Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (93)

10. November 2015, ein Dienstag

Ich sah aus dem Fenster. Da gingen etwa eine Handvoll Polizisten in englischen Uniformen und Helmen. Sie hatte die Stöcke gezogen. Nun sah ich auch ihren Bestimmungsort: ein Pub. Er hatte trotz Sperrstunde noch geöffnet. Davor stand ein massiver Rover, dessen Windschutzscheibe die Polizisten nun einschlugen, dann auch die Scheinwerfer und Rückspiegel. Sofort rannten die Gäste des Pubs auf die Straße und lieferten sich ein Handgemenge, bei dem die Polizisten sich mit ihren Stöcken wehrten, aber in die Defensive gerieten und ihre Stöcke schließlich nach den Angreifern warfen; allerdings liefen sie den Stöcken hinterdrein, um sie nicht ganz zu verlieren, gerieten aber dadurch noch mehr in Gefahr.
Einer der Polizisten fiel mir besonders auf. Er hatte seinen Helm verloren, trug kurzes blondes Haar und wirkte schwerfällig. Zudem krümmte er sich immer wieder und hielt eine Hand vor den Mund, als müsse er erbrechen. Gegen die Meute konnte er wenig ausrichten, aber auch seine Gegner waren nicht mehr gut auf den Beinen. Sie torkelten vorüber, während der Polizist einige von ihnen verfolgte, aber eben immer wieder unter Brechreiz leidend. Er wird sich, dachte ich, seinen Alltag in der englischen Provinz idyllischer vorgestellt haben.

So viel zu dem Geträume heute morgen. Jetzt ist es 9:20 Uhr. Heute morgen las ich „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – Band 4“, aber die Lektüre fiel mir schwer.

10. November 2016 11:59










Konstantin Ames

es gibt keine Postpoesie, gab’s nie; gibt’ eigen Fleisch, Messer
im Qualitätsradio «Singnale», das «Progrom»
vor achtundsiebzig Jahren.
I’m Jahr. 1931 (nach Nero) wär das nicht passiert, klar
ihr hättet ihm das Toupet vom Kopf gekifft
und sagt uns jetzt: wir habm’s euch ja gesagt
sagt mir, warum er eine Faust macht, der andern

Schaufeln in die Hände drückt der Satz A millionaire’s hairstyle
is trapped in the era that they first made their money.

Durch die Innenhöfe donnern heute Knallfroschknalle vermehrt

(Die Schwanzlosigkeit von Donald Duck« 09.11.2016a)

9. November 2016 16:19










Hendrik Rost

Tweet

Der Polit-Pirol zieht ein in die Hauptstadt
der Abenddämmerung, alles ist wieder aus
für immer. Er zwitschert auf dem Schwert
des Washington Monuments, in den Ort
gerammt wie die Nadel eines Sammlers
in ein seltenes Exemplar, halb verheert
von den Rassenriots der 60er. Der Himmel
überm Kapitol ist immer wolkenlos klar,
ein Hologramm von infinitem Format.
Auf der National Mall stehen greise Vietnam-
veteranen, beten: MIA – Prisoner of War.
Bleibst du etwas zu lange stehen und schaust,
huscht ein Cop an und fragt, was du willst.
Schütze deinen Trotz, wäg ab, was du singst.

9. November 2016 09:26










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (92)

8. November 2015, ein Sonntag

Gestern Abend bei Frau S. in die Katzbachstraße: ein Dinner! Die Arme hatte sich allerdings einen Virus eingefangen und daran wellenweise zu leiden. Zunächst tausenderlei Gespräche über Beziehungen und Amouren, sozusagen ein gemeinsames Kreisen um unseren heißen Brei. Ich stellte mich in ein seltsames Licht: offen, bekennend bis zur törichten Selbstanklage; dann wieder verhehlend.
Schwierig genug, mich in meinem sozialen Paarverhalten verbindlich einzuordnen. Noch schwieriger in dieser Paarwerdungskonstellation. Die Zeitebenen schieben sich ineinander. Wovon ich in der Vergangenheit spreche, wird zur Zukunftsoption. Unmöglich auch, von Absichten guter und unguter Art abzusehen und die Dinge selbst zu Wort kommen zu lassen.
Zu späterer Stunde überfiel Frau S. schwallartiges Erbrechen. Mein Mitleid war sofort sabotiert von der Sorge, ob der Virus übergesprungen sei. Stak da im Topf noch der Löffel, mit dem sie abgeschmeckt hat? Heute in Lauerstellung. Zupfen im Magen sofort als Symptom verdächtigt – hat’s mich erwischt?

8. November 2016 13:16










Andreas Louis Seyerlein

~

MELDUNG. Erfolg­reich aus 33000 Fuß Höhe über dem pazi­fi­schen Oze­an kurz vor Mon­te­rey abge­wor­fen: Bono­bo­da­me Judy, 8 Jah­re, ers­te Über­le­ben­de der Test­se­rie Tef­lon-F87 {Haut­we­sen}. Man ist, der Schre­cken, noch voll­stän­dig ohne Bewusst­sein. – stop

> particles

8. November 2016 13:09










Hendrik Rost

Kaltes Amen

Die Sowjetunion gab es noch damals und die Sorgen der weißen Mittelschicht in der Hauptstadt, soweit ich für ein Jahr eingeladen war, sie zu teilen, kreisten um die Frage, wer in dieser Woche wann zum Psychiater geht. Jeder für sich. Mein Vorschlag, einmal miteinander zu reden oder gemeinsam zu demselben Therapeuten zu gehen, fiel auf vollkommenes Unverständnis, nein, wurde eher als ein Angriff auf die Hoheitsgewalt des Einzelnen über seinen Kummer (den immer andere verursachen) angesehen.

Jeden Abend gab es Salat, der einzeln in kleinen Schüsselchen für jeden vorbereitet wurde. Meine Gastmutter entdeckte an einer ihrer Tomaten während des Essens dann einen Stielansatz, den ich in meiner ganzen Unbekümmertheit beim Zubereiten übersehen hatte – ihr Gesicht entgleiste. Als ihr Mann versuchte, sie zu beschwichtigen, warf sie die Tomate quer über den Tisch in seine Richtung. Sie klatschte an die Wand, und wir Kinder aßen still, wie betend vorübergebeugt weiter, während die Eltern sich enthemmt anbrüllten. Auch an diesem Tag beendeten wir das Abendessen mit wild schlagendem Herz, dröhnenden Ohren und der Gewissheit, dass wir uns von Gewalt ernähren.

An Thanksgiving kamen Verwandte vom Land. Virginia war ein anderer Planet, südlich der Hauptstadt. Der Mann trug ein Truckercap und Dickies Arbeitshosen. Er sagte Sätze wie: He don’t care, und brachte Steaks von selbst erlegtem Wild als Gastgeschenk. In der Mitte des Tisches thronte ein Truthahn, groß wie ein dreijähriges Kind, und wartete geduldig darauf, dass wir unser Gebet, das einzige des gesamten Jahres, zu Ende gesprochen hatten, um ihn zu zerlegen.

Mein Gastvater präsentierte mich, den deutschen Gast, irgendwie als Beleg seiner heldenhaften Vergangenheit in der Armee. Er hatte sein Dienst während des Koreakriegs mit einer Blinddarmentzündung in einem Heidelberger Militärhospital verbracht. Den Schneid hatte er sich äußerlich bewahrt und wenn er abends zunehmend betrunken seinen immer gleichen Crooner-Songs lauschte, glich er dem Reagan aus Der Tod eines Killers. Und so wie Reagan diese Rolle später bereute, so würde dieser Mann, der schon zwei Familien zerstört hatte, morgen für wieder vom ersten Moment an versuchen, jeden von uns so lange zu erniedrigen, bis er gestärkt für einen Tag im Büro das Haus verlassen konnte.

Der Mann aus Virginia sprach mit später beim Digestif, Bier, an: Er komme eigentlich nur in die Hauptstadt, wenn es sich nicht vermeiden ließe. Zum Essen etwa, als wäre dies ein Ersatz für einen Jagdausflug. „Junge“, sagte er, „das ist nicht Amerika hier.“ Und fügte hinzu: „Die Leute leben in ihrer eigenen Welt: fancy houses, fancy problems.“

Meine Gasteltern sprachen dann doch noch mit einem Therapeuten: Sie brüllten von verschiedenen Stockwerken per Konferenz in die Hörer und baten den zugeschalteten Shrink, dem jeweils anderen auszurichten, wie nasty, also gemein er wäre.

Ich blieb in diesem Haus zu Gast, statt auszubrechen, vielleicht nach Virginia oder Amerika, weil ich den anderen Kindern nicht zeigen wollte, dass man hier nicht leben kann. In so einem kapitalen Luxusproblem.

7. November 2016 12:00










Christian Lorenz Müller

WENN DIE SCHATTEN

Wo die Straße endet
rupfen Schafe die Schatten.
Unzählige Nächte
haben das Holz der Höfe
schwarz gewittert.
In der öligen Dämmernis
eines Schuppens stehen Traktoren,
das dunkle Rund eines Reifens,
und dann geht ganz in der Nähe
eine Kreissäge auf,
ihr kaltes Grellen
blendet das Ohr.
Tausende von Umdrehungen
pro Minute und der Bauer,
der, ungeschnittenes Holz in Händen,
unablässig um sie kreist.

Noch immer existieren
die Gravitationskräfte der Kindheit,
immer wieder dieses Verharren
im Herbst, wenn die Wege enden,
wenn die Schatten vor die Mäuler
der Schafe fallen.

6. November 2016 11:47










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (91)

6. November 2015, ein Freitag

Gestern Abend vertrat ich im Aikido T.B. als Lehrer, die Stunde war alles andere als ein Glanzstück. Ich ging zu schnell durch suwari waza und shomen uchi, führte einige Techniken präzise aus und ließ sie nicht lang genug studieren.

Heute wieder als Schüler auf der Matte. Völlige Erschöpfung während der ersten Stunde. Geradenach übel wurde mir, als ich mich Ja sagen hörte, meine Reflexantwort auf senseis Frage, ob ich zur zweiten Stunde bliebe. Das hieß: zwischen der ersten und zweiten Trainingseinheit zunächst eine halbe Stunde meditieren, in einem klatschnassen, auskühlenden Anzug. Die zweite Stunde wurde recht gemächlich, aber ich bekam Krämpfe.

6. November 2016 09:45










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (90)

5. November 2015, ein Donnerstag

Wie sehr ich sie doch mag, diese neue Wohnung mit ihren Seltsamkeiten. Im Bad ein Waschbeckchen, das eigentlich zu einer Puppenstube gehört; hingegen ein Balkon von kapitalen Maßen. Dazu eine perfekte Aussicht vom Schreibtisch: direkt durch zwei eingelassene Türfenster in die wohnliche Küche mit Truffaut in Goldrahmen.

Neu und anders als im Prenzlauer Berg, nämlich ungewöhnlich berlinerisch, lebt es sich in Weissensee am Weissensee. Man trifft hier zum Beispiel auf die unfreundlichsten Fleischfachverkäuferinnen der Welt. Sie haben Format. Was Fleischnichtesser da versäumen! Gleich daneben lokalisieren „Woolworth“, „Ein-Euro-Shop“ und „McGeiz“. Kürzlich erstand ich dort einen Eiskratzer mit vorzüglich gummiertem Griff für 10 Cent. Hingegen rar sind Hutgeschäfte.

Weissensee ist nicht ganz ungefährlich. In der Mitte der hauptsträßlichen Berliner Allee verläuft der Schienenstrang der Tram. Wer glaubt, schnell die Straßenseite wechseln und auf die Ampel verzichten zu können, unterschätzt, wie rege, rasant und rabiat Autos und Schienenfahrzeuge verkehren und wie eng der  Zwischenraum zwischen Straße und Schiene ist. Schnell ist man eingekeilt zwischen Tram und Laster. Dann wird’s eng, gebremst wird nicht. Weissenseer mit Lebenswille verzichten daher oft ein Leben lang auf das Wechseln der Straßenseite. Man lebt hüben oder drüben. Der Bau der Schiene hat manche Familie zerrissen. Manchmal winkt man einander zu. Man tauscht Grüße. Es gibt ja auch Briefverkehr. Die Wirtschaft hat sich entsprechend eingerichtet. Geschäfte ähnlichen Sortiments sind spiegelbildlich angeordnet: zwei Apotheken, zwei Nagelstudios, zwei Friseure. Sogar Polstermöbelläden sind doppelt vorhanden. Zunächst hielt ich es für Konkurrenzdenken, doch die Duplizität entspringt stadtplanerischer Vor- und Umsicht. Indes scheint es nicht immer geholfen zu haben, manche Weissenseer scheinen die Teilung noch immer nicht begreifen zu können oder zu wollen. Konjunktur haben Bestattungsinstitute. Seit 1887 floriert das Bestattungsinstitut Kadach, und gleich nebenan – nein, nicht gegenüber, sondern auf dergleichen Straßenseite – wirbt Konkurrenz mit farbenfrohen Schaufenstern.

5. November 2016 09:35










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (89)

4. November 2015, ein Mittwoch

Direkt nach dem Training: ein Abend mit Frau S., der kessen und cleveren Frau S., in die ich mich recht gern verlieben würde. Ich bin nur zu sehr in den Kitty-Körper vernarrt, als dass ich mich ohne weiteres umstellen mag auf den S-Körper, der völlig anders ist. Ein Graus ist das. Frau S. macht wenig Hehl aus ihrer Neigung. Im Gegenzug lasse ich’s mir gefallen und kann doch nicht recht einschwenken. Dabei könnte alles so nett sein: Frau S. holt fix vom Asiaten allerlei Lukullisches, es ist Sekt im Haus, die Kerzen brennen, und Frau S. hat Lust auf meine geliebte Serie Extras, sieht Folge für Folge, neun Folgen lang bis weit, sehr weit nach Mitternacht. Geht es denn paradiesischer? Es wird so spät, dass Frau S. glaubhaft macht, bei mir übernachten zu müssen – die Kulturtasche hat sie bereits mitgebracht. Ich richte das Sofa her und denke: flexibel ist sie und immer wieder imposant souverän.

Obwohl: Sie beendet Sätze erschreckend oft mit dem ins Ungefähre zielenden „also“. Als müsse man sich Ungesagtes – ja: Weiterführendes – noch dazudenken. Und überhaupt: Nicht auszudenken, bei der nächsten Gelegenheit die Zügel schießen zu lassen. Dass da bloß nichts Schlimmes geschieht.

Heute morgen: doch recht müde. Mein privates Familienalbum ergänzt um die Jahrgänge 1990 bis 2000. Bilder von abgeliebten Lieben. Melancholie auch angesichts eigener Alterungsspuren, die in den letzten Jahren besonders deutlich sind – totale Ergrauung, Aushärtung des Gesichts, Verlust alles Weichen und Vollen, nicht zu vergessen die rapide zunehmende Abhängigkeit von der Sehhilfe, die mich inzwischen, ohne dass ich es zugegeben hätte, zum Brillenträger gemacht hat, obwohl ich mich seit jeher als Nicht-Brillenträger verstehe – so wie jemand, der sich den Titel des Rauchers verbittet, obwohl er täglich raucht. Es setzt schon verstärkt 2007 ein, ungefähr mit Berlin, dieser Stadt des sichtbaren Siechtums.

4. November 2016 13:53