Andreas Louis Seyerlein

2.25 – Gestern habe ich einen seltsamen Brief von einem Freund erhalten, der sich gerade in Indien befindet. Der Brief war von seiner äußeren Gestalt her ein Standardluftpostbrief, fühlte sich allerdings weich an, als würde ein dünnes Tuch in ihm enthalten sein. Er war zudem etwas schwerer als üblich. Als ich ihn öffnete fand ich ein handschriftliches Schreiben vor, eine Fotografie und einen weiteren Brief von kleinerem Format, mit einer Art Ventil in seiner Mitte. Mein Freund notierte am 25. Juni mit einem Bleistift: Lieber Louis, seit zwei Wochen befinde ich mich in Westbengalen nahe Sonada in einem kleinen Haus, das vollständig von Holz gemacht ist. Ich gehe hauptsächlich spazieren und wenn ich einmal nicht spazieren gehe, fahre ich mit dem Zug zwischen Jalpaiguri und Darjeeling hin und her. Eine wunderbare Zeit. Ich kenne inzwischen alle Zugführer persönlich und so darf ich bei Dampfbespannung vorne auf der Lokomotive reisen. Du siehst mich anbei auf der Fotografie vor dem Kessel stehen, ja, ich bin unter den drei kleinen Männern mit den Rußgesichtern der in der Mitte. Ich habe Dir, lieber Louis, etwas indische Eisenbahnluft eingefangen. Sie ruht in den Umschlag gefüllt, der vermutlich vor Dir auf dem Tisch liegt. Es wäre vielleicht am besten, wenn Du einen Strohhalm verwenden würdest, den Du mit dem Ventil verbindest, um dann einen tiefen Atemzug durch ein Nasenloch zu nehmen. Allerbeste Grüße Dein L. – Es ist jetzt 2 Uhr und 30 Minuten mitteleuropäischer Sommerszeit. John Coltrane LIVE: The Green Dolphin Street. – stop

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22. Juli 2012 21:18










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (28)

Bald ist Silvester, wenige Schweigeminuten bleiben noch, gemessen an der Zeit zwischen Juli und Dezember. Denn es ist bereits Dezember an diesem schwarzen Morgen im Schneemondschein. Es ist der dreißigste zwölfte, morgens vor halbsechs. Bald wird es knallen, morgen, wenn wir wieder sprechen dürfen. Leise meldet sich die Angst, das Wort werde, was das Schweigen in reiner Form zu wahren weiß, verwässern und betrüben. Noch aber ist es still. Drei Menschen habe er auf Sesshins, sagt der namenlose Mönch, sterben sehen. „Das passiert nun mal. Das kann ruhig dramatisch werden.“

14. Juli 2012 18:41










Mirko Bonné

Widerstände

7 – Jürgen Becker: „Wenige Leute stehen am Ufer, schauen aus den Fenstern, warten an der Bushaltestelle, haben einen Schirm bei sich, helfen einer Dame in den Mantel, betreten sonntags ein Bergwerk, fahren eine Maybachlimousine, wollen es ungemütlich haben, schaffen es bis zur Todeszelle, bevorzugen unreife Äpfel, verwechseln die Wohnungstür, essen lieber schlecht als gut, gehen lieber im Regen spazieren, sind immer die üblichen Verdächtigen, gehen Hand in Hand über die Dünen, kennen sich noch in der Reichskanzlei aus, kaufen im Januar Kirschen, planen für die Zeit nach ihrer Wiedergeburt, sammeln Kippen von der Straße auf und rauchen sie zu Ende, trifft der Blitz, blicken hinter die Kulissen, leben als reiche wie arme Leute, wechseln zweimal am Tag das Hemd, haben eine Waffe im Haus, trinken vor dem Frühstück ein Bier, warten im August auf Schnee, sind unter den Trümmern gefunden worden, haben dauerhaft Glück beim Glücksspiel, erreichen schwimmend die englische Küste, sind ehrlich genug, gehen Holzsammeln im Wald, haben ein Fahrrad gestohlen, haben die Niederlage erhofft, lehnen die Freiheit ab, stehen am Zaun, können sich an den nächtlichen Traum erinnern, bezahlen für viele, warten noch auf fließendes Wasser und Strom, würden es wieder freiwillig tun, passen in einen Kahn, verschwinden plötzlich.“

Jürgen Becker wird heute 80 Jahre alt.

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10. Juli 2012 15:56










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (27)

Seit Stunden ist es draußen dunkel, längst ist es Nacht im Monat längster Nächte. Draußen schnipsen Blitze, Donner meldet Anwesenheit, Hagel glasiert die Pfade ringsherum. Die Nacht verkürzt sich die Nacht. Sie will mit uns spielen, doch wir haben keine Zeit dafür, wir sitzen. Zum 36. Mal im fünftägigen Sesshin sitzen wir vierzig Minuten. Wer so viel sitzt, weiß, wie Sitzen geht.

In laufender Sitzung kommt der namenlose Mönch zum Sitzenden. Er drückt ihm seinen Daumen auf einen tiefen Rückenwirbel. Der Sitzende sitze gerade, hebe den Kopf und senke das Kinn. Der namenlose Mönch breitet sein Gebetstuch aus. Es verwandelt sich zu gebranntem Lehm. Dies sei keine nette Party, begrüßt der namenlose Mönch die Sitzenden nach kurzer Nacht am Morgen. Jeder sei für sich, niemand greife ein beim Anderen.

8. Juli 2012 14:26










Gerald Koll

8. Juli 2012 13:48










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (26)

Und so nimmt es seinen stillen Lauf, durch die Krankheit, auf dem Steiß, mit dem Stift, mit dem Rad, das sich dreht auf der Achse der Karre mit den Blättern,
denn Kugelschreiber und Schubkarre folgen dem gleichen Prinzip. Die Spur einer Schubkarre im Sand brachte den Erfinder auf die Idee mit der getränkten Bleikugel,
und die Wege sind dicht. Überall liegt Laub, das von den Wegen auf die Wiesen soll, damit es nicht im Wege liegt, wo die Schubkarre fährt,
die, wenn Samu ist, doch nur ihretwegen fährt, der Blätter wegen, von dem Schuppen auf die Wege zu den Wiesen zu dem Schuppen.

3. Juli 2012 08:05










Carolin Callies

dem sommer einen text geben, teil 2

Klatschmond sind die Ackerschnecken Halbwege,
das graue Heurad, zügiger als stillt der Sommer sich,
und schwirrt ins dunkle Licht.

Oswald Egger, Aus „Apfelspalten / Handteller, Regen.“

30. Juni 2012 13:22










Sylvia Geist

Gewendetes Gelände

© Kai Geist

28. Juni 2012 20:53










Andreas Louis Seyerlein

6.52 – Vor einigen Tagen habe ich einen besonderen Kühlschrank in Empfang genommen, einen Behälter von enormer Größe. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass dieser Kühlschrank, in welchem ich plane im Sommer wie auch im Winter kostbare Eisbücher zu studieren, eigentlich ein Zimmer für sich darstellt, ein gekühltes Zimmer, das wiederum in einem hölzernen Zimmer sitzt, das sich selbst in einem größeren Stadthaus befindet. Nicht dass ich in der Lage wäre, in meinem Kühlschrankzimmer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unterzubringen und eine Lampe und ein kleines Regal, in dem ich je zwei oder drei meiner Eisbücher ausstellen werde. Dort, in nächster Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen weiteren kleineren, äußerst kalten, einen sehr gut isolierten Kühlschrank aufgestellt, einen Kühlschrank im Kühlschrank sozusagen, der von einem Notstromaggregat mit Energie versorgt werden könnte, damit ich in den Momenten eines Stromausfalles ausreichend Zeit haben würde, jedes einzelne meiner Eisbücher in Sicherheit zu bringen. Es ist nämlich eine unerträgliche Vorstellung, jene Vorstellung warmer Luft, wie sie meine Bücher berührt, wie sie nach und nach vor meinen Augen zu schmelzen beginnen, all die zarten Seiten von Eis, ihre Zeichen, ihre Geschichten. Seit ich denken kann, wollt ich Eisbücher besitzen, Eisbücher lesen, schimmernde, kühle, uralte Bücher, die knistern, sobald sie aus ihrem Schneeschuber gleiten. Wie man sie für Sekunden liebevoll betrachtet, ihre polare Dichte bewundert, wie man sie dreht und wendet, wie man einen scheuen Blick auf die Texturen ihrer Gaszeichen wirft. Bald sitzt man in einer U-Bahn, den leise summenden Eisbuchreisekoffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeisterten Blicke der Fahrgäste, wie sie flüstern: Seht, dort ist einer, der ein Eisbuch besitzt! Schaut, dieser glückliche Mensch, gleich wird er lesen in seinem Buch. Was dort wohl hineingeschrieben sein mag? Man sollte sich fürchten, man wird seinen Eisbuchreisekoffer vielleicht etwas fester umarmen und man wird mit einem wilden, mit einem entschlossenen Blick, ein gieriges Auge nach dem anderen gegen den Boden zwingen, solange man noch nicht angekommen ist in den frostigen Zimmern und Hallen der Eismagazine, wo man sich auf Eisstühlen vor Eistische setzen kann. Hier endlich ist Zeit, unterm Pelz wird nicht gefroren, hier sitzt man mit weiteren Eisbuchbesitzern vertraut. Man erzählt sich die neuesten arktischen Tiefseeisgeschichten, auch jene verlorenen Geschichten, die aus purer Unachtsamkeit im Laufe eines Tages, einer Woche zu Wasser geworden sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist keine Zeit für alle diese Dinge. Es ist immer die erste Seite, die zu öffnen man fürchtet, sie könnte zerbrechen. Aber dann kommt man schnell voran. Man liest von unerhörten Gestalten, und könnte doch niemals sagen, von wem nur diese feine Lufteisschrift erfunden worden ist. – stop

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28. Juni 2012 19:38










Hans Thill

Kara Orman und ihre Schwestern

Wozu ist die Straße da, wenn das Wasser
doch in den See läuft? Und wozu gibt es das
 
Weiche g, den Tigergeruch in den Wäldern und das
Handwerk der Engel, da sie in der Kajüte über den Tannen
 
Orangen schälen? Die braunen Mädchen daselbst
(auf seidnem Boden) mit ihren großen Mündern tragen
 
Sie was vom Wasser blieb (die Poren des Wassers) in
die saure Zeit. Mad Mario Balotelli ist ein Fußballer.
 
Hem zenciyim hem albino. Er hat eine Frisur wie eine
Zahnbürste, die den Himmel teilt in Blau und Blau.
 
Die Steine nennen mich den Einheitisten, sie sagen zu
Mir: Quecksilber, Bavul deines Körpers und Yilan
 
Deines Körpers. Darüber lachen die Wälder, die Elster,
darüber lacht auch Günsür (der überall mit dabei ist).
 
Die Damen sind überall hübscher als nötig,
während eine Landkarte nur wenige schöne Stellen hat:
 
Den ruhigen See, tief wie eine Seele aus Tannen mit
Salznonnen drin und Meermädchen schwarz wie Feronia,
 
Kara Orman. Während mir der Fisch eine Gräte in den
Hals steckt, heisst das Pferd At und springt vielleicht
 
Über den weiblichen Wasserfall. Ich nehme mein Gesicht,
Gehe hinaus, ich habe einen Garten gefunden, mit
 
Händen an den Bäumen, darunter Kinder, die Erde essen.
Wir brauchen die Erde, wir brauchen die Straßen, weil
 
Rechts und links Wein wächst.

Begrüssungsgedicht für
Nevzat Çelik, Azad Ziya Eren, Gonca Özmen, Elif Sofya, Izzet Yasar, Sabine Küchler, Klaus Reichert, Joachim Sartorius, Silke Scheuermann, Henning Ziebritzki, Dilek Dizdar, Sebnem Bahadir.
Edenkoben 26.06.2012

28. Juni 2012 13:20