Mirko Bonné

Willkommen, Julia

Wie sprechen wir miteinander? Und fernab der ausgewälzten Diskurse: Wie sprechen dein und mein Körper miteinander? Schnittstellen, sind das mehr als Verletzungen?
Wo lassen sich in der Geschichte der Philosophie und der Überlieferung der Poesie Antworten auf derlei Fragen finden?
Julia Trompeters Gedichte stellen sich ohne Scheu, oft mit großem Witz und Humor, immer aber nachdenklich, immer auch dem Alltags-Sprech verbunden und nicht selten melancholisch den Fragen, die die Überlieferung unbeantwortet ließ – aus gutem Grund?

Herzlich willkommen im Goldenen Fisch, liebe Julia!

12. Januar 2017 23:27










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (128)

12. Januar 2016, ein Dienstag

Der Nachklang von gestern hallt mir noch immer in der Kehle nach, klebt dort zäh, dunkel und dick wie Schleim nach misslungener Nacht.

Das Regensburger Tanztheaterstück auf der Basis von henro boke ist in der Presse berücksichtigt worden: als recht misslungene Aufführung. Mein Name wurde – das war zu erwarten und wirkt fast stimmig – mal wieder zu „Knoll“.

12. Januar 2017 12:12










Hendrik Rost

Security Briefing

„Die richtige Erklärung ist aber die, daß ein großer Teufel in ihm Platz genommen hat und die Unzahl der kleineren herbeikommt, um dem Großen zu dienen.“

Franz Kafka

11. Januar 2017 14:56










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (127)

11. Januar 2016, ein Montag

Als Kommissar meiner Träume zwinge ich mich zur Niederschrift: Mir träumte sehr deutlich, ich hätte meinem Neffen M. einen Liebesbrief geschrieben, und zwar schon vor zwei Wochen, und nun stünde ich im Vorwurf der Päderastie und Inzest-Absicht (plus Homosexualität), und ich sah nicht, wie ich mich dafür hätte rechtfertigen können. Ich sah mich also von eigener Hand in eine unausweichliche Schuld- und Schamsituation manövriert, und sicherlich auch dadurch stellte sich bald wieder Kopfschmerz ein, weil ein fürchterliches Denken begann, ob ich heil aus dieser Situation herauskommen könnte.

Lausche ich den Träumen nach, bin ich längst heillos verstrickt in schrecklichen Geflechten. Es ist klar, dass ich jetzt, annähernd 50 und im sogenannten ‚Zenit der Lebenskraft‘, in solchen Verstrickungen und Netzen, Spinne und Fliege zugleich, nichts anderes zu erwarten habe, als mich in Grund und Grab zu schämen. Was ist zu tun, wenn ich nicht dauerhaft die Zügel (und Konten) findigen Seelenheilern überlassen will? Ich empfinde dies als absolut kafkaesk.

Ich bewege mich im Spannungsfeld aus Herablassung, Gemeinheit und Verachtung, die in meinem Humor und Sozialverhalten aufblitzen und sich alsbald gegen mich kehren. Allein die Angst davor genügt, die Angst vor mir selbst. Mein Angst wird schwinden, wenn ich sie nicht verbreite. (Ist dies der Entzug nach all den Jahren als Kritiker, in denen ich mein Brot mit Bösartigkeit verdiente?) All diese Dinge sind lächerlich evident, seit vielen Jahren schon. Aber sie hören nicht auf.

Soeben sitze ich am Schreibtisch mit einem Knie-Wickel aus Schwedenkräuter-Essenz, nachdem gestern beim Training (und überdies beim sonst recht erfreulichen Wurf-Training beim Tenchi-Nage) meine Knie satt aufeinander prallten, dass nach schmerzhafter Nacht sofort Sorgen kamen betreffs der Anden-Wanderung im Sommer.

11. Januar 2017 12:48










Hans Thill

Siebzehn – Dix-Sept – Seventeen – Sedemnásť

Siebzehn
 
Sprünge im Kreis, um eine Tanne zu
pflanzen, eine Laterne. Du hast die Jahre
nur  geborgt, also nimm drei auf einmal.
Sonst kaue gründlich, was dir vor die
Füße fällt. Es zählt jeder Zahn. Spuck
aus die Schrauben, trink das Öl
bis in dein Ohr hinab, bis in die
Orangen
 
Dix-Sept
 
sauts, à planter un palmier, une lanterne.
Tu n´es pas propriétaire de tous les
années, prends trois en un. Mange bien
ce qui te tombe sur les pieds.
Chaque dent compte. Crache les crochets,
bois le gazoil dans la profondeur
de tes oreilles, zapzi jausiak
 
Seventeen

times ready to jump. To plant a
wet palm tree. You are not owner
of the years, take three for one.
Then chew well what lies beneath
your own two feet. Spit out the screws,
drink all the fuel deep in your ear,
uhuru uhuru
 
Ins Slowakische übersetzt von Mila Haugová:

Sedemnásť

Výskoky do kruhu tak sa sadí stromcek
ci poulicná lampa. Roky tie ti nepatria
ta si vezmi hned´tri naraz
A dôkladne pohryz všetko co
ti do lona spadne. Záleží na každom zube.
A vypl`uj každú šraubu a vypi svoj olej
až k vnútornému uchu
až celkom k pomarancom

10. Januar 2017 17:10










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (126)

10. Januar 2016, ein Sonntag

Eben aus Nachmittagsschlaf erwacht. Letzte Traumbestandteile: durch Gänge rennend, die an Umkleidekabinen in Turnhallen erinnern, nach draußen, wo Frau S. soeben in einem Bus verschwindet; erleichtert, sie noch zu erwischen. Obwohl ich sicher bin, dass sie mich bemerkt, bleibt sie drinnen, zischend schließen die Türen, und ich bemerke, dass der Bus komplett fensterlos ist. Demonstrativ verzweifelt legte ich mich ausgestreckt auf die Straße, gehe zurück zum Eingang der Halle, um mich zu duschen und anzuziehen (war ich denn ausgezogen??), aber die Eingangstür ist verschlossen. Schließlich öffnet sie sich, da Sportler (auch ein Leiter, der mich verwundert anblickt) herauskommen; ich schlüpfe hinein. Da kommt mir ein dicker, unsportlich wirkender Mann entgegen, der offenbar irgendein Hausrecht besitzt, mich freundlich aber distanziert anspricht (im Sinne, was ich denn dort wolle), worauf ich ausweiche und er auf den schönen Klang der Boxen zu sprechen kommt, aus denen klassische Musik erklingt.

Aufgewacht im beklommenen Traum-Nachgefühl, dass meine allgemeine Verlustangst nun auf Frau S. zuschlängelt. Die Diskrepanz zu meinen ersten Frau-S-Eindrücken könnte kaum größer sein. Was spielt sich biologisch im Hirn ab, wenn sich die Wahrnehmung ein Wesen zum Liebesobjekt verwandelt und metamorphosiert?

Und welche Rolle spielt dabei mein Familienbildungswunsch? Geradezu bestürme ich Frau S., doch bitte gern am Abendessen teilzunehmen, wenn am kommenden Wochenende meine Eltern nach Berlin kommen. Ich erteile ihr eine Lektion in Canasta, weil die Eltern doch so gern Karten spielen würden. Familiespielen – was ist denn da los?

Zugleich sehe ich das Liebevollwesen Frau S., das mit Blumen vor der Tür steht, überdies einen sehr schönen Busen vorweist und sexuell stets parat ist. Dabei bin ich derart konditioniert auf den Reiz der Widerstands-Überwindung, dass ich weiche, wenn man mir zufliegt – charakterlich widerwärtig.

Gestern haben wir beide Truffauts L’Amour en Fuite gesehen, der Abschluss der Doinel-Reihe – zumal ein ernüchternder Abschluss, nachdem schon Domicile Conjugal ein Stück Arbeit war. Nun noch ärger: nichts ist wirklich glaubhaft (Léaud ist schier desinteressiert an Doinel). Truffaut hatte völlig Recht, diesen Film nicht zu mögen. Er wirkt geradezu als Verrat am einstigen so genialen Projekt. Ich habe den Film wohl Ewigkeiten nicht gesehen, und ich schätze, es wird das letzte Mal gewesen sein.

10. Januar 2017 14:15










Christian Lorenz Müller

IM WEISSBAROCKEN GARTEN (SCHNEE IN HAIKU)

Die Kindertage
sind weiß und rund und haben
sehr rote Nasen.

Ein Kalligraph, tuscht
der Radler Unsicherheit
und Angst vor dem Sturz.

Der Brandungsdonner
des Räumfahrzeugs, die Gischt die
auf den Gehsteig fliegt.

Im weißbarocken
Garten fräst der Hausmeister
die Schneefontäne.

Und der Streuwagen
sät dunkle Kerne. Bald schon
sprießt schwarzer Asphalt.

An den Laternen
wachsen Eiszapfenzähne.
Sie blecken ins Licht.

9. Januar 2017 15:13










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (125)

8. Januar 2016, ein Freitag

Gestern Rückkehr aus Göttingen. Anreise vorgestern. Frau S. gastspielte mit dem Maskenstück Hotel Paradiso. Wir trafen uns zuvor in der Bäckerei Thiele am Rathausplatz zu Göttingen vis-à-vis dem Standesamt. Ich traf früh ein und überbrückte die Wartezeit mit Notizen, da ich im Notieren der Umwelt mich gut davor schützen kann, dass meine Umwelt von mir Notiz nimmt. Ich notierte:

Der gastliche Bäcker Thiele zu Göttingen herbergt Sanitär. Wer diesen Bereich aufsucht und die Türe hinter sich schließt, dem bleibt bei der Rückkehr die Gaststube verschlossen. Damen, eben noch erleichtert, klopfen bedrückt um Einlass. Doch auch glückliche Gäste des gastlichen Bäckers Thiele gibt es zuhauf. Sie genießen die matten Töne aus Vanille, Nuss und Traube unter Leuchten, die goldenen Austern gleichen. Sie saugen aus Strohhalmen, dick wie Rüssel. Glückliche Gäste blicken auf Fotografien mit glücklichen Gästen in sepia und sind also gemütlich und im Gemüt verbunden ans strahlende Göttingen von ehedem, als Göttingen noch siebenfach schöner strahlte in wissbegierigem Fachwerk, das heute etwas weich und morsch geworden und begrenzt ist durch Gemäuer des Funktionalgewerbes. Auch Pflanzliches spendet Leben den Gästen des gastlichen Bäckers Thiele. Blüten, jeweils rot und weiß, stecken paarweise in gehäckseltem Kork, traulich verbunden durch Wickelringe aus Tesafilm. Auch kleines Baumwerk mit Blattbestand verscheucht Verdacht auf lebloses Gewerbe. Wählerisch war der gastliche Bäcker Thiele bei der Wahl des Innenausstatters. Eben verschwand erneut eine Dame diskret im sanitären Bereich, verschaffte sich aber schwungvoll Einlass. So verschlossen wie erhofft scheint die Tür doch nicht zu sein.

An dieser Stelle betrat Frau S. die Bäckerei. Abends die Theater-Aufführung: fein gewebtes Gespinst, herzwärmend lieblich. Und ei was!: An der Garderobe stehen vor mir drei Männer gesetzteren Alters, die allesamt kleiner sind als ich. Göttingen ist nicht so hässlich wie Kiel und nicht so hübsch wie Tübingen, Göttingen, Stadt von Gauss und Lichtenberg, du warst, für einen Tag, meine Stadt.

8. Januar 2017 13:42










Hendrik Rost

Rites de Passage

Wir werfen Heringe auf die Terrasse
und hoffen, Albatrosse werden sie holen.
Bitterkalt ist es heute, wir fahren

zum Einkaufszentrum, lassen kurz
das Kind im Wagen, es will weiter Fleurs
hören. Zurück auf dem Parkplatz, da steht

eine Traube Menschen am Auto, Polizei –
sie holen einen erfrorenen Hund
aus dem Wagen neben unserem.

Das Kind wedelt mit den Armen,
imitiert die gigantischen Antarktissegler.
Sprache nutzen wir fast nur, um

über Verständigung zu spotten, Blubb,
oder Meinungen, vermischt mit Fakten,
als Grimasse aufzusetzen: Demütigung

und Verschleiß. Wir müssen Furchtbares
aushalten, austeilen, um den Alltag zu genießen.
Seit dem Ende der Sterndeuterei

wird unsere Liebe von Matrosen bedroht.
Wir sind träge, ein gemaltes Schiff
auf einem gemalten Meer. Der Wind

bläst gut und weiß schäumt die Flut.

(neue Version)

6. Januar 2017 15:29










Mirko Bonné

Reise der drei Waisen

this was all folly
T. S. Eliot

Waisen nannten sich die Drei, die mich mitnahmen.
„Hereinspaziert bei den Waisen vom Gutenmorgenland!“
Sie führten sich auf wie gerade noch davongekommen.

Die Wege waren aufgeweicht, „soft hands, das Wetter“,
meinte das Mädchen, das der Alte bloß Bunny nannte.

Sein Kollege saß vorn, im Mantel eines Katalanen,
dessen Leichnam jetzt in einer Benzinlache liege,
irgendwo in einer Kranwagenhalle. Der Stoff stank,
besonders nachts, wenn sie die Heizung aufdrehten.

Sie waren Blender, und ihnen gehörte nichts außer
dem Zeug, das sie am Körper trugen, und dem, was
sie grölten und ihnen kurz ihre Langeweile vertrieb.

„An was sich erinnern?“, fragte der Alte mal. „Alles
ist ein Film. Rückwärts läuft nichts.“ Nein, besser,
in einem kaputten Mitsubishi auf Schleichwegen
und hinein in Ortschaften fahren, wo der Trübsinn
an einem fraß wie Ruß am schmelzenden Schnee.

Bunny kreischte was, das aber niemand verstand.
Sie sprang raus und steckte vor einer Videothek
den Papp-Bond in Brand. Von dem Grünstreifen
zwischen zwei Parkbuchten flogen Spatzen auf,
als sie da tanzte, während ich fassungslos zusah.

Der Alte stieß die Fahrertür auf, sprang raus und
trat den brennenden Agenten wortlos zusammen.

Ich fing an zu brüllen wie sie, aber dozierte dabei
noch immer von „Passage zurück in die Geburt“,
schon lachte mich der ganze Klub still. Wir fuhren
durch leergefegte Nester in die Berge hinauf, feucht,
duftend nach Grün, knapp unterhalb der Schneegrenze.

Auf der Suche nach einer Tanke mischten die Drei jaulend
die Käffer auf, die den Katzen gehörten. Wir beschlossen
– oberste Regel: Sonnenbaden ist für Untote tabu! –,
tagsüber zu schlafen, in der Nähe von Wasser, und,
süß singende Stimmen im Ohr, nur nachts zu fahren.

„Ihre Haut ist so blass wie Gottes einzige Taube, Liebe,
wie eine schreiende Blume, Liebe, die stirbt jede Stunde.“

Sie sangen. Doch was sie sagten, hatte keine Bedeutung,
ihr Ziel war vielleicht eine Huldigung, möglich, aber kaum
die des göttlichen Kindes, eher die der Leere in ihnen.
War der Tank voll, „wie der Mond“, dann ging es weiter.

Kurz nach dem Festfressen der Kolben, kurz nachdem wir
den Hafen erreichten und im Schatten, den ein Frachter
durch das Nachmittagslicht auf die Mole warf, hielten,
fiel dem Alten hinterm Lenkrad plötzlich das Haus ein.

Für das Mädchen und Mantelmann war die Reise aus,
als sie Betten witterten. Das Land, endlich in Reichweite.

Ein Klepper leckte den Regen vom Zaun. Ich sah Vögel
auf kahlen Bäumen den Harsch von der Rinde hacken.

Als hätten wir die Wahl, schnitten wir uns Teller zurecht
und hörten wieder zu reden auf. Im Tausch mit den Bauern
gingen Schals weg, eine Posaune, und der Alte holte Lexika,
Tassen und Fotoalben aus dem Kofferraum, während Bunny
im Schneeanzug am Mittag am Campingtisch Pasta kochte.

Sie kam in mein Bett und sagte, sie mache alles, freiwillig,
wenn sie dafür meine Jacke bekäme. Ich gab sie ihr so,
und sie rannte runter, und ich hörte den Anlasser heulen.

Als ich wieder aufwachte, war es still. Das Licht stand
im Klappfenster. Im Garten des Nachbarhofs wuchsen
Blumen, die aussahen, als fotografierten sie das Gras.

Geborenwerden und Sterben sind manchmal dasselbe.
Ich wünschte mich nicht länger zurück. Ich lebte wieder.
Leben war mehr als Warten. Und so vergaß ich das Kind,
vergaß die drei Waisen und zuletzt das Gutenmorgenland.

6. Januar 2017 00:17