Gerald Koll

Zazen-Sesshin (10)

Wir nehmen einen Tee.

Auf dem Tagesplan wirkt der Eintrag „Tee“ wie ein Ausflug in zivile Dekadenz mit abgespreiztem Finger. In der Wirklichkeit des Sesshin handelt es sich um eine disziplinarische Maßnahme.

Nahezu alle Zeit der Teezeremonie gehört dem zeremoniellen Davor und Danach, dem andachtsvollen Warten ohne Erwartung, der bedachtsamen Empfängnis, der verbeugenden Empfangsbestätigung, der Weitergabe der Gerätschaft, dem wachen Lauern auf das Signal gemeinsamer Verkostung.

Verschwindend wenig Zeit benötigt der Verzehr eines abgezählten münzgroßen Keksgebäcks. Geschwind geschluckt ist die Menge Flüssigkeit einer Puppenstubenschale. In dezenter Eile müht sich einjeder, andere Teilnehmer nicht warten zu lassen. Durstige erhalten eine zweite Pipette.

Andachtsvoller Dank kleidet sich in Sutra, Bekenntnis und Versprechen, die nährende Spende zu verwenden im Dienst an der Menschheit. Die zähe Zeremonie endet, das Sitzen nimmt seinen Gang.

Wir nahmen Tee zu uns.

10. März 2012 12:10










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (9)

Alles sträubt sich gegen die Unzumutbarkeit der seriellen Monotonie. Verschone dich, verschone später die, die keine Schuld trugen, dass du dich rädertest auf deinem Kissen und dir gefielst im blödesten Martyrium, um das dich niemand bat, das niemandem nützt und keine Idee besitzt als ideenloses Sitzen. Niemand will das, niemand zwingt und ermutigt dich dazu, weder gibt es Botschaft, Prüfung noch Beweis.

Eine Revolution sei hier im Gang, sagt der namenlose Meister.

Unter mir in meinem Rücken rischelt es. Es gibt Mäuse, weiß ich, nachts schon trippelte es im Gebälk. Es knirscht, als nage die Maus Sand zu Staub. Nie entfernt sie sich, sie bleibt bei mir. Nicke ich ein, kratzt sie. Lausche ich, hört sie auf. Döse ich, raschelt sie. Die Geräusche produziert mein Sitzkissen, dessen Füllung sich verschiebt, wenn mein Körper einsackt. Daran gibt es jetzt, am Ende der siebzehnten Einheit, keinen Zweifel.

4. März 2012 15:26










Gerald Koll

Erinnerung an Christoph Hochhäuslers Film UNTER DIR DIE STADT

Ich erhebe mich, stütze meinen Körper auf sich selbst und trete ans Fenster, höher als die umliegenden Dächer, und unter mir die Stadt, die in der langsam beginnenden Stille schlafen geht. Der große, weißweiße Mond erhellt traurig das vielfältig terrassierte Häusermeer. Es ist, als beleuchte sein Licht eisig das Geheimnis der Welt. Es scheint alles zu zeigen: und alles ist Schatten, hie und da ein Einsprengsel von Licht, falsche, uneben absurde Zwischenräume, Ungereimtheiten des Sichtbaren. Nicht ein Windhauch, und das Geheimnis scheint größer.
(Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe, Eintrag 149, 3. März 1931)

1. März 2012 11:29










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (8)

Eine Sitzeinheit von vierzig Minuten lässt sich verkürzen, indem man sie als Berganstieg vorstellt, der in achtzig Minuten zurückzulegen sei. Das Ziel könnte ein Tempel sein, wie bei einer Pilgerreise. Die Sitzzeit verginge im Zeitraffer, und die Tätigkeit erschiene bequem, sofern man dem Irrglauben anhängt, Sitzen wäre bequemer als Gehen. Eben noch, vor der 16. Einheit, ging ich, eben noch ging ich auf belaubten Wegen unter Ästen, eben war Samu, die vormittägliche Gartenarbeit.

Während des Samu trug der namenlose Meister eine Jakobinermütze. Nur die rote Farbe fehlte. Auch die Kokarde. Sonst aber nichts.

Das hingegebene Lächeln des Schülers während des Samu ist frei von Ironie. So stumpfsinnig kann die stumpfsinnigste Arbeit nicht sein, als dass sie nicht befreiender wäre, als still zu sitzen. Glücklich bürstete der Schüler nasses Laub zwischen Moosen heraus. Schob eine Karre den Abhang hinauf zu den Haufen und Wurfhügeln. Auch ließ sich das allgemeine Schweigegebot unterlaufen, denn zu fragen ist erlaubt, wo Gerät zu finden sei. Wo ist Schaufel, wo ist Besen? Dort im Schuppen neben dem Kompostklo, in dem du deine Exkremente mit Sägespänen bestreust!

Dann ist sie da, die 16. Einheit. Während des Starrens wellt sich der Dielenboden zur Wüstendüne. Vier Astlöcher verbinden sich zu einem Löwenkopf. Nur die Mähne fehlt. Auch die Zähne. Sonst aber nichts. Der dürre Löwe starrt ungläubig, die Knie starren zurück.

27. Februar 2012 08:59










Gerald Koll

Kramers Kuss

Herr Kramer durchquert am letzten Freitagnachmittag vor Weihnachten das Großraumbüro einer ihm unbekannten Firma. Die Herrn Kramer unbekannten Angestellten beenden ihren letzten Arbeitstag des Jahres mit einer Betriebsfeier. Herr Kramer küsst in der dicht gedrängten Menge eine ihm unbekannte Frau auf den Mund, und sie lässt es sich gefallen, überrumpelt von seinem Glück, das sie nicht kennt.
(Kramer gegen Kramer mit Dustin Hoffman, gestern im Kino)

19. Februar 2012 21:17










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (7)

Es gibt eine übermannende Müdigkeit, die mit Pranken in den Leib greift wie in einen Teig oder in schmutzige Wäsche. Das Walken dieser Müdigkeit im Zuber des Zazen setzt mit dem dritten, die Sitzung einläutenden Gongschlag ein und dauert fort bis zum nächsten Schlag. Er fällt vierzig Minuten später, um sechs Uhr und vierzig Minuten.

Erfahrungsgemäß kann eine Bomberstaffel innerhalb von vierzig Minuten eine Hauptstadt von der Größe Hamburgs oder Danzigs in Schutt und Asche legen. Gestern noch stieg Rauch aus den Kaminen der Stadt, heute ist die Stadt selbst ein Kamin mit zerrissenem Schamott. Die einzelnen Kamine sind nicht mehr zählbar, sie liegen am Boden übereinander. Schlafend rauchende Städte.

Zu zählen ist von eins bis zehn, wie ich erinnere. Beginne ich zu zählen, zähle ich zu lange, weit bis über zehn hinaus, ich müsste wieder bei null beginnen, ich müsste den Schlitten der inneren Zählmaschine mit Schwung und Schnarren nach links setzen. Doch dazu fehlt die Kraft, und dumpf zählt es sich weiter, manchmal bis achtundvierzig, und erschreckt rechne ich aus, dass von achtundvierzig Zähleinheiten mindestens achtunddreißig einem Wachschlaf zuzurechnen sind. Wahrscheinlich mehr. Vielleicht sechsundvierzig. Vielleicht mehr. Zählte ich aber nicht, schliefe ich unverzüglich.

So also schläft es sich mit offenen Augen, denn offen sind die Augen und nicht zu, sie sind auf Weisung des namenlosen Meisters viertel offen und in einem Winkel von 45 Grad auf den Boden gerichtet, auf die geschliffenen Holzdielen mit ihren Maserungen und Astlöchern. Wolkenbänder erstrecken sich dort, mit Fallschirmen dazwischen, Truppen von Fallschirmjägern …

19. Februar 2012 13:19










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (6)

Zweiter Tag, Weckzeit 04:40, eigentlich 04:50, doch bis zum Gongschlag der Morgenmeditation müssen acht Schläfer aufgestanden, angezogen, die Treppe herabgestiegen, ins Bad gegangen und im Dojo sein. Gongschlag um 05:00. Mein hochkant gestelltes Rundkissen ist nicht nur etwas seniorenhaft unsportlich, es schneidet auch. Vierzig Minuten bleiben für die Vorstellung, es würde sich zu drehen beginnen und den müde sinkenden Leib halbieren. Der namenlose Meister weiß, wie es uns geht: „Ganz nebenbei: Das Miserable ist dabei. Das ist nun mal so.“

12. Februar 2012 10:22










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (5)

Endlos ist der erste Tag, er ist es immer noch, immer noch ist dies der erste Tag, der 27. Dezember, der sich nicht neigt, der sich nicht krümmt, der unerbittlich Drähte schmiedet, glühendes Kupfer, das er über die Kniescheiben spannt. Stramm und mit Gewalt.
Zum Lösen lässt sich das hochgelegte Bein vorn ablegen. Das Kissen lässt sich hochkant stellen, zwischen die Beine, wie ein Sattel. Das lindert für Minuten, bis die Drähte neue Nadelöhre finden.
Gezittertes Notat vor dem Sturz in den Tiefschlaf: Zittern, Schweiß und Kälte, leichtes Kollabieren. Ende Tag 1.

4. Februar 2012 12:47










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (4)

Beim dokusan kündigt sich der Fragende durch Schläge mit einem Schlegel auf eine Glocke beim namenlosen Meister an und begibt sich zum Einzelgespräch in dessen kleine Gartenlaube.

Auf die einer gewissen Tradition folgende Frage „Wer bin ich?“ greift der namenlose Meister einer gewissen Tradition folgend zu einem massiven langstieligen Löffel und drischt damit auf den Oberschenkel des Fragenden.

Nun holt der namenlose Meister aus. Die Rede ist von Mitgefühl statt Dominanz. Wider Illusionen, Geisterwelten, Dualismen – universale Einverleibung verträgt sich nicht mit Exorzismen.

Es gibt keinen Löffel, es gibt nur den Löffelbetrachter, es gibt nur den, auf dessen Netzhaut ein griffbereit liegender Löffel abgebildet ist.

29. Januar 2012 18:18










Gerald Koll

Memorandum an die UNESCO

„Indirekter Egoismus manifestiert sich hauptsächlich in einem abnormen Altruismus, der sogar imstande ist, etwas, was uns selber als gut und richtig erscheint, unserem Nachbarn unter dem Deckmantel christlicher Nächstenliebe, Menschlichkeit und gegenseitiger Hilfe aufzudrängen. Egoismus ist seinem Wesen nach immer Habgier, die sich hauptsächlich auf dreifache Weise zeigt: als Machttrieb, Lust und Faulheit. Diese drei moralischen Übel werden durch ein viertes ergänzt, das mächtigste von allen – Dummheit. Wirkliche Intelligenz ist sehr selten und stellt statistisch einen unendlich kleinen Teil des Durchschnittsverstandes dar. Von der Warte eines höherentwickelten Geistes betrachtet, ist das durchschnittliche Intelligenzniveau sehr niedrig. Leider wird ungewöhnliche Intelligenz – als eine seltene individuelle Eigenschaft – häufig durch eine entsprechende moralische Schwäche oder gar einen Defekt teuer bezahlt und stellt somit eine Göttergabe dar, die fragwürdiger Natur ist.“
(Carl Gustav Jung: Techniken für einen dem Weltfrieden dienlichen Einstellungswandel. Memorandum für die UNESCO. 1948.)

28. Januar 2012 10:27