Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (142)

1. Februar 2016, ein Montag

Kopfschmerz, Verstopfung in den Nebenhöhlen. Zu viel süßes Popcorn gestern. Vor allem zu unsinniges Wie-fandst-du-den-film-gespräch. Im unerheblichsten Austausch noch melden sich Reflexe auf Über- oder Unterlegenheit. In die Karre mit diesem Mist!

Adalbert Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters: immer wieder große Landschaftsmalerei, impressionistisch. Naturwahrnehmung als ausgelagerte Selbstentäußerung. Dort darf man spüren, was sich im gezähmten Umfeld verbietet. Stifter hätte vielleicht ganz gut Shiatsu gebrauchen können.

Eben absolvierte ich mein Glückwunsch-Telefonat mit der Schwester. War ich denn einen Augenblick dabei unbefangen und druckfrei? Nein, und die ganze Zeit war es mir bewusst und konnte doch nicht gegen an. Ich tue meiner Umwelt damit Zwang an, denn sie muss auf meinen Zwang reagieren. Eine Anstrengung. Ich sollte weniger anstrengend sein. Ich übe ja nun schon keinen Beruf aus. Vielleicht, weil alles Unanstrengende schon so entsetzlich anstrengend für mich ist, dass ich mehr Anstrengung für unzumutbar halte.

Welche Dinge wünschte ich, in meinem Tagebuch stehen zu haben? … grausliche Leitschnur, selbstgenährte Würgeschlange. Schnürt den Kopf ab. Kopfschmerz.

1. Februar 2017 09:37










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (141)

31. Januar 2016, ein Sonntag

Soeben, es ist bereits nach Mitternacht, heimgekehrt aus The Revenant von Inarritu mit Leonardo DiCaprio. Ein Naturspektakel, in dem DiCaprio (rührend, wie gern er extrem sein möchte) in einer sehr schönen und sehr tödlichen Bergkulisse ums Überleben kämpft. Fünf Minuten davon haben mehr kreativen Input als der komplette Everest, aber im Nachgespräch mit Aikidoka, die den Film blöd fanden, merkte ich schnell, wie künstlich meine Begeisterung ist. Es blieb bei einem süffisanten Schlagabtausch, lediglich darauf aus, den eigenen Blick durchzuboxen, statt einander die Augen zu öffnen – und all dies mit erbärmlich schlaffem Drang.

Szene Boxring. Boxer fällt erschöpft in die Ecke. Trainer fächelt.
Trainer
: Bestens. Besser: kontern!
Boxer: Kann nicht!
Trainer: Nicht kontern können! Du konntest nicht kontern, aber du kannst!
Boxer: Konnte nicht.
Trainer: Du hast nicht kontern können, weil du glaubtest, nicht kontern zu können, obwohl du sehr wohl hättest gekontert haben können, wenn du ans Konternkönnen geglaubt hättest.
Boxer: Weiß nicht.
Trainer: Wenn du kontern kannst: konter! Kannst du nicht kontern, konter trotzdem! Man kann kontern können. Immer. Das weißt du.
Off-Sprecher: Wissen, was wichtig ist. Wissenstransfer mit k.-consulting.

Überhaupt ein gedimmter Sonntag. Glimmende Freude auf Frau S. Das ist schön. Dann wiederum Mad Men, der mir zu schwerfällig war in seinem Werbewelt-Geplänkel, und dessen erste Staffel ich dennoch gesehen haben will (was für Lebenszeit damit draufgeht), ein wenig Stifter, ein wenig Morihei-Biografie, also eigentlich ein entspannter Lektüre- und DVD-Sonntag, aber wiederum auch nicht entspannt genug, weil ich all diese Entspannungen geradezu abarbeite und „geschafft“ haben will, als müsste ich dies und jenes jetzt schnell noch schaffen. Bis wann?

31. Januar 2017 11:28










Björn Kiehne

Touristen und Kamele

Die Stadt als Meer, gelbe
Steinwellen, die von der Wüste
aus aufeinander zu rollen, um 
im Spalt des Nils zu verschwinden.
 
Am Dünenrand die Pyramiden, Trittsteine 
in der Zeit, umschwärmt von Kameltreibern,
Führern, Händlern – die toten Könige
ernähren noch immer ihre Kinder.
 
Eine Touristin lamentiert: Schade, dass
alles so kaputt ist, während sie nervös
versucht, einen räudigen Hund weg-
zustoßen, der an ihrer Tasche schnuppert.
 
Bist du das Cheops? Ein Tier heut, so hungrig 
wie einst deine Sklaven, verdammt dazu,
deine einstige Größe zu bestaunen, ohne
etwas im Magen zu haben?
 
Und während in Kairo, ein Muezzin die 
Tauben aufscheucht, beobachtet Cheops
wie ein Tourist versucht, mit dem falschen
Bein zuerst aufs Kamel zu kommen.
 
Er jault, blickt auf die Stadt, den Fluß,
die Wüste, lässt den Wind durch sein Fell
gehen, und fragt sich:  Wer ist hier dümmer,
die Touristen oder die Kamele?
 
 
                                                El Giza

30. Januar 2017 20:54










Björn Kiehne

Horus

Der Wind kommt aus der Wüste, trägt,
mit dem Staub, auch den Falken ans Meer.
Der teilt mit gerader Linie den Himmel,
sieht unter sich das Relief der Felsen,
die Schrift des Windes auf den Ebenen.

Nach Stunden erscheint der schmale
Streifen Grün, Palmen, Jasminbüsche,
die mühsam am Leben erhalten werden,
dahinter das Rote Meer, das leuchtet, als
wetteifere es mit dem wolkenlosen Himmel.

Jetzt steht der Falke still in der Luft,
ein Zeichen, scheinbar bewegungslos,
blickt er in das blinde Auge des Pools,
betrachtet die Menschen auf den Liegen,
die ihr Fleisch auf beiden Seiten garen.

Ein Kind entdeckt den Vogel, zeigt mit dem
Finger auf ihn, breitet seine Arme aus, als
wolle es fliegen, läuft über das grüne Gras
der Hotelanlage: Ob es weiß, dass er es ist,
der jeden Tag den Morgen aus der Wüste bringt?

Marsa Alam

30. Januar 2017 20:53










Björn Kiehne

Der schlafende König

Morgenlicht liegt auf den Feldern,
Schatten räkeln sich unter den
Palmen wie schwarze Katzen.

Ramses schläft im Staub,
träumt entlang des Nils,
folgt der Tonspur des Wassers,

dahin, wo die Fluten ihm Zeilen
in den Sandstein schreiben, Rätsel
für ihn, Rätsel für den König.

Alles flüstert ihm zu: das Morgenlicht,
die Schatten, alles fragt ihn nach der
Lösung; denk nach König, denk nach.

Memphis

30. Januar 2017 20:51










Björn Kiehne

مصر Miṣr – Drei Versuche über Ägypten
30. Januar 2017 20:50










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (140)

30. Januar 2016, ein Sonnabend

„Betrachte diese Welt weder mit Angst noch mit Abscheu. Stelle dich mutig allem, was die Götter anbieten.“ (Ueshiba Morihei)

Gestern Abend trug sensei mir an, das Freitags-Vormittags-Training zu übernehmen. Ich habe zugesagt. Als Aikido-Lehrer würde die Japan-Reise ganz neu Sinn machen. Ich könnte mich mit mehr Fug ins Aikido stürzen.

„Prangen“ – kein besonders schönes Wort, aber doch schützenswert, weil ausgestorben. Kinder lernen viele Wörter, die sie später nie mehr verwenden.

30. Januar 2017 13:26










Mirko Bonné

Portrait d’une baraque

Nach Ezra Pound

Nur dich im Kopf, dich mein Sargassomeer,
so sandte dir mein Hafen über Jahre Schiffe
und tat sich groß vor dir mit allem Möglichen:
Ideen, Klatsch, dem Ramsch der Neuigkeiten,
von denen ich dir jede als fantastisch unterjubelte.
Ein Blödmann war ich – kein andrer suchte dich.
Du warst von Anfang an das Letzte. Tragisch?
Nein. Denn du wolltest einen so wie mich,
Typ düstrer Spund, blauäugig, abgestumpft,
Hirn Durchschnitt – jährlich zwei Karrieren futsch.
Oh ja, du warst geduldig, jahrelang, Jahrzehnte
standst du, wo was vorübertreiben hätte können.
Da kam ich, wollte was. Und du gabst reichlich.
Du hattest mich interessiert, ich schlich zu dir
und kriegte ja auch wunder was dafür:
vom Wind Gefischtes, sonderbare Winke,
Tatsachendachpappe, ein, zwei Geschichten,
die mieften wie Alraunen, was auch immer
noch nützlich an dir schien, nur es nie war
und nirgends Platz und keinen Nutzen hatte,
zu keiner Stunde im Verhau der Tage, lediglich
ein morscher, bunter, wundersamer Schrott.
Figuren, Schmierfett und Emaillereklamen,
das war dein Schatz, sein Höker du. Und doch,
das ganze Wrack bloß aus dem Laub der Dinge,
aus halb durchweichtem Holz und ollem Talmi:
Im müden Fließen von mal Licht, mal Tiefe,
nein, da war nichts, in diesem Kehricht
nichts, was ganz dein war.
                                 Aber das warst du.

*

30. Januar 2017 12:53










Sylvia Geist

„working wood“

heute früh
wieder, da war es
schon beinahe hell: Holz
unter den Bedingungen der Bucht.
Ächzend, einsilbig, januarklar.

Ich suchte danach, in meiner Sprache,
doch es lässt sich nicht hören in ihrem Überfluss
an Silben. Arbeitendes Holz ist so hässlich
wie wirkendes schief.

Erst im flachen Schlaf knistert, was ich nicht mehr erlebte,
der große Petroleumkauf der Teppichweber von Kujan-Bulak
für die Trockenlegung des Sumpfs, dem das Fieber entschwirrte,
und die langwierigen Fragen der Leute unterm lodernden Dach
an Buddha, ob es wirklich brenne hier oder nicht doch woanders.

Während ich träume,
sie verloren geben zu können, anstatt sie verlieren zu müssen,
knarrt es vom Dachstuhl her von Versäumnissen (wieder
nicht, noch und noch
), lässt die Fensterläden versagen,
arbeitet an der Tür, gegen die ich gestern antrat,
dass sie nicht mehr schließt, während ich träume,
es ist besser als die biegsame Sprache im Traum,

redet es lange,
nachdem man es schlug,
den Zerfall des Hauses herbei.

30. Januar 2017 11:52










Christian Lorenz Müller

VIER APHORISMEN ZU DONALD T.

Die amerikanischen Arbeiter sind Schafe.
Sie haben den Wolf zu ihrem Hirten gemacht.

Die Trump’sche Mauer: Ein anti-mexikanischer Schutzwall.

Wer Trump seinen Präsidenten nennt
gehört jetzt zum Establishment.

Diagnose: Dekretinismus.

30. Januar 2017 11:42