Thorsten Krämer

Salzwärts

Mit dem Wettschein in der Hand bereiste er die ganze Gegend. In seinem Herz war ein großer Klumpen. In der Nacht kamen Diebe, doch er spürte nichts als seine kalten Füße. Er legte sie in Salz ein und konnte förmlich dabei zusehen, wie seine Schuld von ihm abfiel. Sie rieselte langsam salzwärts; auf der Höhe seiner Zehen verweilte sie noch kurz, ehe sie für immer in der feuchten Erde verschwand. Für immer? Das ist die Frage, die er sich jetzt stellt und die auch wir ihm nicht beantworten können. Wir wissen überhaupt viel zu wenig über ihn.

16. Juni 2014 08:51










Hendrik Rost

Vom Pferd erzählen

Die Geschichten, Liebste, die du erlebt hast,
die ganze Last der Geschichten, die du
zu erzählen hast, sie machen die alt.
Das Leben, Liebste, kommt kaum über
ein kraftloses Weißt-du-noch hinaus.

Das gesammelte Gewicht aller Geschichten,
und es liegt mir schwer auf der Zunge,
Liebste. Es macht mich müde, mein Leben
als Fiktion. Was für ein Übermut, überhaupt
aufzustehen. Und doch, erlebt ist erlebt –

lange Spaziergänge mit dem Schweinehund,
die Wohnung, zugemüllt mit lauter Plänen,
wie ich verliebt war, nur nicht wusste, in wen.
Das, Liebste, sind Geschichten, ein Leben
lang erstunken, empfunden und erlogen.
Ich hab die Geschichten satt.

Verschon mich, Liebste, mit Geschichten,
wie du abgenommen hast, wie du spürst ­–
ich bin nicht mehr auf ewig jung. Es ändert
nichts an der Geschichte, was dir widerfährt,
ob du Gutes säst oder erntest, den Film
siehst oder selbst vor der Kamera stehst.

Ich kenne deine Geschichte, liebste Kassandra,
mit der du am Leben hängst und umgekehrt.
Ich erspar dir zum Dank die Sagen, die ich
in mir trage aus vielen Tausend Gerüchten
und Nachrichten – von Flucht und Städten
in Asche, leeren Geldbeuteln, Tod oder Teufel.

Lass die Geschichten ruhen. Erzähl nicht
von der Welt, die es nicht gibt. Wind weht
dir ins Gesicht und wispert, Liebste. Er sagt,
du bist frei oder nicht. Was du bist, hat ein
anderer an Bedeutung verloren. Keiner überlebt
in alten Geschichten. Hör auf, zu vernichten.

15. Juni 2014 10:32










Christine Kappe

Casablanca

den ganzen Tag über brennen die Straßenlampen. beleuchten natürlich nichts, weil die Sonne viel heller ist. verdunkeln eher. Z.B. die zahlreichen Baustellen, die eigentlich Nähmaschinen sind. hier wird der Stoff genäht, hinterm dem sich Tod & Sex verstecken / der immer wieder zerreißt. durch die Risse sehen wir in ein Loch, durch das es mörderisch zieht. sofort kommen uns die Tränen, doch nicht aus Trauer, sondern vom Luftzug

es ist immer neblig hier, immer Smog, deine Haut ist immer salzig, weil du immer schwitzt. das Wort „immer“ hat in dieser Sprache eine andere Bedeutung: „dima“= der Vorname eines Prinzen mit stolzem Blick. die Schaufensterpuppen gucken eher genervt, tragen Jellebbas: eine hat Haare vor den Augen, eine andere auf den Zähnen

14. Juni 2014 18:06










Hans Thill

… von den Wäldern …

und Patronen an der Seite. Auch Frauen
sind dabei, sie singen dieselben Lieder. Von den dunklen
Wäldern
haben wir noch die Bescheidenheit
und einen Schluckauf am Morgen,
rasch zu

buchstabieren. Wir trinken jetzt die Schrift,
nachdem wir erwachten unter Flügelpapier, wo man früher
verbotene Wörter fand

13. Juni 2014 13:46










Christian Lorenz Müller

Wer weiß schon

Der See buchtet sein Braun
in die Wälder, gründelndes Sonnenlicht
in moorigem Geheimnis.
Du hast dir die Hände
mit Henna gefärbt,
Torfflaum rötelt dir die Schultern.
Komm, legen wir uns auf den Rücken,
ruhen wir schwebstoffleicht
im abendlichen Wasser.

Wer weiß schon, ob sich der Sommer
noch einmal so ruhig und tragend
ausstreckt unter uns.

12. Juni 2014 18:40










Christine Langer

Liebe goldene, vergoldete, leuchtende Fische,

ich freue mich sehr, einen neuen Unterwasser-Gefährten einladen zu dürfen. Ich habe Christian Lorenz Müller vor ca. 10 Jahren bei einem Textwerk-Lyrikseminar im Literaturhaus München kennen- und schätzen gelernt. Er ist 1972 in Rosenheim geboren, gelernter Trompetenmacher und lebt in Salzburg. Vor 4 Jahren erschien sein Roman „Wilde Jagd“ bei Hoffmann und Campe, er arbeitet derzeit an einem weiteren Roman. Er schreibt aber auch Gedichte und erhielt dafür den Georg-Trakl-Förderungspreis. Auch seine Rezensionen finde ich bemerkenswert; seine Kritiken sind stets eingebettet in einen dynamisch-rhythmischen Sprachfluß. Herzlich willkommen, lieber Christian, auf daß Du uns mit auf viele Meeresgrund-Entdeckungsreisen nimmst, zu Muscheln, Korallen, kreative Tiefen des Untergrunds!

12. Juni 2014 18:37










Andreas H. Drescher

DER SÜDEN VI

Ein harter Herr sitzt jetzt auf dieser Bierbank, ganz allein. Und sieht sich selbst als Süden diesem falschen Dampfer nach. So lange schaut er sich hinterher, bis ihm die Bierbank unterm… Unter was? Und was? Zum Ausguck wird… Ausguck Zenit. In Garben. Seefahrer sagen: Im Süden steckt das Salz. Deshalb Zenit. Damit es auch nach oben geht. Er fragt sich jetzt, wie viele von uns er vertäut hat. Waren es neun, waren es dreizehn? Das Sinnieren macht ihm Freude. So schert er sich nicht um die Zahl hinterm Sinnieren. „Vordersteven“. Das Wort denkt er gern. So müde denkt er sich daran, dass es ihm ist, als hätte er das Meer in Salz zu sieben. Und schließlich trägt ihm eben dieses Meer die Dreizehn quer durch alle Decks. Um mit uns zu wetten. Um mit uns zu wetterwetten. Um mit uns zu wettereifern: steuerfahnderisch, steuerflüchtlingisch. Im Ernst. Sonst kommt er nicht dazu, seine Schulden einzulösen.
Wettschulden sind Wetterschulden.

12. Juni 2014 06:28










Björn Kiehne

Kurfürstenstraße

Ich zeige dir die Nacht,
lass dich teilhaben
am Hunger der Stadt;

für dich die Rose,
die Schrift aus Schnee,
in der ich deinen
Namen auf den Asphalt schreibe;

du läufst auf und ab,
ziehst im Gehen seine Linien nach,
versuchst dich zu erinnern:
das Dorf, der Garten, das Lachen;

die hungrigen Autos warten,
stehen Schlange für dich,

das Mädchen, die Straße, die Welt,
die Welt mit der Wunde
zwischen den Beinen;

später dann leuchtest du
die Nacht aus mit Blicken,
die dir nicht mehr gehören;

wachst am Morgen zwischen
Müllsäcken auf,
wo es nach Erbrochenem riecht
und vergossenem Wein;

Gedanken lösen sich aus deiner Stirn,
legen einander die Hände
auf die Schultern,
reihen sich zu einer Polonaise
hinunter zum Kanal,

dorthin,

wo ein Schiff auf dich wartet,
ein Schiff, das dich fortbringt,
fort aus dieser hungrigen Stadt.

11. Juni 2014 13:07










Mathias Jeschke

Freibad

Stille lockt im glucksenden Leuchten.
Über dem Becken ragt der Turm.
Ich springe und lass mich verschlucken.

Seht, in der Sonne der brennende Dorn!
Hinunter, um mich in Blau zu kleiden.
Stille lockt im glucksenden Leuchten.

Zu Spott nicht zu werden, zu knicksen,
nicht schwer mich verstiegen zu haben:
Ich springe und lass mich verschlucken.

Was mich erwartet im Feuchten?
Kann ich mich hinter mir lassen?
Stille lockt im glucksenden Leuchten.

Furcht in den Sprung hineingenommen,
mit dem Scheitern gemeinsam gestürzt.
Ich springe und lass mich verschlucken.

Ein Taucher, beherzt. Zu den Korallen!
Hinunter, um lustig hinaufzugischten.
Stille lockt im glucksenden Leuchten.
Ich springe und lass mich verschlucken.

10. Juni 2014 21:41










Mathias Jeschke

Tankstelle

Halle aus Licht am Rand des Geländes,
mein fahriger Blick streift Ungefähres.
Ich führe den Stutzen behutsam ein.

In der Rechten flexibel den Schlauch,
in der Linken den dinglichen Stutzen.
Halle aus Licht am Rand des Geländes.

Der scharfe Geruch ein sinkender See,
an der Säule salutieren die Zahlen.
Ich führe den Stutzen behutsam ein.

Es klirren die Sporen an meinen Stiefeln,
im Radio die Beichte einer Gitarre.
Halle aus Licht am Rand des Geländes.

Was hinter mir liegt, schafft eine Leere,
die will ich befüllen mit all meiner Kraft.
Ich führe den Stutzen behutsam ein.

Es liegt ein duftendes Sehnen im Abend,
dies sei der Moment, in dem es geschieht.
Halle aus Licht am Rand des Geländes.
Ich führe den Stutzen behutsam ein. 

9. Juni 2014 23:08