Thorsten Krämer
Der Moment, wenn du im Supermarkt an der Kasse stehst
und jemand entfreundet dich, vielleicht ein alter Kollege,
den du zuletzt vor fünf Jahren gesehen hast, oder
ein Schulfreund, der deine Anfrage ohnehin
nur aus Höflichkeit angenommen hatte, und du
bemerkst es nicht, wie könntest du auch, nur später
fehlt da jemand und dir fällt beim besten Willen nicht ein,
wer es sein könnte.
19. Dezember 2016 07:44
Konstantin Ames
Falschgedichte lesen Tagebucheinträge.
Ein bisschen Selbstreferentielles hier, Franzi,
und da bisschen angebrannte Bio-Biographie.
Falschgedichte gleichen Bisschen von Nagern.
Gedichtfälscher wurden nie von Haien vervolkt. Sie leben
in Ihrer Nachbarschaft; tragen Achtzigerjahrenamen.
Haben keinen Schimmer von der Überlegenheit österreichischen
Humors und glauben allen Ernstes an ihr Bier, weil sie belgisches
nicht kennen. Starkwurm! Erzgemüse! Ich kenne keine Enten mehr,

…
Ist 2016 eine Stadt? Wird 2017 ein Land sein; nur noch Landschaft?
Die nie aggressiv waren, nennen mich aggressiv. Meine O-o-gen
weit aufgerissen. Meine Franziska, Bürgerkinder, schon im Hirn
bedrängten Engels. «Loss dai voll’ Books runner!» … nur noch Kelten!
Saartieren
18. Dezember 2016 14:28
Gerald Koll
18. Dezember 2015, ein Freitag
Gestern erste Anzeichen von Missmut im Beisammensein mit Frau S., und zwar anlässlich unserer gemeinsamen Lektüre von Ovids Metamorphosen. Frau S. kennt sich – sie besuchte ein humanistisches Gymnasium – gut in den Mythologien aus und kehrte das – für mich wohl einen Hauch zu stark – heraus, während ich mich davon – einen Hauch zu stark – beleidigt fühlte. Eine beiderseits verspürte Missstimmung, beidseits von Harmoniesucht getrieben, beide vermutlich Verwundete, die vor Wunden Angst haben.
Hautarzttermin: keine medizinischen Auffälligkeiten. Kosmetisch wäre eine Abtragung herausstakender Leberflecken möglich; aber das kostet 150,- EUR, die keine Krankenkasse übernimmt.
Zufällig habe ich mich nach Jahren einmal wieder an Hegel versucht, an der Phänomenologie des Geistes und dem Kapitel Herr und Knecht. Um zu probieren, ob ich jetzt lesen könne, was ich nie richtig las aber immer gern unter Gelesenem verbucht hätte. Aber wie mich das anstrengt, ihm zu folgen beim Denken über Seyn und Bewusstseyn und Seyn im Anderen, allein die vielen Ypsilons! Ich entschließe mich zum Verständnis, dass man sich selbst im Dialog mit dem Anderen reflektiert, wobei zu bedenken ist, dass dieses Verfahren für beide gilt und diese Selbst-Begegnung also in einem vielfach verwinkelten Spiegelkabinett stattfindet. Aber Hegel meint das offenkundig weit komplexer, und ich begreife, dass ich mein Lebtag zu dusselig für höhere Philosophie bin.
18. Dezember 2016 12:46
Karin Fellner
/
Kabel und Soldaten laufen über und durch, ah trapptrapp, gut gelaunt
am Strand von Anno Du, indes Madame das Futur mit ihrem Absatz einklopft:
„Du wirst das Spiel nicht ändern, wenn du das Spiel ändern willst.“
/
Am Stand von Madame Fu klopfen Spieler die launigen Nichtspieler ab
nach Kabalen, die jüngst zu Hunderten aufflogen. Du rappelst:
„Hey, nimm deine Daten aus meinem Bodensatz!“
/
„Du wirst gelebt worden sein“: Schon zieht Madame diesen Satz
aus ihrem Dutt. Für dich! Ein Nichtspieler überreicht dir
den Millenniumspatzen. Plus zwei Nusshälften für ein schlachtenfrohes Futur.
17. Dezember 2016 20:44
Mirko Bonné
Zwischen den Plattenbauten von Nettelnburg
umhergaloppieren, und weiter durch den Frost
des frühen Morgens am S-Bahndamm entlang.
Die klirrende Luft. Ich könnte nachsehen, wann
ein Bus zur Schule abfährt, aber zockele lieber
vorbei am Billwerder Billdeich. Dort steht blass,
rot im Dunst, der Giebel eines Vierländer Hofs,
wo vor vierzig Jahren ein Schulfreund wohnte.
Wo bist du, Hakan Akalin! Kahle Äste; Elstern;
grauer Laubschlamm in Grünanlagen. Sander
Tannen — so hieß die Schule meiner Freundin
in der Zeit, als ich mir tags den Kopf zerbrach
über Schreiben, Musik, mich. Tender sun. Adri.
Am Telefon eine mir unbekannte Welt, hoffe ich
Dich zu finden, heißt es bei Sun Kil Moon. Früh
am Abend kachelte ich dann mit der Guilietta
zu Alten in Boberg und Lohbrügge. Eine Blinde
sah immer noch vor sich, wie hell es 1921 war,
und in einer Mansarde lebte eine, die hatte ich
lieb, die konnte nur liegen und rief mich: „Pony!“
Ich rede an der Schule, die längst anders heißt,
mit Schülern, jünger als mein Sohn, über Trakl,
Trakls Schwester, Tabus. Und ich trabe zurück,
durchs Laub, zum Bahnhof. Die Elstern lachen;
und der Nachmittag, so war er immer, ist grau.
Für Mark Kozelek
*
17. Dezember 2016 00:19
Gerald Koll
16. Dezember 2015, ein Mittwoch
Geschäftsbriefe an KSK, TK und Alte Oldenburger, um den status quo zu retten. Ich höre es über und unter mir, das Knirschen der Steine der Zeitzermalmungsmühle.
16. Dezember 2016 14:20
Gerald Koll
15. Dezember 2015, ein Dienstag
Man muss, kann und darf es wohl sagen: Frau S. und ich sind ein Paar. Geworden. Zu meiner Überraschung. Ein wenig wohl auch zu meiner Sorge. Aber wollen sehen. Ich würde sie gern mit dem Namen Knuff Bollerkopp kosen, aber Frau S. hat sich das streng verbeten.
Die Scheiß-Versicherungsgeschichte will nicht enden. Wahrscheinlich muss ich in den Rückzugskampf und versuchen, zu den alten Konditionen in die Private zurückzukehren. Obwohl ich keine Anwartschafts-Versicherung abgeschlossen habe. Zeit für einen Bettelbrief – peinlich, das Ganze.
Gestern habe ich mich beim Aikido so sehr verausgabt, als gäbe es eine Belohnung dafür. Nein, Aikido ist keine Kompensation für das übrige Dasein. Das übrige Dasein kompensiert Aikido.
15. Dezember 2016 13:59
Christian Lorenz Müller
Vier Jahre lang
war ein Leben immerhin
eine Handgranate wert,
eine Fassbombe oder zumindest
ein paar Kugeln, nun kostet es
nicht mehr als den Griff
nach einem Brocken Beton,
nach einer Baustahlstange.
Ein preisgegebenes Versteck
verringert die Summe der Schläge
mit dem Elektrokabel.
Drei verheimlichte Namen
haben den Gegenwert
von drei ausgerissenen Fingernägeln.
Wer nach Gerechtigkeit verlangt
bezahlt mit seiner Zunge.
Dann ist Schweigen, ist Stille
auf dem Basar.
15. Dezember 2016 12:05
Gerald Koll
14. Dezember 2015, ein Montag
Die Sache mit der Krankenversicherung sieht nicht gut aus. Es zeichnet sich ab, dass ein Fluch über meiner 1996 getroffenen Entscheidung liegt, mich von der Versicherungspflicht befreien zu lassen. Das rächt sich jahraus, jahrein, es wird sich ewig rächen. Entsprechend übel war mein Schlaf und waren die Träume. J., der wildeste Aikidoka unseres Dojos, tauchte darin auf als unbarmherziger Verfolger, vor dem wir – oder nur ich? – flüchteten, einen Turm hinauf, voller Angst, er würde uns – mich? – finden und molchen. Weitere Träume mit Verfolgern: Tiere, seltsam gefräßige Biber, die zuschnappten.
Mit Zaudern trat ich heute morgen ins Café, ahnend, jener Dame mit blauem Turban zu begegnen, deren Kontaktlust mein Lektürebedürfnis vereiteln würde. Sie war tatsächlich da, ich fügte mich und duze sie seit heute. 1980 zog sie von Hamburg nach Berlin und bewohnt seit 16 Jahren in Weissensee ein Künstler-Atelier, das der Senat bezuschusst. Sie arbeitet bevorzugt mit Fahrradschläuchen und gebrauchter Seife. Die Fahrradschläuche werden mittels Kabelbindern zu Figuren geformt und bilden an den Wänden dreidimensionale Zeichnungen.
14. Dezember 2016 17:43
Christian Lorenz Müller
Am Ende bleibt jedes Gedicht
für sich allein.
Vor dieser Erkenntnis
steht seine Sehnsucht
nach einer Seitenzahl,
die Sehnsucht nach einer Bindung
an achtzig, neunzig Andere.
Die Sehnsucht, einmal Augen
auf sich zu spüren, einen Blick
der nicht nur kurz verweilt.
Nicht wenige Gedichte
senken dann die Lider,
verziehen das Gesicht
oder schauen böse drein,
und doch verzehren sie sich
nach diesem Blick, verzehren sich
und ahnen schon den Spott voraus
und die Häme, oder, schlimmer noch,
das Schulterzucken oder laues Lob
oder hündische Loyalität
und peinliche Bewunderung.
Ja, ein Gedicht bleibt am Ende
immer für sich allein.
Es vereinsamt zwischen den Seiten
oder es dehydriert
in einem elektronischen Archiv
zu ein paar Kilobytes.
So wie dieses hier.
13. Dezember 2016 11:51