken. stop. Whiteout. stop. Alle Welt, auch die letzten Dinge sind zu farbigen Pixeln geworden. stop. Existieren in diesem Moment noch Menschen auf unserem Planeten, die während ihres Lebens niemals auf einer Fotografie abgebildet sein werden? stop. Wer endlich verhaftet Robert Mugabe?

bridge

> particles

28. Februar 2009 21:01