Christian Lorenz Müller

MASCHINENTIER

Großvaters Kreissägentisch war ganz aus Holz,
urtümliches Tier mit zerschartetem Rücken,
das monatelang, grau von altem Sägemehl und Spinnweb,
reglos in einem zugigen Schuppen stand.
Nur wenn Großvater den Motor in Gang brachte,
wurde es lebendig, es spürte den Treibriemen,
der, drei oder vier Meter lang,
vom Motor bis zu einer primitiven Achse führte, einer Trense,
an der der Riemen grob zu ziehen anfing. Das Kreissägentier
warf sich auf, nüsterte Holzstaub durch den Stall,
stampfte seine Balkenhufe gegen Bodenbretter,
und ich, zehn- oder elfjährig, sah es flüchten,
sah es zu Tal galoppieren, sah Großvater,
der an der Spannschraube drehte, hilflos im Riemen hängen.

Das Urtier aber blieb an seinem Platz,
und nun begann das böse Sirren, das war das Blatt,
flugrostige Sirene, die sich in die Mähne krallte,
in das Sägemehl, das aus dem Urtiernacken flog,
als Großvater das erste Stämmchen
in die Schneide schob. Die Sirene seufzte auf,
dann zerschrillte sie das Holz, sie sirrte, seufzte, schrillte,
und ich zerrte Stamm um Stamm, Ast um Ast
aus einem maßlos großen Haufen, der vor der Hütte lag,
ein ganzer Wald, in dem mein Eifer, kindlich,
sich verirrte, ich brachte Nahrung für das Tier, ich zog das Holz,
das die Sirene seufzen machte, schrillen, seufzen.
Ich wusste: ohne mich
war mein Opa ganz verloren, er fütterte das Tier,
stand stoisch mitten drin in seinem Toben,
den Peitschenriemen um die Beine, ohne Brille,
ohne Schutz für das Gehör. So kämpfte er
die bösen Geister seines Schuppens nieder, mit Kernholzaugen
starrten sie aus jedem Aststück, das zu Boden fiel.

Als es Abend wurde, war der Wald verschwunden.
Das Sirren, Seufzen, Schrillen
hörte auf, hallte wider, hörte auf. Taub von der Stille
wartete ich erschöpft im Schuppen,
das Blatt, nun flugrostfrei, blankte auf dem Tier,
ich nieste, weil der Sägestaub noch für Minuten
in der Luft hing. Regungslos stand nun das wilde Wesen,
bis zur Kruppe in den Brennholzaugen,
dann kam die Dunkelheit, kam die Kälte, und Opa sagte
„gut ist‘s“ und er ging.

6. Januar 2021 11:12










Tobias Schoofs

ÜBER TURING HINAUS

die maschine unscheinbar wie sie wirkt
ist unseren maschinen bei weitem über
legen: sie kann sich in jede maschine

verwandeln die denkbar ist und anders
als bei unseren heutigen maschinen ist
es nicht mehr nötig ihr schriftlich genau

zu beschreiben was erforderlich ist sie
liest in deiner seele wie in einem buch
und erschließt sich selbst was du willst

sie beginnt sich langsam zu verwandeln
sie versteht was das was du willst im
zeichensystem deines innern bedeutet

und so entsteht vor deinen augen:
eine markov-kette deiner wünsche

4. Januar 2021 00:20










Christine Kappe

Die Leichtigkeit der früheren Jahre

das Problem ist gar nicht, dass sie nichts verkaufen, sondern, wie sie die Zeit rumkriegen, ohne verrückt zu werden, abgesehen davon, dass ich mir von den Typen gar nichts, noch nichtmal Geld andrehen lassen würde

der Kaufhausdetektiv ist heute fast verzweifelt, als ich das falsche Datum auf den Verhaftungsantrag schrieb, aber mehr als draufzeigen und stöhnen konnte er nicht

nachts haben sie in der Birkenstraße eine Bombe entschärft und wir uns zu Oma Emmi geflüchtet, da ist es immer viel zu warm, aber durch das theaterhafte Getue der Kinder („Oh, ich schwitze!“) wird es unwahr wie der Schlaf

ich brauch grundsätzlich eine neue Erzählstimme für tagsüber
und nachts werde ich dichten, bis Yo klingelt

für Gerhard

31. Dezember 2020 11:00










Mirko Bonné

Für Lucile

Halt du die fürchterlich schwarzen
Flecken zwischen den Knospen
der Fensterorchidee nicht für
Nacht, oder für das Dunkel
in deinen Gedanken. Hör
die weißen Tasten. Und
denk an das Kind, das
da im Zimmerhalblicht
des Dezembervormittags
Klavier spielt. Es spielt weiter,
auch wenn du die Vorhänge schließt.

*

28. Dezember 2020 22:32










Andreas Louis Seyerlein

~

14.12 UTC – Als ich noch ein Kind gewesen war, lernte ich bald das Geräusch der Fotografien kennen. Es war zum Beispiel Samstag. Der Fotoapparat, der das Licht zu fangen vermochte, befand sich irgendwo außerhalb meines rollenden zu Hauses in den Händen meines Vaters, der die Linse auf mich richtete oder in den Himmel hinauf oder auf das lachende Gesicht meiner schönen Mutter, die den Kinderwangen schob und schaukelte. Dann, auch an jenem Samstag zum Beispiel, war sehr bald ein wunderbares Geräusch zu hören, das ich noch immer in meinem Gehirn nachbilden kann, eine Sammlung sehr heller trillernder, auch raschelnder Töne, ein Gleiten von 1 Sekunde Dauer. Und noch einmal, ja, er lacht, sagte mein Vater, und dass ich tatsächlich lachte, würde ich einige Jahre später mit eigenen Augen sehen vor einer Leinwand sitzend, auf die das Licht fiel, das mein Vater eingefangen hatte. Dieses Licht, das aus einem surrenden, hechelnden grauen Kasten strömte, war ein Licht, das den Staub der Luft zum Leuchten brachte, als würde es schneien in unserer kleinen Wohnung. Fotografieren war für mich zunächst ein Ton, nachdem sich auch die Vögel in den Wäldern und Parks herumdrehen wollten. – stop

22.12 UTC — Die Bilder des letzten Films, den mein Vater mit seinem Fotoapparat aufgenommen hatte, zeigen seine Hose, seine Schuhe, Treppenstufen, eine Taube. Als ich die digitalen Fotografien für meinen Vater auf seinem Computer öffnete, hockte der alte Mann in der Betrachtung seines letzten Films vor dem Bildschirm und klickte immer schneller werdend von Bild zu Bild. Er sagte, dass er sich an das, was er fotografiert hatte, genau erinnere. Da war eine Landschaft nahe Prag durch das Zugfenster aufgenommen, da war eine weitere Landschaft, kurz nachdem der Zug den Prager Bahnhof verlassen hatte, da war ein tanzendes Paar auf einem Donaureiseschiff nahe Budapest. Und da war Mutter, die neben einem Rettungsboot desselben Schiffes stand und lächelte. Vater hatte ungefähr 50 Aufnahmen gefertigt, jede der Aufnahmen zeigte nun seine Schuhe, seine Hose oder eben eine Taube, die zu seinen Füßen Brotkrumen pickte. Er war verzweifelt. Da stand ich leise auf und suchte nach seiner Kamera. Ich bin doch nicht verrückt geworden, sagte Vater. Nein, antwortete ich, schau her, Du bist nicht verrückt geworden! Vater nahm seine Kamera in die Hand. Er schüttelte den kleinen, flachen Apparat und sagte: Na, das ist mein vielleicht seltsamster Film geworden. Diese Taube hier, da waren wir schon auf dem Schiff gewesen. Es war Nachmittag. Ich muss etwas an der Kamera verstellt haben. Dieses Rädchen hier könnte es gewesen sein. Immer Sekunden zu spät. Na sowas, sagte Vater. — stop

> particles

25. Dezember 2020 20:39










Hans Thill

Wordsworth Colportage

We have given our hearts away, a sordid boon!

Mein lieber Herr Gesang, ich fass
das nicht mehr an. My face is ugly
und nutzlos wie mein Herz.

Bei mir: nur um das Handgelenk, sonst bin
ich dick

18. Dezember 2020 15:29










Konstantin Ames

Finalistenlyrik

Katze wächst an Ast
von dem das Blatt fiel.

Um Harmoniebedürftigkeiten
zu wissen ist doch schon viel.

Dies dienstäglich Zerrissene

Auszeichnungen behängen sich mit Schreibenden
wie Weihnachtsbäume (Arme genug gäb es)
sich mit Kugeln behängten
wären sie so eitel wie Jurys

Und die Bullys verwechseln ihr Grauen
mit grauer Theorie; wählen so ihr Ziel.

Und die Selbstfürsorglichen haben das Wichsen
einfach über. Ceci n’est pas du miel

9. Dezember 2020 22:35










Mirko Bonné

Stehbierhalle

Abends in der Stehbierhalle, Trakl redete
über Goethe im Gegensatz zu Jesus,
Mörike. Sprach ihm alle Höhe ab,
dafür ungemein erstaunliche Weite zu,
gleiche so dem Weibe. Sei ganz oberflächlich,
bleibe überall an der Oberfläche, sei herzlos
und seine Art Lüge teuflisch. Er sei kein
echter Dichter, gebe sich nicht daran
wie Mörike, wie Liliencron, der sich
verblute an seinen Stoffen. Goethe habe
nie, auch nicht als junger Mensch, neurasthenisch
gedichtet, Liliencron schon. Alles Gedichtemachen sei
nichts. Wozu Gedichte und Welt als Wille und Vorstellung,
wenn man das Evangelium habe. Ein paar Worte
aus dem Evangelium hätten mehr Leben
und Welt und Menschenkenntnis
als alle diese Gedichte, „selig
sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist
das Himmelreich“, daneben seien die Dichter so
überflüssig, so dumm. Alle seien sie eitel, und
Eitelkeit sei widerlich. Die Wahrhaftigkeit
billige er Goethe zu. Dessen Größe sei,
dass er sie trotz allem habe. Mitteilen
könne man sich auch nicht mit Gedichten.
Man könne sich überhaupt nicht mitteilen. Alles
Ausspruch. Goethe sei oft schamlos, voll Ausspruch,
voll Bekenntnis, und gebe sich doch der Sinnlichkeit hin.

*

9. Dezember 2020 15:13










Konstantin Ames

Neues vom Knie IV

Und, Lieber, lieber Wortwurst auf der Pellétage als in der Casa Pound.

8. Dezember 2020 09:21










Konstantin Ames

Neues vom Knie III

Schlecht-Test, Schlachtfest – Wundert ihr euch nicht wenigstens manchmal darüber, das-mit-scharfem-s euch nichts Gereimtes mehr unterkommt? Selbst Bartstoppeln träumen vom Doppel mitm Rasierer, Punkte von Unken. – Doch! Fragt die Unken!

8. Dezember 2020 09:19