Rebecca Maria Salentin

Tanzen

Ich hatte angefangen zu tanzen –

Mit Kopfnicken
und Knieknicken
und tief
in mich blicken.

Wo rot zu blau wurde
Wind zu Stille
Knochen zu Salamandern
und du zu Schall.

– und es erst gemerkt
als der Song vorbei war
nicht mittendrin

Dass da flackernde Neonprints waren
und zuckende Schultern.
Dass da Nebel war
und aus Maschinen.
Dass da Shirts mit Flockdruck waren
und Brillenschlangen
und ein Apple.

Um mich rum.
Gewesen waren.

8. April 2009 01:06










Hans Thill

Der Barbar von Vézelay

vezelay11

Lebt in den Geraeuschen zur Abwehr von Gedanken. Ein kurzes Husten und die Ideen waeren aus der kuehlen Kammer verschwunden. Sie sind bei den Gespenstern, die um Einlass in die Arche Noah betteln

Jeder Gedanke stiehlt etwas aus der Welt

Daniel in der Loewengrube. Angreifende Loewen. Die Welt in Anbetung vor dem Kreuz (Kopie)

Er liest ein Buch, das ihm nicht gefaellt. Er findet
einige Gedanken zu Schlaeuchen zusammengerollt und ein paar Geraeusche, die wie Kinder die Wiese hinaufkommen

Er erkennt die Fragen seiner fruehen Jahre. Er sieht sich als Schatten auf dem Ruecken liegend. Er sieht Voegel auffliegen und schliesst auf ein Geraeusch, das er nicht hoert. Er haelt das Buch in der Schraege, damit die Fluessigkeit ablaufen kann

Jetzt gefaellt ihm das Buch. Er findet eine Seite, die ihm perfekt erscheint. Es treten auf: der prahlerische Soldat, der Schmarotzer, der traurige Matrose mit dem Papagei. Der junge Verschwender, die Dirne treten nicht auf, haetten aber Raum genug, ein andermal. Dafuer gibt es den geizigen Vater, die verliebte Tochter, den albernen Diener. Der Barbar erkennt, dass das Buch geschrieben wurde, um diese Seite zu vermeiden. Dass sie aber schliesslich doch geschrieben und in diesem Buch versteckt wurde. Als Tuerschwelle, Balken

7. April 2009 23:12










Andreas Louis Seyerlein

~

7.28 – Nehmen wir einmal an, ich würde gefragt, ob ich vielleicht über ein weiteres Auge verfügen möchte, ein wirkliches drittes Auge, ein Auge für sich, ein Auge, mit dem ich in die Welt hinausschauen könnte, was wäre zu tun? – Ruhe bewahren! – Nachdenken! – Antworten! – Sehr bald antworten, jawohl ja, das wäre ein feines Geschenk, dieses Auge würde ich sehr gerne und sofort entgegennehmen. Natürlich würde das nicht so leicht sein, ich meine, die Übergabe eines weiteren Auges an meinen bereits existierenden Körper, wie man sich das vielleicht vorstellen mag, nein, nein, das wäre sicher eine außerordentlich komplizierte Geschichte. Ein geeigneter Ort würde zu finden sein, an dem das brandneue Sinnesorgan an meinem Körper oder in meinem Körper montiert werden könnte, und ich müsste mich vielleicht zunächst entscheiden, welcher Art das Auge sein sollte, ein großes, strahlendes Schmuckauge beispielsweise, oder ein eher kleines, kaum sichtbares Auge, ein geheimes Auge, sagen wir, um unbemerkt die Welt um mich herum untersuchen zu können. An diesem schönen Nebelmorgen nun, ich bin noch nicht ganz wach geworden, würde ich folgendes fragen: Ist es eventuell möglich, das Auge rechter Hand in den mittleren Fingerknöchel nahe des Handrückens einzusetzen? Wann könnten wir beginnen? Sind Sie noch bei Verstand, oder wie oder was? – Ja, so würde ich wohl sprechen, genau diese Bestellung würde ich aufgeben. Stellt sich nun die Frage, was würde ein Auge dieser Art mit meinem Gehirn unternehmen? Würde es wachsen? Und wohin würde es wachsen? – Ich muss das nicht heute entscheiden!

> particles

4. April 2009 07:52










Marjana Gaponenko

Annuschka VI

Siehe, Mädchen, es erfüllt sich der Traum.
Man hörte dich sprechen: Vater im Himmel,
schaffe mir einen Bruder,
ein Tier das mir gleich sei,
das mich zerreiße im Kampf,
belebt von deinem Hauch,
so wie alles von meinem
jeder Zweig den ich breche,
jeder Stein …

Abends schaust du hinunter aufs Land,
und du schwimmst in seinem Blick,
in seinen untergehenden Augen.
Wo warst du, Mädchen,
woran hast du gedacht,
als du sangst „Bin ich allein?“
in den Brunnen, als sein Herz brach,
in jedem Riss dein Lied:

„Ich träume, doch ich liege wach.
Es umkreist mich mein Spiegel,
um den Apfel dreht sich ein Biss,
Traumbilder schaue ich,
treues Getier, alles meins …“

Und ja, du erhebst dich (nicht)
und du siehst: es erfüllt sich der Traum.
Ein Bruder eilt zärtlich zu dir,
dich im Kampf zu zerreißen.

1. April 2009 20:25










Carsten Zimmermann

meisterschaft

wo immer er hinkam
befand er sich schon

es war ein rätsel wie er
das anstellte

als hätte er sich
aus dem hut gezogen

doch er beteuerte
er wisse von nichts

1. April 2009 08:16










Hans Thill

Der Barbar von Vézelay

vezelay11

Spricht zu den Steinen mit der hohen Stimme einer Frau in den Coloraturen der Hoeflichkeit

Er besitzt einen Kugelschreiber und ein grosses Haus mit Garten, mehr nicht

Er beginnt ein Alphabet. Das Wort »absolut« soll heissen: geloestes Gewuerz, lange Klinge. »Glottis« waere: Aufzaehlung alter Stimmen nach der Reihenfolge ihres Hinscheidens. »Tartar« ein Kaiser der Barbaren, tatenreich usw

Lehrer und Schueler. Der hl. Martin und der Baum der Heiden. Weltliche Musik und der Teufel der Unreinheit

Er sagt: ja, kann man. Er nimmt das offene A aus der Liste, erbost ueber das O. Welcher Buchstabe hat keine Zunge? Was braucht das Q?

Er legt sein Ohr an die Hand, sagt: mobile. Eine Sprache, den Kindern von Wespen eingeimpft mit
dem Stachel der Schrift

In jeder Zeile hoert er den Stock des Blinden.
Klopstock. Eich, fuenf Punkte am Arm, Binde
des Blinden, Sellerie der Anarchie usw.

Zuechte Wespen. Die Kerze der Wespe festziehen.
Zeuge die Ameisen unterm Stein

31. März 2009 21:52










Kerstin Preiwuß

Wunschloses Verlangen

„Man besitzt nur das, worauf man verzichtet“, denkt die französische Philosophin Simone Weil. Dieser Habseligkeit ginge ein „wunschloses Verlangen“ voraus, das sich selbst genüge. Und weiter: „Schauen und Warten ist das Verhalten, das dem Schönen angemessen ist. Solange man noch vorstellen, wollen, wünschen kann, erscheint das Schöne nicht“.
Dieser Zirkelschluß vom Wissen um den Mangel als Bestandteil der Welt, in der wir leben, zu der Einsicht, daß es menschlich ist, ihn idealistisch zu begreifen, ist uns immanent. Weil unsere Wahrnehmung begrenzt ist, weil es uns also daran mangelt, die Welt anders zu erfahren als in der Flüchtigkeit unseres mit der Zeit (ver)gehenden Lebens, erscheint uns das empfindungslose Universum umso größer. Diese Diskrepanz zwischen der sich nach Grenzenlosigkeit sehnenden menschlichen Existenz und der Grenzenlosigkeit des Universums speist jene Energie, aus der heraus seit Platon Schönheit entsteht – als Mittler zwischen beiden Polen.
„Schauen und Warten ist das Verhalten, das dem Schönen angemessen ist. Solange man noch vorstellen, wollen, wünschen kann, erscheint das Schöne nicht. Darum liegen in aller Schönheit unaufhebbar Widerspruch, Bitterkeit, Abwesenheit“, lautet die Konsequenz des Weilschen Denkens. Sich von den schönen Dingen entfernen, um Schönheit zu erfahren, ist vielleicht eine der fruchtbarsten Paradoxien der Kunst.

30. März 2009 18:47










Carsten Zimmermann

ich möchte irgend etwas für dich sein

Diese schöne Zeile aus einem Liebeslied von Tocotronic enthält in nuce das Dilemma der Subjektivität. Etwas zu sein ist ein Widerspruch in sich. Etwas kann etwas nur symbolisch sein, und das heißt imaginär. Etwas Imaginäres kann man nur sein wollen oder zu sein vorgeben, aber nicht sein.
Dennoch hat man uns beigebracht, daß etwas zu sein wünschenswert ist, wenn nicht, daß es das entscheidende Lebensprojekt darstellt. Die ganze postmodern-kapitalistische Welt beruht auf der Verführungskraft von letztlich trivialen Identitätsangeboten. Eben der Widerspruch, etwas sein zu wollen, erscheint als der Motor der kapitalistischen Rastlosigkeit und Rücksichtslosigkeit in einer Kultur, die die Produktion gegenüber der Kontemplation maßlos favorisiert.
Die Alten hingegen wußten, daß man nur nichts sein kann, weil Nichts und Sein (und Alles) zusammenfallen, und zwar nicht abstrakt, sondern unmittelbar. Wir Heutigen wissen bei aller Überproduktion von partikularem Wissen nicht mehr, sondern weniger als sie. Wir bestehen darauf, einen Widerspruch zu verkörpern. Es ist zum Scheitern verurteilt.

30. März 2009 15:41










Thorsten Krämer

Appellare humanum est

Während im Feuilleton, und vermehrt auch unter den Autoren, die Debatte um Google Books und Open Access tobt, gerät ein anderes, schon viel zu lange sträflich vernachlässigtes Problemfeld vollends aus dem Blick: Die systematische Verletzung, ja Aushöhlung des Urheberrechts durch Antiquariate! Besonders jene, die sich durch den Euphemismus „modern“ das Deckmäntelchen der Aufgeklärtheit anziehen, erzielen seit Jahrzehnten ihre Gewinne einzig und allein auf Kosten der Autoren und Verlage. Denn die Bücher, die sie einkaufen, verkaufen sie ja zu einem höheren Preis weiter; von dieser Differenz fließen aber null Prozent an die Urheber, mit deren geistigem Eigentum hier also auf übelste Weise Schindluder getrieben wird.
Besonders perfide an dieser illegitimen Wertschöpfung ist die Möglichkeit, dasselbe Buch nicht nur einmal, sondern wieder und wieder zu verkaufen, jede einzelne Transaktion nichts anderes als ein Griff ins ohnehin gebeutelte Portemonnaie des Autors! Doch nicht nur das: Oft werden dort Bücher verkauft, die praktisch neuwertig sind, deren einziger ‚Mangel‘ in einem fadenscheinigen Stempel, oder gar nur einem lieblos ausgeführten Strich mit dem Filzstift besteht. Kein Wunder, dass viele Buchkäufer da zu dieser preiswerten Alternative zum Neu-Buch greifen! Es ist bezeichnend, dass die Verluste, die dadurch jährlich entstehen, noch nie Gegenstand einer umfassenden Erhebung waren!
Im Falle von vergriffenen Büchern ist der Schaden durch die Antiquariate freilich noch größer: Indem sie solche Titel in gebrauchter Form verfügbar halten, verhindern sie, dass es zu Neuauflagen kommt – auch dadurch werden Verlage und Urheber um ihre verdienten Einkünfte gebracht. Ein anderer Schaden ist zwar nicht finanzieller Natur, trifft aber besonders die sensibleren unter den Autoren: Mitunter entdecken sie ihre Bücher in solchen Antiquariaten in unmittelbarer Nähe von Titeln, mit denen sie nichts gemein haben wollen – die Periodika des Fleischerhandwerks seien hier nur als besonders abstoßendes Beispiel genannt. In manchen Fällen fungieren die Bücher sogar ausschließlich als Lockangebot für der Literatur gänzlich wesensfremde Geschäftsinteressen: Vor dem Schaufenster steht dann beispielsweise eine sogenannte Bücherkiste, während drinnen gebrauchte Kinderkleidung verkauft wird!
Es ist deshalb an der Zeit, dass Autoren, Verleger und Literaturwissenschaftler nicht länger die Augen vor diesen Missständen verschließen, sondern entschlossen an die Politik appellieren, um diesem Treiben ein Ende zu machen. Die Forderung kann nicht anders als eindeutig ausfallen: Sofortiges Verbot des Verkaufs gebrauchter Bücher und Schließung aller Antiquariate!
(Wünschenswert wäre es übrigens, wenn ein solcher Appell von einem Ort wie Göttingen oder Tübingen ausginge, schon allein der symbolischen Wirkkraft wegen.)

26. März 2009 16:07










Markus Stegmann

dehnt

der weder schlägt
macht parliert und
zementierte
sag und
bleibe
die motorische die
betritt aber federnd
ins Hinterland
Stauseen heisst es
laue Luft kommt schwarze
kommt Nacht
Sediment
schwerelose Pfirsiche im Schlupfloch
liegende Stirnen
gewässert abgelegene
Spuren Büsche verwachte
Bootsspuren alt ausser
im Kauwasser tropfende
Platten schwerer Tiere
metrische Beschläge am
Sperrhahn fürs Frischwasser
Kehle ein
Metronom dehnt das Gestirn
zwischen fort und
Folge davon binden
Fische das letzte Geflecht
welcher Darm schnitt
den Faden

25. März 2009 23:49