Sylvia Geist

„(…) durch den Wald wie durch einen Tunnel. Die Landschaft verbirgt sich hinter der Landschaft. Unter den Wolken scheinen die Berge schwarz und kahl. Nur wo man den Tunnel verlässt und der Baumvorhang längs des Highway aufreißt, sieht man für ein paar Sekunden, dass es der Wald selbst ist, der steinern wirkt durch den dichten Bestand. Steinerner Wald: So hart muss hier ein Aufstieg sein.
(…)
Das Weiße Wasser versteht sich mit dem steinernen Wald.
Weiß ist das Wasser, das sich in lauten Schnellen ergießt, weiß wie der Schnee, der noch liegt, wie auch der verschwundene Schnee, der den Bergwald verwüstet zurücklässt, weil der Boden vom Schmelzwasser weggewaschen wird, jener Schnee, der, ist er erst vollständig zur Vergangenheit übergelaufen, den Wald zu einem steinernen gemacht haben wird, zu einem Stellvertreterwald aus denselben Felsen, auf denen der frühere wuchs.“
20. November 2014 10:54
Gerald Koll

kennt ihr das wettergeschehen am berge, wenn ihr vom biwaklager aufschaut in die schroffen steine, in die ihr hinein sollt am nächsten morgen? und auf schaut ihr und seht die wolken sich stülpen über die gipfel und einsinken ins tal. nur scheinen sie zu zögern und sich auf die drohgebärde zu verlegen. sie sinken und heben sich, sinken wieder, steigen wieder. zu langsam, als dass sie wippen würden. zu schnell, als dass man nicht gebannt hinüber blicken würde in die wesen, die uns morgen früh verschlingen werden.
13. November 2014 14:04
Gerald Koll
„ja, und da drüben …“, erinnert sich der mann an der berliner mauer, und die anderen erinnern sich auch.
sätze, die jeder kennt, die gleichen sätze, die gleichen erinnerungen wie vor fünf jahren. alle fünf jahre fallen an der mauer die gleichen sätze. nur die, die die sätze sprechen, sind wieder fünf jahre älter geworden. daher wirken die sätze etwas gealtert. wer diesen sätzen zuhört, wird sich daran erinnern, wie er vor fünf jahren dieselben sätze gehört hat. und weil sich für den erinnernden im augenblick der vergegenwärtigung der zeitabstand zu einem nichts verkürzt, gewinnt er den trügerischen eindruck, dass alles um ihn herum älter wird außer er selbst. anders stand er ja auch vor fünf jahren nicht zwischen den anderen erinnernden. er war damals ebenso enttäuscht über das ausbleiben der festlaune, auf die er sich doch so sehr gefreut hatte, als er sich unter die feierlich gestimmten fremden mischte. aber wieder nichts. hätte es wenigstens eine überraschung gegeben. wäre wenigstens herr wowereit, als er den hebel am fuß seines lichtballons umlegte, mit erwartungsfroh in den nacken gelegtem kopf selbst in die luft aufgestiegen.
12. November 2014 18:48
Markus Stegmann
Im Nabelgebiet der Nacht
lösen Wangen das Haar
mäandern Mirabellen
deiner Mundschnur längs
11. November 2014 23:04
Mathias Jeschke
Ich liebe es, im November spazieren zu gehen, denn
es ist zur Abendbrotzeit schon dunkel und man kann
an den Fenstern der Leute vorübergehen und sie beim
Kochen und Essen beobachten. Wenn du Glück hast,
kannst du sogar sehen, wie der Mann von der Arbeit
kommt und die Kinder von ihren Nachmittagsterminen.
Du kannst den Ausdruck auf ihren Gesichtern sehen, wenn
sie einander begegnen, nachdem sie sich den ganzen Tag
bei der Arbeit oder in der Schule abgemüht haben. Jetzt
zum Beispiel gehe ich gerade an dem neuen Mobilheim
in meiner Nachbarschaft vorbei, wo sich jemand
allein die Nachrichten im Fernsehen anguckt. Familie
ist keine zu sehen, aber er hat ein Bier in der Hand und
eine Zigarette und er macht einen glücklichen Eindruck.
Ich trete dicht an das Fenster heran und blicke hinein.
Im Fernsehen reißen sie gerade die Berliner Mauer nieder.
Einige sind hinaufgeklettert und beginnen zu tanzen,
andere hacken mit ihren Taschenmessern herum, hacken,
bis sie ein größeres Stück Beton herausgebrochen haben,
manche von ihnen nehmen das Bruchstück mit.
Ich selbst habe ein Schweizer Messer, es hat
einen Kreuzschlitz-Schraubenzieher, und weil ich
an der Weltgeschichte teilhaben will, beginne ich
die Aluminiumplatten vom Haus des Mannes abzuschrauben.
Ich bin überrascht, wie einfach das geht: Jede Platte
eröffnet einen weiteren Abschnitt seines Wohnzimmers,
bald schon habe ich ein ordentliches Stück Wand
von einer Wohnwagenecke bis zum Fenster demontiert,
dadurch fährt ein Wind in sein Haus, so dass
der Mann seinen Kragen enger um den Nacken zieht.
Der Staatsratsvorsitzende der DDR,
Egon Krenz, spricht im Fernsehen zu seinem Volk.
Er benutzt das Wort Freiheit, es läuft
auf Deutsch und auf Englisch über den Bildschirm.
Und nun bricht er selbst ein kleines Stück aus der
Mauer – in seiner Hand wird der Beton zu Staub
und er bläst ihn mit einem Kuss in unsere Richtung,
in Richtung der Kamera und des Satelliten und
der Vereinigten Staaten von Amerika, wo ein Mann
mit einer Flasche Bier in der Hand Fernsehen guckt
und ein Mann mit einem Schraubenzieher dessen Haus
zerlegt. Es ist November. Keine Blätter mehr
an den Bäumen. Nur noch die vier Wände leisten
ein wenig Widerstand gegen die anrückende Kälte.
(Aus dem amerikanischen Englisch von Mathias Jeschke)
6. November 2014 19:53
Mirko Bonné
Einer, der allein über ein Feld geht, weiß,
solang in der Luft der Schnee liegen bleibt,
gibt es die Schwarzpappeln dort, er meint,
im Innern genauso zu schneien und dass
es daher auch Innenpappeln gibt, immerzu,
in jedem Moment ab jetzt ist er vorbereitet.
Und genauso weiß auch ich mit einem Mal:
Pappelreihe! Das ist ein Ufer aus Bäumen,
und weiß auf einmal auch: mein Notizbuch!
Das sind Momente wie Jacken im Schrank,
im fremden Mundwinkel ein Funkeln, oder
jemand im Bus, der ihn in eine Geschichte
davonfährt. Während die Eisblumen blühen
an den Fenstern und immer was in Händen
zu halten ist, nimmt das Aufhören ein Ende.
Es schneit, als wartete der Morgen darauf,
nach einer so endlos erscheinenden Nacht
das Verlorengegangene sich wiederzuholen.
Schnee ist das, was ich nicht anhalten kann,
so als wäre jeder hier, auch in Abwesenheit.
*
5. November 2014 18:14
Thorsten Krämer
Minimierter Schatten, beste Lage
in Kürbisnähe: ein Alterssitz auf empfänglichem
Boden.
In Laubbegleitung
verbrachte Tage, dösende
Verwesung. Memento mori, Puppe: die finale Anmache.
31. Oktober 2014 12:19
Andreas Louis Seyerlein
MELDUNG. Ameisengesellschaft LN — 1722 [ Stöpselkopfameise : Colobopsis truncatus ] Position 47°81’N 12°48’O nahe Übersee / Folgende Objekte wurden von 16.00 — 18.02 Uhr MESZ über das südöstliche Wendelportal ins Warenhaus eingeführt : einhundertsiebenundzwanzig trockene Fliegentorsi geringer Größe [ meist ohne Kopf ], zwölf Baumstämme [ à 8 Gramm ], sechs Raupen in Grün, sechs Raupen in Orange, dreiundsiebzig Insektenflügel [ vermutlich der Gattung der Birkenspanner ], fünf Streichholzköpfe [ à ca. 1.7 Gramm ], zweiundzwanzig schwarzbäuchige Taufliegen der Drosophila melanogaster in vollem Saft, sonnengetrocknete Rosenblätter [ ca. 122 Gramm aus vergangenem Jahr ], sechs Schneckenhäuser [ je ohne Schnecke ], dreiunddreissig gelähmte Schnecken [ je ohne Haus ], 5 Ameisen anliegender Staaten [ betäubt oder tranchiert ], acht ovale Zwergkäfer [ vergoldet ], drei Aaskugeln eines Pillendrehers, wenig später der Pillendreher selbst, sechs Wildbienen, zwei Eissonnenschirmchen [ in rot und blau ] je 5.008 Gramm, eine Krone [ Mattel X7892 — Barbie Glam ] 5.6 Gramm.— stop
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24. Oktober 2014 06:38
Christine Kappe
Auch hier spitzen sich die feindlichen Lager zu: Siggi und Jörg reden nur noch per Rechtsanwalt miteinander. Der eine ist Idealist und Tontechniker, der andere Realist und Chef. (Dabei wird das Digitale uns letztlich überflüssig machen.)
Der Zusammenhang von Weltuntergang, Idealismus & Herzfehler! „Gebe dem Sender noch ein paar Monate.“ Mit Siggi allein in der Sendeabwicklung. Die Apparate flackern, der Ton schallt über den Bahnhofsvorplatz, auf dem sich der Verkehr staut – ein Meer, das gerade Flut hat – weil die Lokführer mal wieder streiken.
Siggi erklärt mir etwas, was ich gar nicht verstehe, weder akkustisch noch sonst irgendwie.
Einer der Kameramänner hat eine brennende Zigarette aus dem Fenster geworfen, sie ist unten, in einem der teuersten Restaurants der Stadt, auf einen Stuhl gefallen, der zu brennen anfing. Die Inhaberin des Lokals steht nun mit dem verkohlten Polster im Türrahmen und hält uns von der Arbeit ab. Aber wir berichten, glaube ich, ganz objektiv.
23. Oktober 2014 13:01
Tobias Schoofs
von fern vertut man sich: hier das
ist ein o · kein u · und das hier
ist das ich: prozess – nicht ding –
aus selbst und fremd bezug.
ich mach mal den vergil: das leben
ist ein auf und ab (c’est tout?):
da unten sehen sie maläste und
zur krönung · oben · haarspitzen
katarrh: das ist mein material.
so lernte ich anfahren am berg ·
alternativ fährt hier die straßenbahn ·
ein mehr gemeinschaftliches sitzen –
und das hier ist kein meer · es ist
ein fluss · er mündet weiter drüben.
(für Thorsten Krämer)
8. Oktober 2014 20:47