Mirko Bonné

Kondopoga

Anfang Oktober Winterbeginn,
Birkenmoore. Birkenmoore
im Dunst der Zellulosefabrik,

Girlies auf Glitzerpumps
stöckeln über Schlaglöcher
zu einer Rostlaube im Garten.

Da lehnen Männer an dem Wolga
und kippen einem Schäferhund
vor der Baracke Wodka ins Maul.

Alle zehntausend Seen sind grau.
Groß wie ein Meer ist der Onega
und Murmansk einen Tag entfernt.

Bei der Holzkirche am Wasserfall
tosten zu Parteizeiten Baumstämme
wie Breschnews Panzer die Suna flussab,

wo jetzt der Ministerialbau steht,
wuchsen Hagebutten und Heckenrosen,
so war es. Aber jetzt ist es anders.

Eine Elchkuh ertrinkt, dazu fiepen
elektronische Autotürverriegelungen,
und vorbei wankt blau ein Trolleybus.

*

22. Februar 2022 21:20










Christian Lorenz Müller

Put woiny

Irgendwo bei Brjansk ging mein Opa
im Winter 41/42 von der Front nach hinten,
auf einem Knüppelweg
aus Birken, Kiefern, Kiefern, Birken
wo kleine, zähe Russenponys
die Schlitten mit dem Nachschub zogen.
Nach ein paar Kilometern schon
stand er vor einen Landser,
der zwischen Knüppeln lag,
Birke, Birke, Kiefer, ein Soldat,
er war so hart vom Frost,
dass selbst die Schlitten seinen Körper
nicht zerkuften, er hatte Eismeeraugen
und sein Mund war zugeweht vom Schnee.
Opa machte einen großen Schritt,
er hatte eine Nachricht in der Tasche,
an irgendeinen Offizier,
der in einer Kleinstadt
in einem warmen Keller saß.

Zwei Tage später, als mein Opa
erneut nach vorne musste,
sah er, dass der Landser
noch auf der Rollbahn war,
die Augen schwarz vom Schmutz,
den Mund ganz voll mit Dreck,
so lag er da, fast schon so dunkel
wie ein Kiefernstamm, und wieder
stieg er über ihn hinweg,
lief an die Front, wo in zerstörten Dörfern
die Ponys hungrig und erschöpft
das Dachstroh von den Isbas fraßen.

Путь войны/Put woiny – Der Weg des Krieges
Исба/Isba – Russisches Holzhaus

 

16. Februar 2022 09:52










Markus Stegmann

Brombeeren

Von Säcken Zement Kartoffeln und Tabak
erzähle ich mir gerne von Lastwagen auch
mit zu viel Krieg beladene Aussicht
über Winterfelder Balkongeländer
müsste ich streichen vergessene
Plastikblumentröge traurige
Miniaturschiffe auf das Riff der
Vergangenheit gelaufen in Schlaufen
verlegen sich Wind und Wasser heute
vermengen sich mit meinen Fingern als
die Tage noch andere Tage waren
und meine Hände auch

Nur nützen die Schlaufen den Worten
wenig die ich über die Felder schwanken sah
die getrockneten erinnerten Gegenden
mit ihren Adlern und meinen Schmerzen
im Rücken fahre ich gerne fort mit Reben und
Brombeeren die ich auf kleine Leinwände patsche
dort wollen sie lieber unvollständig bleiben
und sollen es gerne sein

12. Februar 2022 11:24










Mirko Bonné

Zerlegung des Zerberus

Entsorgen wollen sie mich, meine Lieben,
wie ihre Mutter unseren Hund – nein, das
weiß nur noch ich. Ein gelber Collie-Mix,
der so treu war, dass er mir des Öfteren
zu weinen schien. Jetzt verstehe ich ihn.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.

Natürlich, seinen Vater soll man zerstören.
Meiner, der schlug einmal meinem Hund
fluchend mit der flachen Hand aufs Maul,
weswegen ich nie wieder ein Wort mit ihm
sprach. Er ist tot, und ich gebe nicht nach.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.

Innigkeit fällt uns nicht zu, sie hat triftige
Gründe, aber einen Anspruch auf Liebe
niemand. Doch ist jeder ihrer wert, jeder
Hund, der treu war, nicht bissig, nur nicht
beliebt. Gut, wenn es ihn nicht mehr gibt.
Indifferenz ist die Sprache des Gespensts.

*

27. Januar 2022 21:36










Andreas H. Drescher

Das was von der Topographie der Gerste
noch in die verschlossene Scheune passt
noch in die Scheune als Kassenabschluss

Das diese Idee dieser kompakte Schaden der
noch vor dem ersten Rotor eingezogen war
noch vor dem erstgeborenen Elektrozaun

Das erholt sich nun nicht mehr
Das versteckt sich in sich selbst

Noch rütteln nur Kuckuckshummeln daran
Noch nicht die Angelruten von Hornissen

26. Januar 2022 21:35










Andreas Louis Seyerlein

~

15.18 UTC — Winter. Landschaft tief verschneit. Ich erinnere Vater, wie er auf den Balkon unseres Hauses ein Kamerastativ stellt. Der Fotoapparat, den er auf das Stativ schraubte, richtete seine Augenlinse zum Garten hin, auf eine unberührte Decke von Schnee über einem Teich, der sich kaum wahrnehmbar durch eine leichte Vertiefung abzeichnete unter dem glitzernden, kalten Tuch. Von dem Fotoapparat aus führte ein feines Kabel in Vaters Arbeitszimmer. Das Kabel war mit seinem Computer verbunden, der dem Fotoapparat jede halbe Stunde einmal Anweisung gab, eine Aufnahme des Gartens anzufertigen. Viele Jahre später entdeckte ich eine Serie dieser Aufnahmen. Spuren sind dort zu erkennen einer Katze, die selbst nicht zu sehen ist. Der Kopf einer Amsel weiterhin, die nach ihrer Landung im Schnee versunken zu sein schien. Kurz darauf eine weitere Katze, die der Spur jener unsichtbaren, früheren Katze folgt. Auch Mutter hat ihren Auftritt. Ihr Kopf ist zu erkennen, und ihre Hände, die in den Bildausschnitt ragen. Sie wirft Nüsse in den Schnee. Eine weitere Aufnahme, es ist vielleicht später Nachmittag, zeigt Vater inmitten seines Gartens. Er schaut hoch zur Kamera. — stop

> particles

20. Januar 2022 21:01










Konstantin Ames

s Wegeverhalten

Trampeln auf deiner, meiner Gesundheit herum.
Nennen s Spaziergang. Als ob Deutschreicher
Österländer das könnten! Sind für die Theorie
zu infantil, verkörpern lieber Ellenbogen, Oden, Essays.

Verscherbeln s letzte Rilkesilber, tanzen Raben an, Kumpels
im Kunstpelz belobigen ihre Organe, rücken ihre Zitrönchen
zurecht; man sieht die Wunder kaum vor lauter Hörnchen.

Ging das letzte Impflicht auf, würde dieser prosaische
Handkäs hier ein kunstvoll Lied von Walle Sayer.

20. Januar 2022 17:56










Alexander Peer

Parasitär

Ein Virus bietet eine umso größere
Projektionsfläche, je kleiner es ist.

Es ist vollkommen vom Wunsch
nach Symbiose beseelt.
Und sie gelingt.

Ein Gast,
der Gastfreundschaft
missbraucht.
Der Preis
wird rasch
in Rechnung gestellt.

Weil der Wirt für immer schließt
oder der Rauswerfer ruft:
„Ich habe fertig!“

 

20. Januar 2022 11:45










Mirko Bonné

Tegernsee. Reprise

Die einzige Hostie deines Lebens schmolz
    auf deiner Zunge in dieser Bauernkirche.
Deine Jüngste bestaunt die Einritzungen
    im Geländer der Empore: Gleichaltrige
schickten ihr Nachrichten, vom Juli 1759.
    Tölz, Isarhochwasser, und das Spaßbad,
du hast da schwimmen gelernt, abgerissen.

Regenfälle, als versuchten die Berghänge
    flüssig zu werden. Es schwemmt sie weg,
deine Wurzeln, und: Du hast eh nichts mehr
    zu suchen hier, du Spross einer Gegend.
Hirschwirtkind. Du Umbruchsohn. Du Leser
    leerer Schatten, von singbarem Schwund.
Und jedes Und ein Grund zur Versöhnung.

*

19. Januar 2022 18:03










Konstantin Ames

Scheffin

Ohne Mask, ohne Mask
Scheffin fleht zum hl. Musk
nationalnotlagenfalls
räuspert sie sich dick den Hals:

Bullshitjob, der Unterschleif
Unterricht im Second Life.
Anzeigt wird angezeigt,
dass die Scheffin hats vergeigt.

18. Januar 2022 19:10