Kerstin Preiwuß

Wunschloses Verlangen

„Man besitzt nur das, worauf man verzichtet“, denkt die französische Philosophin Simone Weil. Dieser Habseligkeit ginge ein „wunschloses Verlangen“ voraus, das sich selbst genüge. Und weiter: „Schauen und Warten ist das Verhalten, das dem Schönen angemessen ist. Solange man noch vorstellen, wollen, wünschen kann, erscheint das Schöne nicht“.
Dieser Zirkelschluß vom Wissen um den Mangel als Bestandteil der Welt, in der wir leben, zu der Einsicht, daß es menschlich ist, ihn idealistisch zu begreifen, ist uns immanent. Weil unsere Wahrnehmung begrenzt ist, weil es uns also daran mangelt, die Welt anders zu erfahren als in der Flüchtigkeit unseres mit der Zeit (ver)gehenden Lebens, erscheint uns das empfindungslose Universum umso größer. Diese Diskrepanz zwischen der sich nach Grenzenlosigkeit sehnenden menschlichen Existenz und der Grenzenlosigkeit des Universums speist jene Energie, aus der heraus seit Platon Schönheit entsteht – als Mittler zwischen beiden Polen.
„Schauen und Warten ist das Verhalten, das dem Schönen angemessen ist. Solange man noch vorstellen, wollen, wünschen kann, erscheint das Schöne nicht. Darum liegen in aller Schönheit unaufhebbar Widerspruch, Bitterkeit, Abwesenheit“, lautet die Konsequenz des Weilschen Denkens. Sich von den schönen Dingen entfernen, um Schönheit zu erfahren, ist vielleicht eine der fruchtbarsten Paradoxien der Kunst.

30. März 2009 18:47










Carsten Zimmermann

ich möchte irgend etwas für dich sein

Diese schöne Zeile aus einem Liebeslied von Tocotronic enthält in nuce das Dilemma der Subjektivität. Etwas zu sein ist ein Widerspruch in sich. Etwas kann etwas nur symbolisch sein, und das heißt imaginär. Etwas Imaginäres kann man nur sein wollen oder zu sein vorgeben, aber nicht sein.
Dennoch hat man uns beigebracht, daß etwas zu sein wünschenswert ist, wenn nicht, daß es das entscheidende Lebensprojekt darstellt. Die ganze postmodern-kapitalistische Welt beruht auf der Verführungskraft von letztlich trivialen Identitätsangeboten. Eben der Widerspruch, etwas sein zu wollen, erscheint als der Motor der kapitalistischen Rastlosigkeit und Rücksichtslosigkeit in einer Kultur, die die Produktion gegenüber der Kontemplation maßlos favorisiert.
Die Alten hingegen wußten, daß man nur nichts sein kann, weil Nichts und Sein (und Alles) zusammenfallen, und zwar nicht abstrakt, sondern unmittelbar. Wir Heutigen wissen bei aller Überproduktion von partikularem Wissen nicht mehr, sondern weniger als sie. Wir bestehen darauf, einen Widerspruch zu verkörpern. Es ist zum Scheitern verurteilt.

30. März 2009 15:41










Thorsten Krämer

Appellare humanum est

Während im Feuilleton, und vermehrt auch unter den Autoren, die Debatte um Google Books und Open Access tobt, gerät ein anderes, schon viel zu lange sträflich vernachlässigtes Problemfeld vollends aus dem Blick: Die systematische Verletzung, ja Aushöhlung des Urheberrechts durch Antiquariate! Besonders jene, die sich durch den Euphemismus „modern“ das Deckmäntelchen der Aufgeklärtheit anziehen, erzielen seit Jahrzehnten ihre Gewinne einzig und allein auf Kosten der Autoren und Verlage. Denn die Bücher, die sie einkaufen, verkaufen sie ja zu einem höheren Preis weiter; von dieser Differenz fließen aber null Prozent an die Urheber, mit deren geistigem Eigentum hier also auf übelste Weise Schindluder getrieben wird.
Besonders perfide an dieser illegitimen Wertschöpfung ist die Möglichkeit, dasselbe Buch nicht nur einmal, sondern wieder und wieder zu verkaufen, jede einzelne Transaktion nichts anderes als ein Griff ins ohnehin gebeutelte Portemonnaie des Autors! Doch nicht nur das: Oft werden dort Bücher verkauft, die praktisch neuwertig sind, deren einziger ‚Mangel‘ in einem fadenscheinigen Stempel, oder gar nur einem lieblos ausgeführten Strich mit dem Filzstift besteht. Kein Wunder, dass viele Buchkäufer da zu dieser preiswerten Alternative zum Neu-Buch greifen! Es ist bezeichnend, dass die Verluste, die dadurch jährlich entstehen, noch nie Gegenstand einer umfassenden Erhebung waren!
Im Falle von vergriffenen Büchern ist der Schaden durch die Antiquariate freilich noch größer: Indem sie solche Titel in gebrauchter Form verfügbar halten, verhindern sie, dass es zu Neuauflagen kommt – auch dadurch werden Verlage und Urheber um ihre verdienten Einkünfte gebracht. Ein anderer Schaden ist zwar nicht finanzieller Natur, trifft aber besonders die sensibleren unter den Autoren: Mitunter entdecken sie ihre Bücher in solchen Antiquariaten in unmittelbarer Nähe von Titeln, mit denen sie nichts gemein haben wollen – die Periodika des Fleischerhandwerks seien hier nur als besonders abstoßendes Beispiel genannt. In manchen Fällen fungieren die Bücher sogar ausschließlich als Lockangebot für der Literatur gänzlich wesensfremde Geschäftsinteressen: Vor dem Schaufenster steht dann beispielsweise eine sogenannte Bücherkiste, während drinnen gebrauchte Kinderkleidung verkauft wird!
Es ist deshalb an der Zeit, dass Autoren, Verleger und Literaturwissenschaftler nicht länger die Augen vor diesen Missständen verschließen, sondern entschlossen an die Politik appellieren, um diesem Treiben ein Ende zu machen. Die Forderung kann nicht anders als eindeutig ausfallen: Sofortiges Verbot des Verkaufs gebrauchter Bücher und Schließung aller Antiquariate!
(Wünschenswert wäre es übrigens, wenn ein solcher Appell von einem Ort wie Göttingen oder Tübingen ausginge, schon allein der symbolischen Wirkkraft wegen.)

26. März 2009 16:07










Markus Stegmann

dehnt

der weder schlägt
macht parliert und
zementierte
sag und
bleibe
die motorische die
betritt aber federnd
ins Hinterland
Stauseen heisst es
laue Luft kommt schwarze
kommt Nacht
Sediment
schwerelose Pfirsiche im Schlupfloch
liegende Stirnen
gewässert abgelegene
Spuren Büsche verwachte
Bootsspuren alt ausser
im Kauwasser tropfende
Platten schwerer Tiere
metrische Beschläge am
Sperrhahn fürs Frischwasser
Kehle ein
Metronom dehnt das Gestirn
zwischen fort und
Folge davon binden
Fische das letzte Geflecht
welcher Darm schnitt
den Faden

25. März 2009 23:49










Hans Thill

Hans Test unterschreibt einen Appell

Hans Test hatte nicht viel zu verschenken. Gestern Abend hatte er einen Satz gelesen, der ihn heute morgen auch noch nicht los ließ: »Enteignet die schamlosen Enteigner.« Daß Eigentum Diebstahl war, wußte er noch von dem Anarchisten Proudhon, dessen Buch mit dem Titel »Was ist das Eigentum?« ihm im revolutionären Portugal aus dem offenen Auto gestohlen worden war. Aus der selben Zeit fiel ihm ein, wie Landfried Schröpfer, ein experimenteller Heidelberger, einen Freund, der auf seinem geistigen Eigentum bestand, im Gedicht polemisch gefragt hatte: »wieso behältst Du Deine Texte nicht für Dich?« Es gab damals Zeitschriften mit Namen wie MOVENS.
Hans Test schaltete seinen Computer an. Bis der Bildschirm den in Kieselstein-Kreisen organisierten Zen-Garten zeigte, pulte er sich ein Stück Hornhaut von der Handfläche. Test würde später in den Verlag gehen. Er würde ein Manuskript lesen und korrigieren, mit dem Autor telefonieren und einen Termin ausmachen, in dem man die beträchtlichen Änderungen, die er für notwendig hielt, diskutierte. Er würde dann in der wöchentlichen Sitzung mit den Kollegen besprechen, was für die Förderung der einzelnen Titel zu untenehmen war. Er würde über die Gestaltung eines neuen Buchs sprechen, die Vertetersitzung vorbereiten.
Hans Test erinnerte sich, wie er bei einem Streitgespräch im Hinterzimmer einer Pizzeria ebenfalls in den siebziger Jahren einem Bauunternehmer die Berechtigung abgesprochen hatte, sich als jemand darzustellen, der arbeitet. Er nannte den biederen Badener einen Faulenzer, der seine Bauarbeiter ausbeutete. Ohne den Chef wäre alles sicher noch besser organisiert! Wenn die Bauarbeiter in eigener Regie die Baustelle übernehmen, werden Büroexistenzen wie Sie endlich überflüssig sein!
Einstweilen suchte Test aber nach dem Wort »Enteigner«. Im Netz fand er eine Debatte über die zunehmende Enteignung der Autoren durch die amerikanischen Einscanner von Texten vor. Er folgte dem link bis zur Seite http://www.textkritik.de/urheberrecht/
Hier stand der Ohrwurm-Satz als Überschrift eines Artikels der FR gegen die Übergriffe der Suchmaschine GOOGLE, verfasst von Roland Reuß, auch so ein Heidelberger, Literaturwissenschaftler, Entzifferer von Handschriften, Professor, Kopf des INSTITUTS FÜR TEXTKRITIK. In einem zweiten Artikel über den Veröffentlichungszwang für wissenschaftliche Texte, diesmal in der FAZ abgedruckt, bezeichnete Reuß sich listig als »Niemand«. »Ich bin dieser Niemand«. Odysseus spricht zu Polyphem. Reuß nannte den Veröffentlichungszwang in OPEN ACCESS eine »klammheimliche technokratische Machtergreifung.«
Im Fall GOOGLE ging es um einen Fall der Realgroteske, die Test, selbst fast kein Jurist, in mehrfacher Hinsicht ungerecht und nicht hinnehmbar fand, die aber trotzdem von allen Autoritäten offenbar als Vorgehensweise akzeptiert wurde. In den USA schloß die Suchmaschine mit dem schönen Dadaistischen Namen einen Vergleich mit Vertretern einer amerikanischen Autorenorganisation ab, der auch für ihn, Hans Test, hier in Heidelberg Geltung haben sollte, es sei denn, er mache dort, in den USA, einen Einspruch geltend, den er dann mit einem teuren Gerichtsverfahren gegen das mächtigste Unternehmen der IT-Branche durchzusetzen hatte.
Test fühlt sich an das Vorgehen von agrarischen Großkonzernen erinnert, die Erbinformationen einer Reissorte, die in Jahrtausenden beständiger Arbeit von Generationen indischer Bauern gezüchtet worden war, von schlecht bezahlten Chemieassistentinnen in einem Labor bestimmen ließen, um sie patentieren zu lassen und dann an eben diese indischen Bauern zu verkaufen. Dieselbe Strategie hier: Daumen drauf! Schon gescannt! Meins!
Im fraglichen Vergleich wurde jedem Autor für die Verwertung all seiner Bücher, die im Internet als Hintergrund für Werbebanner bereits veröffentlicht wurden und in Zukunft werden sollten, ein einmaliger Betrag von 60 Dollar angeboten.
Hans Test dachte, wenn einer Schmecker hieß und Vegetarier war, und ein Fleischkonzern nannte eine aus Abfällen hergestellte Streichwurst nach diesem Namen, weil seinen Werbestrategen nichts besseres einfiel, dann würde dieser Schmecker doch vielleicht etwas dagegen unternehmen? Oder wenn ein Motor entwickelt worden war, der mit Essig lief, benötigte man alle deutschen Weinberge zu Herstellung des neuen Kraftstoffs. Man verpflichtete also die Winzer zu Ablieferung ihrer Trauben und bot ihnen aber nur einen geringen Preis, weil man ja schließlich Essig produzierte und keinen Wein. Federführend ein Konsortium aus der Zentralkellerei der Winzergenossenschaften / Breisach und einem Ölmulti wie Exxon.
Die Abschaffung des wissenschaftlichen Verlagswesens, wie sie von Universitätsverwaltungen durch den Veröffentlichungszwang in OPEN ACCESS betrieben wurde, kam ihm mindestens so grotesk vor, wie die Vision eines mit Essig betriebenen Twingo. Nach einer durchzechten Nacht, Augen haben wie ein Twingo. Volltext trinken. Guglhupf essen, dazu einen Gewürztraminer. Das alte Europa, linksrheinisch.
Test wußte sofort, das waren alles hinkende Vergleiche. Stammelnde Verse, hinkende Vergleiche, krumme Sätze. Wenn die Lektorate bald abgeschafft waren, dann wäre all dies nicht mehr ein künstlerisches Mittel der Auflehnung gegen die Schrecken der Schrift, sondern im Gegenteil ästhetischer Alltag der Leser flacher Examensarbeiten, verfasst von alleingelassenen Schreibern. Federführend, ein seltsam altertümlicher Begriff.
Test nahm sich vor, dann wieder ordentlicher zu schreiben, alle Regeln schön brav einzuhalten, was ihm ein Greuel war. Und jetzt dachte er sich bereits aus, welche Banner bei jenen seiner Texte erscheinen könnten, die er selber ins Netz gestellt hatte. Das heiße Fleisch der Wörter? Der Schweinekiller NORDFLEISCH. Der Barbar von Vézelay? Irgendein elektronisches Spiel, von der Sorte, die gerade dabei war, die Grenze des Virtuellen zu überschreiten.
Auf einen Zettel notierte Test: »Miami, die Haie fressen unsere badenden Töchter, weil sie im leergefischten Meer nicht mehr genug Nahrung finden.« Noch so eine Idee von gestern Abend. Jetzt hatte er sich schon wieder nach Miami gebeamt. Die Imagination war immer noch ein rascheres Transportmittel als der schnellste Rechner. Test nahm sich vor, in Zukunft noch mehr im eigenen Kopf zu suchen und weniger im Netz. Und umgekehrt: Ohne die Kreativität der Einzelnen würde auch für GOOGLE bald nichts mehr zu posten sein. Er dachte an das freundschaftliche Auge-in-Auge eines Verwertungsvertrags, wie er im Idealfall zwischen Autor und Verleger abgeschlossen wurde. Wie viele seiner Freunde verstummt waren, weil sie keinen Verlag für ihre Texte interessieren konnten. Er dachte, daß man die wertschöpfenden Kleinunternehmer gegen die destruktiven Konzerne unterstützen mußte. Die Dynamitfischer der Weltmeere. Die Explorateure und Suchmaschinen. Die Claimabstecker.
Da Hans Test seine Texte nicht für sich behalten konnte, wollte er sie sich auch nicht einfach so nehmen lassen. Erneut ließ er seinen Browser kommen, rechts oben ins Suchfenster schrieb er EXPROP und fand wirklich einen Immobilienmakler dieses Namens in Mahopac, New York. Test blätterte ein wenig und dann erschien die passende Losung im roten Latein des 19. Jahrhunderts: „Die Expropriateurs werden expropriiert“ (Karl Marx).

25. März 2009 19:37










Andreas Louis Seyerlein

~

3.15 – Man könnte vielleicht sagen, dass es sich bei Gattung der Lampionkäfer um Geschöpfe handelt, die bevorzugt nach innen gedacht worden sind, weshalb man an ihrer äußeren Gestalt sparsam zu wirken wünschte. Man machte ihnen Flügel, sehr kleine, kaum noch sichtbare Flügel, die kurze Strecken des Luftreisens gestatten, sparte dagegen an Beinen, vergaß Augen und Fühler, auch Ohren sind an ihrem vollkommen runden Körper bislang nicht zu entdecken gewesen. Niemand könnte zu diesem Zeitpunkt also ernsthaft behaupten, an welcher Stelle nun genau der Kopf, also das Vorne des Käferwesens zu finden sein könnte. Meistens liegen sie demnach kopf- und bewegungslos auf dem Boden herum, schlafen vielleicht oder träumen. Man kann sie dann leicht übersehen, weil sie sehr klein sind und fast lichtlos auf den ersten Blick. Unerkannt haben sie in dieser bescheidenen Weise bis vor kurzem noch in den Wäldern des Karwendelgebirges nahe der Baumgrenze gelebt, bis ein Steinsammler ihr Geheimnis entdeckte, in dem er sich mit einem sehr feinen Bohrer ins Innere eines der Käferkörper vorarbeitete. Lange Stunden des Wartens, des Kühlens, des Bangens, dann spähte der junge Forscher in eine vollständig unbekannte Welt. Seither fehlt ihm jede Sprache. Die Augen weit geöffnet, scheint er zu suchen, nach Sätzen vielleicht, nach Wörtern, nach angemessenen Geräuschen der Bewunderung, der Anerkennung. – Was bleibt noch zu merken? – Sie summen wie die Bienen, sobald sie fliegen.

> particles

25. März 2009 07:20










Hartmut Abendschein

Spieltheorien

Und: Nichts leichter als eine Theorie der Fragmente. Nichts schwerer aber als ihre Ordnung. (Vgl. Barthes, Neutrum, 41f. Ein Vorteil eines literarischen Weblogs, da, je nach Software, immer: random function. Gerechtigkeit).

Noch ein Name. „Hans Lick“, nach dem Hanslick-Syndrom. (Über die „Moderation des Archivs“ nachdenken. Zwiegespaltenheit. Einerseits Befreiung des Worts, Zerstörung des Kontexts (Operation Freedom), Datenhegelianismus, Vision. Andererseits: Verlust der Sicherheit über etwas sprechen zu können. Ich wird zum alleinigen Kontext eigener Rede. Trauer. Nostalgie).

Überhaupt: Bevor es zu spät ist, bevor es eng wird. Der spatial turn. Die Landschaftswissenschaft. Promenadologie. ( „I have a nightmare“ und „Wo ist der goldene Fallschirm?“. Go to Minoritenkultur.)

Das Hugo-Ball-Spiel (Skizze): Das Krippenspiel wird in 5-6 Sprachen und phonetisch kontrastiv auf einer Matrix (mit Kontingenzmechanismus qua Reload) dargestellt (aufgetischt, aufgebahrt, verexcelt, wieauchimmer, digital natürlich). Heisst: Phoneme isolieren, Datenbanken, random function, laut lesen, lachen, neu mischen, lachen …

„Schwarz ist es ja, aber Lakritze ist es nicht“ (Frau Waas zu Lukas, dem Lokomotivführer)

Nachtrag zum Hugo-Ball-Spiel: Lange Diskussion darüber mit BH Franzen. Prinzipielles Einverständnis in die Notwendigkeit des Spiels. Aber. Kompetenzzuordnungsfragen. Ansatzdivergenzen. Verantwortlichkeiten. Heute sind wir keine diskursive Formation. Heute versandet die Sache. Aber immerhin: die Idee wurde gedacht, steht hier und ist damit schon bestens umgesetzt.

[notula nova 31]

24. März 2009 13:13










Thorsten Krämer

Die Interessen der Verlage können nicht die Interessen sein, die Lina Braake hat

Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst von der Abschaffung des geistigen Eigentums. Diesen Eindruck bekommt zumindest vermittelt, wer sich die Kampfschriften anschaut, die in den letzten Wochen in den angestammten Print-Medien zu den beiden Stichwörtern Google Books und Open Access veröffentlicht wurden. Gegen beide Initiativen regt sich massiver Widerstand, durch einen Kollegen wurde ich zuletzt auf eine Petition von textkritik.de aufmerksam gemacht, deren zum Teil namhafte Unterzeichner die Politik auffordern, der Unterhöhlung des Urheberrechts endlich einen Riegel vorzuschieben.
Was als erstes an dieser Debatte irritiert, ist die Verwendung des Begriffs „Urheberrecht“: Dieses Recht besagt nämlich in erster Linie, dass der Urheber eines Werkes als solches zu kennzeichnen ist, seine Urheberschaft nicht übertragen werden kann und sein Werk nicht entstellt werden darf. Sollen also bei Google Books Bücher anonym veröffentlicht werden, ohne Hinweis auf ihren Verfasser? Keineswegs. Vielmehr geht es um die Nutzungsrechte, also die Rechte, die gewöhnlich der Autor eines Werkes an den Verlag abtritt bzw. einräumt (was natürlich viel angenehmer klingt). Diese sprachliche Ungenauigkeit ist sicher kein Zufall: Denn die Rede von der „Abschaffung des Urheberrechts“ schürt gerade bei den Urhebern Ängste (wer möchte schon gerne um seinen Ruhm gebracht werden, der nun einmal untrennbar mit dem Namen verbunden ist!) Spräche man stattdessen von den Nutzungsrechten, lenkte man die Aufmerksamkeit darauf, dass in der gegenwärtigen Lage Urheber ohnehin schon sehr viele Rechte abtreten, an die Verlage nämlich.
Worum geht es dann eigentlich? Um die Interessen derjenigen, die diese abgetretenen Rechte vertreten, die Verwerter also. Insofern stimmt es schon nachdenklich, dass sich die Autoren, die zu den Unterzeichnern der genannten Petition gehören, so anstandslos vor den Karren der Verlage spannen lassen. Um die Sache ein wenig transparenter zu machen: Bislang verdient der Autor eines belletristischen Werkes zwischen acht (bei einem Taschenbuch) und zwölf (Hardcover und großzügiger Verleger) Prozent vom sogenannten Nettoladenverkaufspreis eines Buches. Fairerweise muss man sagen, dass die meisten Verlage Vorschüsse zahlen, die üblicherweise etwas über dem kalkulierten Verkaufsanteil liegen. (Allerdings kenne ich auch Autoren, die Teile ihres Vorschusses wieder zurückzahlen mussten.) Zum Vergleich: Der Buchhändler bekommt 30-35 Prozent, und das bei einem weitreichenden Remissionsrecht, d.h.: anders als andere Zwischenhändler muss der Buchhändler seine Ware nicht einkaufen, sondern bezahlt sie erst, wenn er selbst sie verkauft hat – und wenn er das nicht schafft, schickt er sie einfach wieder an den Verlag zurück. Das ist, wie gesagt, der Ist-Zustand, der meines Wissens noch nie Gegenstand eines Appells an die Politik war.
Ein anderes Beispiel: In der Petition auf textkritik.de heißt es: „Es muß auch künftig der Entscheidung von Schriftstellern, Künstlern, Wissenschaftlern, kurz: allen Kreativen freigestellt bleiben, ob und wo ihre Werke veröffentlicht werden sollen.“ Im Moment besteht diese Wahlfreiheit darin, sich selbst einen Verlag zu suchen, das stimmt freilich, bedeutet aber in der gängigen Praxis: Hat ein Autor erst einmal seine Nutzungsrechte abgetreten (also einen Vertrag geschlossen), ist es der Verlag, der entscheidet, ob und bei welchem Verlag zum Beispiel eine Taschenbuchausgabe des Werkes erscheint, oder ein Hörbuch, oder welche Produktionsfirma die Rechte an der Verfilmung bekommt – wenn der Autor da mitreden kann, dann allenfalls aus Kulanz, rechtlich gibt es in diesen Fällen keinerlei Wahlfreiheit, da er genau diese Freiheit ja mit seiner Unterschrift unter den Verlagsvertrag aufgegeben hat (finanziell wird er natürlich beteiligt).
Es ließen sich noch mehr solcher Unstimmigkeiten zeigen (etwa die Tatsache, dass nur die allerwenigsten Autoren allein von ihren Verkäufen leben können, sondern Honorare für Lesungen, Stipendien und Preise stets mit in die Kalkulation gehören), die von denjenigen, die jetzt gegen Google Books und Open Access trommeln, interessanterweise nicht thematisiert werden, obwohl sie sich doch für die Interessen der Urheber einsetzen wollen. Was den Schluss nahe legt, dass es allein die Vermittler und Verwerter sind, die sich verzweifelt an das gute Leben klammern, das sie selbst auf Kosten der Urheber lange gelebt haben. Dass aber die Autoren, die von den Krumen leben müssen, die von den Buchhandels- und Verlagstischen fallen, nun in dieses Klagen einstimmen, zeigt nur das Maß ihrer Abhängigkeit.

23. März 2009 09:26










Hans Thill

Stele

Abdelkebir Khatibi
1938-2009

Sozio-Clips

Das traf mitten ins Herz. Er war völlig verblüfft. Weshalb der Wutausbruch der alten Freundin gegen ihn und seine Ethnie, weshalb die unglaubliche Heftigkeit? Aus welcher Nacht kam dieser Schrei? Ich höre noch immer die vergiftete Stille. Soll man aus dieser Szene einen Roman machen? Ein Theaterstück? Einen Film? Eine fetzige Zeichnung? Und dieses bissige Notat, wird es genügen, um unser Leiden zu bannen? Es war Sommer, mein Rücken schaute auf den Ozean. Drift der Kontinente in eine archaische Chimäre.

Rassismus? Der Haß auf den Genuß des Anderen, wird gesagt. Ja, aber gibt es denn zwischen dem latenten und dem manifesten Rassismus, zwischen Implosion und Explosion, nicht die permanente und imaginäre Vernichtung des Anderen an sich? Gibt es nicht die universelle Barbarei, die allen Menschen zueigen ist? Gewiß, da ist nichts zu machen, oder nur wenig, sehr wenig.

Eine Form von Gastfreundschaft findet sich in kriegerischen Gesellschaften. Gastfreundschaft: Fortsetzung des Krieges durch die Riten des Friedens. Die Strategie, das Spiel von Distanz und gesellschaftlicher Nähe werden dann einer Abfolge von Zeremonien und Speisen unterworfen, die ebenso geregelt sind wie die Abfolge der Jahreszeiten.

Einen bourgeoisen Franzosen beobachten, wie er den Figaro bei einer Tasse Kaffee entfaltet.

Die Werte und Gloriolen, die sich ein Land gibt, findet man in den Straßennamen, also in der Verehrung der Toten.

In der Pariser Metro die Bemerkung eines Afrikaners zu einem anderen: »Ich verstehe nicht, weshalb die Muslime in Frankreich fasten. Die Tatsache, daß sie hier sind, ist doch Fasten genug!«

Der Blick fällt auf eine Geschäftsstraße. Als ich diesen Schlachter (boucher) mit seinen beinahe theologischen Gesten betrachte, denke ich, daß er gewiß Monotheist ist, der Schweine-Metzger (charcutier) hingegen eher ein Schamanist. Initiation zum Opfer: Basis jeder Gesellschaft, jeder Sekte.
Und noch etwas habe ich gesehen: ein Balinese, der sein Milchferkel im Freien brät, scheint in einem Schattenspiel zu tanzen, gleichsam eine Szene der Seelenwanderung.

Sozio-Clip? Ein Notat, so rasch wie der indiskrete Blick auf den Anderen.

(Eigene Übersetzung aus: Abdelkebir Khatibi, par-dessus l´épaule, Aubier, 1988)

19. März 2009 14:20










Sylvia Geist

Kennwort Aprikose

Wenn ich an Aprikosen denke, erinnere ich mich an den Aprikosenbaum, den meine Tante aus einem Kern gezogen hat. Inzwischen trägt das Bäumchen schon selbst Früchte, kleine gelbe, angenehm kühl und fest in der Hand liegende Aprikosen, die mehr nach Gartenluft als nach Obst duften. Bei einigen lässt sich der narbige Stein darin leicht öffnen, springt fast von selbst auf und gibt den fruchtbaren Kern frei, die Mandel, ein Flämmchen wie der Kern des Wortes „Aprikose“, apricus, „sonnenbeschienen“, womit die erinnerten Aprikosen mich nun daran denken lassen, dass sie wirklich eine Übertragung von Sonne sind, von Strahlung ins Stoffliche, in Haut, Fleisch und Stein der Frucht, so wie ein Wort seine Übertragung ins Physische erfährt, sobald es gesprochen wird, wenn es Atem wird, Schallwelle, bewegte Luft.
Höre ich das Wort „Aprikosen“ , wandelt es sich, enthält plötzlich mehr als seine Ethymologie, das gehörte Wort führt weiteres mit und wird damit selbst ein Weiteres, es echot im Klang buchstäblich ein Anderes, das selten gewordene Verb „kosen“.
Das althochdeutsche chosôn war ein reich entwickeltes Wort, das mal als Adjektiv, mal als Verb auftretend und in zahlreichen Kombinationen die Vielgestaltigkeit menschlicher Rede bezeichnete: als chôsîg und chleinchôsîg bedeutete es „beredt“, flankiert vom Hauptwort chôsîgî für „Beredtsamkeit“, als vilichôsîg hieß es „geschwätzig“, als argchôsôn „übelreden“, „verlästern“, als widarchosôn „widersprechen“. Diese und noch andere Formen und Bedeutungen umgeben wie Faserschichten, wie Fruchtfleisch, den Kern von chosôn. Über ihn lässt sich eigentlich nur noch spekulieren, doch es wird angenommen, dass er vom lateinischen „causari in seinem späteren Gebrauche für das schleppendere alte causam dicere u. ä., vom Reden vor Gericht“ herrührt. Dafür sprächen romanische Wörter wie das altfranzösische choser – „zanken“, „tadeln“ – oder auch chausar im Sinne von „sein Recht geltend machen“.
Diese Annahme gefällt mir, führte sie mich doch über einen ausgedehnten Bogen zurück zu der Kreuzung zwischen Sprache und Gerechtigkeit, wie sie Peter Waterhouse in seinen, ebenfalls im oben erwähnten Band enthaltenen, Ausführungen zu Carl von Linnés „Nemesis Divina“ betrachtet. Linné, so erfährt man, schöpfte aus allen erdenklichen Quellen, aus dem Buch Hiob wie aus Senecas Schriften und Vergils Hirtengedichten, er zitierte aus den Psalmen und Lucullus´ Sieg über die Parther herbei, sogar eine Revolte in Russland, und das Zusammenstellen und -führen dieser Zitate aus derart weit voneinander entfernten Orten und Zeiten diente keinem anderen Zweck, als seinem Sohn, der ebenfalls Carl von Linné hieß, einen Einblick zu geben „in die ausgleichende Gerechtigkeit der Welt“ – als wäre es nicht nur möglich, Recht zu sprechen, um es zu üben, sondern, wer weiß, gar nicht anders als unter dieser Voraussetzung möglich! Dieser Gedanke hätte einiges für sich, vor allem die fast utopische Vorstellung, im Bewusstsein der Schnittstelle zwischen „reden“ und „Recht sprechen“ die „Rede“ weniger als rhetorisch denn als moralisch definierte Sprechhaltung aufzufassen.
Doch ganz so einfach war der Zusammenhang zwischen chosôn und causari nicht beschaffen, man sieht immer noch erst den Stein der Frucht, sieht noch einige der ihn umlagernden Bedeutungsfasern, nicht aber den Kern, das Flämmchen der Mandel. Die Bedeutungen des lateinischen und des deutschen Wortes stimmten nicht eins zu eins überein, deshalb glossierte das deutsche recht differente Wortfelder, die – wie zum Beispiel bei gichôsi für oratio – mit einem Zusatz besonders bezeichnet werden mussten: dingchôse für das Reden vor Gericht stand zum lateinischen rhetorico syrmate offenbar in keiner verwandtschaftlichen Beziehung. Also doch nur Rederei, aber keine Gerechtigkeit in chosôn, geschweige denn der Funke einer nemesis divina? Aber, oder vielmehr wieder nein: „Was für causari spricht, ist der merkwürdige Umstand, dasz lat. causa früh volksmäszige Aufnahme gefunden haben musz, nach kôsa (…) causa, Rechtshandel in deutsche Begriffe übersetzt, die Streitsache eines Zweikampfes (…) Das musz aus römischem Rechtsleben auf deutschem Boden entstanden sein, und zwar sehr früh, vielleicht noch vor der Wanderung.“
Darum ding-chôse, nach der Rechtssache, ja, aber mehr noch nach der „Sache“ selbst, chose, wie sich auch im älteren, ursprünglichen sahhan für „streiten“ die sahha spiegelte, und an dem Punkt berührt man endlich den Kern, zieht seine dünne Schale ab, unter der nun auch die Möglichkeit der causa sichtbar wird, ihre Kraft, kausal zu werden, Ursache von etwas. „Den Germanen müszte das gewandte Reden der Römer vor Gericht einen solchen Eindruck gemacht haben, dasz sie danach kunstvolles Reden, Streiten, Unterhandeln benannt hätten, dann Zwiegespräch überhaupt, auch trauliches“, heißt es weiter bei Grimms.
Das ist also die ganze „Aprikose“, mit ihrer sonnenbeschienenen, sonnengelben apricus-Haut, darin der reiche Klang von „kosen“ und der Stein, das widerspenstige chosôn mit seinen vielen angrenzenden Bedeutungen, und in ihm die flammenförmige Mandel mit ihrer Fruchtbarkeit, der Causa, wo sich reden mit rechtsprechen trifft, sprechen mit traulich reden. Ausgerechnet sein zartester, am wenigsten begründbarer Teil ist der widerständigste Rest des Wortes, ihn höre ich mit, wenn ich „Aprikose“ höre. Niemand weiß mehr genau, wie sich reden, selbst traulich reden, in kosen wandelte, wieso es in jüngeren Sprachzeitaltern nur noch Berührung meinte, Bewegung, bewegte, streichende Luft, doch es würde mich nicht wundern, wäre da, irgendwo im Verborgenen, das Wandelwort aber am Werk gewesen, über das ich zu den Aprikosenbäumen gelangt bin.

(Strahlung Sprache / Notizen)

17. März 2009 13:59