Mirko Bonné

Aus den Rimbaud-Übersetzungen

Bannières de mai

Aux branches claires des tilleuls
Meurt un maladif hallali.
Mais des chansons spirituelles
Voltigent parmi les groseilles.
Que notre sang rie en nos veines,
Voici s’enchevêtrer les vignes.
Le ciel est joli comme un ange,
L’azur et l’onde communient.
Je sors. Si un rayon me blesse
Je succomberai sur la mousse.

Qu’on patiente et qu’on s’ennuie
C’est trop simple. Fi de mes peines.
Je veux que l’été dramatique
Me lie à son char de fortune.
Que par toi beaucoup, ô Nature,
− Ah moins seul et moins nul ! − je meure.
Au lieu que les Bergers, c’est drôle,
meurent à peu près par le monde.

Je veux bien que les saisons m’usent.
À toi, Nature, je me rends ;
Et ma faim et toute ma soif.
Et, s’il te plaît, nourris, abreuve.
Rien de rien ne m’illusionne ;
C’est rire aux parents, qu’au soleil,
Mais moi je ne veux rire à rien ;
Et libre soit cette infortune.

Mai 1872.

Maibanner

An den helllichten Lindenzweigen
Verendet elend ein Halali.
Geistliche Lieder aber schwirren
Da zwischen den Johannisbeeren.
Dass uns das Blut lacht in den Adern,
Sieh nur den Wirrwarr Weinberg an.
Der Himmel ist hübsch wie ein Engel,
Azur und Wogen werden eins.
Ich geh. Falls mich ein Strahl erfasst,
Krepiere ich halt auf dem Moos.

Dass man Geduld hat und sich langweilt,
Das ist zu simpel. Bah, mein Kummer.
Ich will dramatisch mich vom Sommer
Fesseln lassen an sein Glücksgefährt.
Dass ich an dir so, o Natur,
– Nicht einsam, ah nicht nichts! − oft sterbe.
Statt dass die Schäfer, guter Witz,
Halbwegs verrecken an der Welt.

Ich will mich mürber jeden Monat.
Dir gebe ich, Natur, mich hin;
Samt Hunger und samt allem Durst.
Und bitte dich um Speis und Trank.
Nicht das Geringste kann mich täuschen;
Lacht an die Eltern, wie zur Sonne,
Ich aber will zu gar nichts lachen;
Und frei soll dieses Unglück sein.

Mai 1872.

21. Mai 2024 17:42










Hans Thill

Nach Pfingsten

Item waz eyn knabe van vierzehen jairen zu Heiligeroide mit syme fader und moder des mandag(es) na pynxsten (16. Mai 1429) und saede, wie hey van eyme boyme in eyne stecken an eyme zune gefallen were yn synen lyff und brach sich selver uß dem stecken, also dat yne alle syne yngeweyde uß seyme lyve geinck, und greiff der knabe dar und hielt syne derme in syne armen, bis hey heym quam, und en konde yme dat neman weder yn brengen und woirden vader und moder zu gedencken an die genade unser liever frauwen zu Heiligerode und geloiffden den knaben aldar und alsbalde sy die geloiffde gedaden, doy namen sy die derme und daden dy dem knaben weder yn und genaß der knabe des woil und is vader und moder mit yme zu Heiligeroide geweist und loiffden und danckten Marien.

19. Mai 2024 14:49










Christian Lorenz Müller

DU FÄLLST NICHT

Gleich neben dem Schreib-
tisch fenstert etwas. Beug dich
hinaus ins Blaue.

Der Wein fasst nach den
halb geöffneten Läden,
hakt sie an die Wand.

Lehn dich viel zu weit
aus dem Fenster. Du fällst nicht,
du schreibst ein Gedicht.

14. Mai 2024 09:57










Thorsten Krämer

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Doppelseite

13. Mai 2024 14:26










Mirko Bonné

Der Buëch

Er kommt dir
in der Finsternis
aus dem Schädel
gestürzt, der Fluss,

du hast die Alpen
hinter den Augen,
ihr Schiefergrauen
ein Totholzbrausen.

Die Burg von Serres
geopfert Brückenbau,
Brücken weggerissen,
Hindernis, Hindernis,

hinter deinen Augen
rauscht in dir talwärts
der gestürzte Fluss.
Das Schotterwasser.

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29. April 2024 01:16










Thorsten Krämer

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Doppelseite

28. April 2024 11:35










Thorsten Krämer

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13. April 2024 12:27










Mirko Bonné

London 1873

London 1873 (2024)

Rimbaud kam vier Tage nach Oscar Wilde auf die Welt, Oscar am 16. Oktober 1854, Arthur am 20., der erste in Dublin, der zweite in Charleville, einer Stadt im äußersten Osten Frankreichs, auf halbem Weg zwischen Lille und Nancy. Rimbaud nannte seinen Geburtsort Charlestown, und der junge Wilde verlebte schöne Sommertage in Charleville, der irischen, wundervoll grünen Landschaft. 1854 war John Keats erst 33 Jahre lang tot. Mit 22, im Alter, als Wilde anfing zu schreiben und Rimbaud Gedichte schon als Spülwasser bezeichnete, schrieb Keats in seine Ausgabe von Miltons „Paradise Lost“ eine Bemerkung an den Rand, eine Frage, die er sich selbst beantwortet. Beide Sätze lauten: „What creates the intense pleasure of not knowing? A sense of independence, of power, from the fancy’s creating a world of its own by the sense of probabilities.“ Frage und Antwort bilden nichts Geringeres als Keats’ eigene, sogar handgeschriebene Definition dessen, was er in einem Brief kurze Zeit später „Negative Capability“ nannte – die das dichterische Gemüt kennzeichnende Negativbefähigung: Der dichterische Mensch ist imstande, Zweifel und Halbwissen nicht nur zu ertragen, sondern fruchtbar zu machen. „Was bringt die intensive Freude am Nichtwissen hervor? Ein Sinn für Unabhängigkeit, für Kraft, der daher rührt, dass die Fantasie kraft des Sinns für Wahrscheinlichkeiten eine eigene Welt hervorbringt.“ Weder Rimbaud noch Wilde kannten die beiden Sätze. Sie müssen ihren Sinn auf andere Weise verinnerlicht haben.

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9. April 2024 11:26










Björn Kiehne

Die unsichtbaren Flüsse

In den Morgenstunden, als ich

dein Kind war, hielt ich das Ohr

dicht an die Erde,

hörte ein Rauschen.

 

Musste lernen, allein zu sein,

um ihnen zu lauschen,

an ihren Ufern zu gehen,

die niemand sah außer mir.

 

Die Gedanken gingen mit,

dass aus mir nichts wird,

ich niemandem genüge, stecken-

bleibe in meinen Möglichkeiten.

 

Aber auch die Ahnung,

dass die Welt einen Riss

hat, durch den ein

Versprechen flüstert:

 

Da sind Flüsse,

die auf dich warten

und ein Meer.

 

Da sind Flüsse,

die auf dich warten

und ein Meer.

 

Da sind Flüsse,

die auf dich warten

und ein Meer.

Dedicado a Moisés Gutiérrez Medina, +2024, que partió en busca de los ríos invisibles.

8. April 2024 07:50










Thorsten Krämer

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März 2

28. März 2024 09:42