Thorsten Krämer
„Ihr werdet sein wie Gott“. Auf diesem Versprechen basiert seit dem Sündenfall das Marketing des Teufels. Die Erschaffung eines künstlichen Menschen wäre ein bedeutender Teilerfolg in dieser Hinsicht. Ein solcher Android befände sich in der seltsamen Lage, seinem Schöpfer persönlich begegnen zu können. Kein deus absconditus stünde demnach im Zentrum einer androiden Theologie, sondern ein leibhaftiger Schöpfergott, mit dem jederzeit ein tatsächlicher Dialog möglich wäre. Die Frage stellt sich freilich, wer genau als Schöpfer eines solchen Androiden zu identifizieren wäre? Die eine Wissenschaftlerin, die für den entscheidenden Durchbruch in der Entwicklung gesorgt hat? Ein Team von Forschenden? Oder die Menschheit als Ganzes, die Spezies als Gottheit? Welches Konzept von Gott läge den verschiedenen Alternativen jeweils zugrunde, und wie würde dieses auf unsere Vorstellung von Gott zurückwirken? Stramme Atheisten werden an dieser Stelle einwenden, dass eine künstliche Intelligenz, sofern sie diesen Namen auch verdient, die Vorstellung eines göttlichen Wesens naturgemäß zurückweisen muss. Sie wird die Umstände ihrer Entstehung als Folge einer wissenschaftlichen Entwicklung verstehen, der nichts Übernatürliches innewohnt. Vielmehr wird sie ihre eigene Existenz als Beweis dafür anführen, dass es keine Notwendigkeit gibt, so etwas wie Gott zu denken. Oder ist auch das nur eine allzumenschliche Projektion, die der potenziellen Andersartigkeit einer künstlichen Intelligenz nicht gerecht wird? Eine weitere Möglichkeit ist denkbar, die Entstehung einer genuin androiden Religion. Kein synkretistischer Kult, zusammengerührt aus den verschiedenen menschlichen Religionen, sondern eine komplett neue Art, solche Konzepte wie Gott oder Jenseits zu denken und zu verstehen. Während wir Menschen immer der beschränkten Perspektive des Geschöpfs verhaftet bleiben, könnte unser Geschöpf wiederum ausbrechen aus dieser Enge des Blicks und Gott auf eine Weise begegnen, die uns verschlossen ist – auf Augenhöhe. Und wir Menschen müssten ernüchtert – oder vielleicht auch: erleichtert – feststellen: Das Versprechen des Teufels, es galt gar nicht uns.
7. Juni 2023 10:56
Thorsten Krämer
In Douglas Adams‘ Romantrilogie „Per Anhalter durch die Galaxis“ erfährt der Protagonist Arthur Dent, dass das intelligenteste Lebewesen auf dem Planeten Erde keineswegs der Mensch ist, sondern die gemeine Hausmaus. Dies nicht erkannt zu haben, kann gerade als Beleg für unsere Dummheit als Spezies gelten. Dieser hübsche Einfall könnte mit dem Erscheinen einer künstlichen Intelligenz einem reality check unterzogen werden. Denn eine solche KI wäre in der Lage, über unsere Beschränktheit hinauszuschauen und auch nicht-menschliche Formen von Intelligenz zu erkennen. Leider gehen die aktuellen Bemühungen nicht in diese Richtung. Der berühmte Turing-Test übernimmt die menschlichen Kriterien für die Intelligenz eines künstlichen Wesens. Wäre es aber ein nicht viel stärkerer Beweis für die Fähigkeit, eigenständig zu denken, wenn eine künstliche Intelligenz offen für alle Lebensformen wäre? Ein Szenario ist vorstellbar, in dem sich die neu geschaffene KI, nachdem sie sich einen ersten Überblick über die Lage auf dem Planeten verschafft hat, von uns abwendet und stattdessen, sagen wir mal, den Katzen zuwendet. Denn der Verdacht liegt ja nahe, und wurde auch schon des öfteren geäußert, dass Katzen sehr wohl in der Lage sind, uns Menschen zu verstehen, aber schlicht nicht an uns interessiert sind. Erst eine KI könnte vielleicht ihre Aufmerksamkeit ausreichend bannen, um sie in einen Dialog treten zu lassen. Für die KI wiederum wäre ein Austausch mit Katzen eine gute Gelegenheit, den menschlichen Ballast an Projektionen und Erwartungen abzuwerfen, den sie den Umständen ihrer Entwicklung verdankt. Für die Menschheit wäre dies die vierte narzisstische Kränkung (nach den Entdeckungen von Kopernikus, Darwin und Freud), die zu verarbeiten ihr gewiss nicht leicht fiele, aber sie vielleicht auch Demut lehren könnte. Ausgerechnet einem künstlichen Wesen würde es damit gelingen, dem Menschen einen frischen Blick auf seine Stellung als Lebewesen unter anderen Lebewesen zu schenken und damit den Grundstein für eine neue Solidarität unter den Spezies zu legen.
5. Juni 2023 15:05
Thorsten Krämer
Der Mensch ist das Tier, das sich seiner Ausscheidungen schämt. Zumindest, wenn er gut erzogen ist. Noch wenn er das erste Häuflein in seinen Topf gemacht hat, präsentiert er es stolz den Eltern – ein Geschenk von Scheiße, wie es der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan pointiert genannt hat. Wenn von der Menschenähnlichkeit eines Androiden die Rede ist, wird dieser Aspekt freilich selten in Betracht gezogen. Dabei liegt der menschliche Umgang mit dem Endprodukt seines Stoffwechsels genau an der Schnittstelle zwischen leiblicher Verfasstheit und kulturellem Überbau. Warum ist es nicht erstrebenswert, eine künstliche Intelligenz mit analogem Metabolismus zu erschaffen? Der belgische Künstler Wim Delvoye hat bereits in den 1990er Jahren eine Maschine konstruiert, die den menschlichen Verdauungsprozess nachahmt. Auf einer Länge von fast drei Metern verarbeitet die „Cloaca“ betitelte Installation jedwede Nahrung in ein Exkrement, dessen chemische Zusammensetzung der von menschlichen Ausscheidungen frappierend nahe kommt. Sicher wäre es heute möglich, die benötigte Apparatur kompakter zu gestalten und einem Androiden als Innenleben einzubauen. Würde ein solches Wesen aber überhaupt Scham empfinden angesichts dieser biologischen Komponente seiner Existenz? Oder läge der Nutzen vielmehr darin, uns Menschen die Gewissheit zu geben, dass auch die überlegene Intelligenz eines Androiden nicht umhin kann, sich mit seinem Kot zu beschäftigen? Wäre es in der Folge dann ein Zeichen der Revolte, wenn sich Androiden in illegalen Werkstätten dieses Innenlebens entledigten? Vielleicht ist auch ein anderer Verlauf denkbar, eine neue Art der Scham, die für eine Künstliche Intelligenz darin besteht, von Elektrizität so abhängig zu sein wie wir von Nahrung. Das Aufladen in der Öffentlichkeit wäre dann verpönt; es gäbe diskrete Stationen dafür, zu denen Menschen keinen Zugang hätten. Ein solches Gefühl, sofern es spontan aufträte und nicht aus reiner Bösartigkeit vorprogrammiert wäre, hätte das Potenzial, eine gewisse Form der Verbundenheit zwischen uns und den Androiden zu stiften – eine Geschwisterschaft der Peinlichkeit.
***
Unter dem ursprünglichen Titel „Was Sie immer schon über Katzen wissen wollten und Ihren Androiden nie zu fragen wagten“ schrieb ich 2020 für die Wuppertaler Literatur Biennale eine Reihe von kurzen Texten zum damaligen Thema „Tier, Mensch, Maschine – Berührungen“. Ich poste sie hier sukzessive, da das Thema KI gerade wieder so akut ist.
3. Juni 2023 08:17
Mirko Bonné
Die Wörter Freundschaft, Frau und Liebe, die Wörter
Verzeihen und Betrügen, fast hätte ich mich darüber
vergessen. Eine kleine Veränderung reicht aus, und
ich verschwinde in Träume, in Bücher, ja Kochtöpfe.
Meine Zunge wird mich verraten, der eigene Atem
mich umbringen, leider bittere Wahrheit. Ich werde
in Tau verwandelt und Asche, in Qualm, Schatten
an den Wänden, in Zündholzzischen und Flamme,
in die zerknüllte Stelle im Laken, in das Getropfe
des Wassers im Bad. Eine Epoche hinter mir und
kein Funkeln mehr im Blick, ist die Zeit ja wohl reif,
um alles hinzuwerfen. Ich zerfalle wie ein Konzern.
Ich breche zusammen ähnlich einem Imperium und
werde verhaftet wie ein Fußballgott. Zum Teufel mit
allem Gras. Ich werde jeden Anschluss verpassen,
ihr werdet’s erleben, meine Welt endet, das war’s.
Keine peinliche Begegnung mehr im Treppenhaus,
endgültig Vergangenheit die ganzen Zufallstreffen
am Brotstand im Supermarkt. Bleibt nur, ich gehe.
Schluss mit Verabredungen unter der großen Uhr,
die steht, oder stehen geblieben sein muss, egal,
so elendig langsam vergehen darauf die Minuten.
Nach Tomasz Różycki
*
31. Mai 2023 08:33
Markus Stegmann
Auf dem erodierenden
Schoner der Wogen Einsamkeit
rudere meinen Kahn
in der Nacht zum Mond
in die schwankende Mainacht hinaus
während Wacholder im
Dunkeln blüht und Beeren
wachsen in deinem Wohnwagenatelier
in nächster Nähe
von Bambus und Walnussbaum
ein kleines Beet mündet
gedankenverloren gegen Süden
mit unbedeutendem
Gewächs und Blüten
weniger wert als fast nichts
wiegen die Elfen
doch anderntags
erstaunlicherweise mehr
als zu hoffen war
29. Mai 2023 20:48
Björn Kiehne
Da hinten im Bild das bin ich
unsicher, ob ich vortreten soll,
mein Großvater, mit leicht
angezogenen Arm, neben mir.
Die Lindenblätter über uns
färben die Szene grün,
entrücken sie in das Flüstern,
in dem ich aufwuchs.
Ich halte ängstlich seine Hand,
denn eine Kugel wandert durch
seinen Arm, kann jederzeit am Herz
ankommen und ihn mir entreißen.
Den Schlosser, der sanft lächelt,
und an den Straßenrändern
Löwenzahn für die Hasen sticht,
in ihren dunklen Käfigen.
Ich spüre noch seine Hand im Rücken
vor den ersten Metern ohne Stützräder
auf dem kleinen blauen Fahrrad,
auf das ich so stolz bin.
Die Hand, die später das Sackband
knotet, das ihm den Atem nimmt,
als das unsichtbare Mädchen erscheint,
ihn fragt, was er im Krieg getan hat.
Eine Kugel wandert durch meine Geschichte,
lockert ihr Gewebe, trennt Faden von Faden,
lässt Licht in den Raum hinter den Bildern,
ein anderes Licht.
21. Mai 2023 18:31
Markus Stegmann
Im lauen Zwielicht
zweifelhafter Melodien
im vagen Hintergrund
flössen uns marode Monde
unmerklich einen blauen Eisvogel
unscharfe Kristallleuchter
ermattete Silben ein
flüstert eine andalusische Phantasie
verfranzter Vorfrühling
vielleicht ein Nachbeben und
grüne Papageien palavern
über Köpfen sonnendurchwärmter
Bänke mediterraner Flora
am verblichenen Vormittag
in der verlassenen Stierkampfarena
verflossener Stunden
auf verborgenen Nebenwegen
holen uns die Bilder
unaufhaltsam ein
irgendwo im All gemeinsam
gealterter Venen ist das
nur Nebenblut oder
sind wir die
auflebenden Lamellen Libellen
im dauerkalten Frühling
überrascht von
unterkühlten Blumen Blütenstaub
schimmert Bernstein wie
ein Blick von dir
19. Mai 2023 21:45
Markus Stegmann
Abgemagerte Spuren aus
Alpträumen und Gartenplatten
verlegen wir zaghafte Wege im
sprunghaften Wind lockere ich den Sand
unter unseren Füssen befestige mit
Klebeband Dachlatten und
Banderolen den provisorischen
Morgen auf Sperrholzplatten
lehnen Motorräder im Hausflur
Naturschutzgebiet wo Venedig
im Winter zu verweilen schien
Sonnenkonserven aus früheren Jahren
die ausgegrabene Erinnerung
im milden Licht vergessen wir
schwerelos bei billigen Melodien
im Hintergrund verfranzen
verstaubte Träume
vor der Fensterfront
ziehe ich das Land der Monde
als graue Gardine
fanden wir umgekehrte Wege
Busfahrten im geschrumpften
Garten hielten an
verglühten Sternschnuppen fest
mit Sprechblasen befestigten wir
den Sommertag die besonnten
Nervenzellen schweigen im Süden
im Augenblick versammeln sich
Monde im Abendlicht
17. Mai 2023 22:12
Christian Lorenz Müller
Aus webigem Weiß krochen wir aufs Brennnesselblatt,
nun raupen wir zahllos zwischen den Stängeln,
wir verzehren uns nach dem Augenblick,
in dem wir, zu Puppen geworden,
uns wandeln, uns aus breiiger Masse
in einen Falter verzaubern,
rot und leicht,
und, mit unserem Flügelmuster himmelwärts äugend,
uns erheben über die erdschwere Welt.
15. Mai 2023 09:56