Mirko Bonné

Widerstände

3 – Mati Shemoelof:

Mein toter Vater

Die Briefmarken sammelten die letzten Tage
meines Vaters in Ländern die
er nie bereiste,
er legte sie in die Wasserschale seiner Seele
und löste sie vom Umschlag der Vernachlässigung
in den Arbeitervierteln der Stadt Haifa,
die Krakenarme staatlicher Behörden
aber gaben die Marke nicht frei
und als Kainsmal blieb die schwarze
Tinte.

*

30. April 2012 16:28










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (17)

Der ist auch schon da, der dürre Raubtierkopf, Sternbild aus Astlöchern der Diele. Ein wenig dürrer wirkt er heute. Mehr als einem Löwen gleicht er einem Panther, dem man die Zähne zog und Augen stach: Baghira beim Wiedersehen mit Mowgli, der heimkehrt in den Dschungel, ihn zu roden.
Das zum Rad aufgestellte Kissen schont die Knie. Das Rad wird Sägeblatt mit winzigen Vibrationen. Nach vierzig Minuten schlagen seine Zähne klappernd auf die meinen. Zusammen hoffen wir, zersägte Hälften, auf das Frühstück. Der Brei wird zäh und klebrig sein, er ist mein Reisverschluss.
Der dritte Tag würde der härteste, hatte man gewarnt. Er begann vor langer Zeit. Es ist 05:20 Uhr.

30. April 2012 06:54










Sylvia Geist

Yttrium

hinterm mond
ohne horizont für die dünen ohne biologie und
bildschirm verpasste ich den start. drinnen streiften sie das
mmmmnackte staunen über ihre gesichter bläulich vor dem stillstand
eines allgemeinen herzens flackerten sie mit den teuren missionaren
dem verlust

der erdenschwere
entgegen. ich war nicht dabei. sah den dandy
schwebend im raum seines lichten anzugs nicht den boden
mmmmproben den wir nie verlassen hatten. verpasste die geschichte
draußen ohne mond und horizont und ebenso kalfatert
von derselben

dunkelung durch
die es schon wieder auf uns zu flog
apollinisches projektil zurück vom ziel kleine trümmer der heimatfiliale
mmmman bord mutterkörner pechvogelgewölle. einen augenblick in den dünen
der dächer diodenjahre weiter. ich übersah die strecke nicht
die kürze.

25. April 2012 16:33










Hendrik Rost

Das letzte Gold

Gedichte klemmte ich mir ans Fahrrad. Ein kleines Büchlein mit Texten von Trakl war mein liebstes. Ich lernte An den Knaben Elis auswendig, Grodek und andere. Auf dem Weg zur Schule kam ich über Land, 13 Kilometer durch Maiswüsten. Wie schwermütig ich war, das las ich in den Texten. Die Bewegung regte mich an, das Auswendiglernen war Abbild der Bewegung im Geiste. Insgesamt war das alles lächerlich: der Mais, die Gedichte, das Fahrrad, die Schwermut. Und es war grandios. Ich fuhr Komplexen für den Moment davon und träumte dabei nie von künftiger Größe. Ich träumte ohnehin nicht viel, sondern las, von den Fingern der Mönche, von traurigen Tieren und von dunkler Deutung. In der Schule zehrte ich von meinem Image als Sonderling, etwas Schauspieler, etwas Sportler, etwas ehemaliger Rebell. Und etwas Leser. So ging es weiter. Wer weiß, wozu das noch gut sein wird?

25. April 2012 16:01










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (16)

Mit Ächzen und Knarren in den Planken des Gebeins richtet das sitzende Dutzend sich auf. Nach vierzig Minuten des Sitzens geht es im Kreis, gemessenen Schrittes, gesenkten Blicks, Kin Hin, mit angelegten Händen vor der Brust, blinzelnd unter den Lidern, ob der Abstand zum Vorderen kürzer oder länger wird, denn der namenlose Mönch achtet auf Gleichmaß, und unwirsch wird er bei gegebenem Anlass.

Das Schreiten führt heraus aus den Gräben der Dielen. Diesmal waren sie Savannen. Schwaden Nebels zogen hindurch, bis sie sich lichteten und die Savanne Dornen trug, befallen von Aschen ausgebrochener Knie. Die schrien vor Schmerz, im Eindruck der Striemen glühender Drähte und im Zucken kommender Schmerzen. Hindurch!!, gezwängt und bezwungen von hinten und vorn. Unmöglich, den Schmerz zu verdrängen, auch mit Liebe war er nicht bestechlich, so wurde ich Tiger und kreiste ihn ein. Ich schnitt ihn ab von Vorher und Nachher, kam näher, zog die Kreise enger, bis, jede Sekunde aufs Neue, das eben Erlebte längst vergangen war und die nächste Zukunft in fernster Weite unberührt lag: bis der alles verschlingende Schmerz abgenagt war auf die kleinste Größe des Moments, die den Schrei nicht lohnt.

Doch träge wurde ich und verlegte mich ins Kauern. Die Savanne wurde Steppe. Trockener Wind blies Zahlen darüber hin, die sich verketteten und sich um meine Kehle legten und verschnürten wie ein Strick, der das Ende sucht und sich um die Gurgel legt und schwerer wiegt mit jeder Zahl: Jede möge die letzte sein, doch legte sich, solange der Mönch die Schale nicht schlug, die nächsthöhere Zahl auf die letzte, eine bleierne Elf auf die Zehn, darauf die Zwölf, darauf die Dreizehn und am Ende dieses Tages, des 28. Dezember, die Einhundertundneununddreißig.

Bevor ächzend und knarrend die Knochen den Stand fanden, küsste die Stirn gedanklich den Sand der Steppen der Dielen, Füße wandelten benommene Minuten, Abstand wahrend zu den stummen Nomaden, die zum 24. Mal beieinander saßen, jeder für sich, in der Glut ihrer Höllenwinkel. 28. Dezember um zehn Uhr nachts. Himmel und Sterne. Wir schütteln uns still.

21. April 2012 21:35










Mirko Bonné

Mit dem März

Mit dem März kam der Regen,
der Winter schmolz weg. Ein Taxi,
das hielt, stoppte in Wasserlachen,
die U-Bahn war Lichterschlange und
kroch durch die Fäden. Mit dem März
hörte ich auf, um alles Angst zu haben.

Welchen Wein du trinkst – falls Wein -,
der Winter geht zu Ende. Und das Taxi
fährt los, durch die goldenen Pfützen.
Die Bahn ist längst Hudtwalckerstraße,
Bäume, Leute im Regen. Mit dem März
glaubst du nicht mehr, Panik sei gastlich.

*

16. April 2012 09:14










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (15)

Dreh und wende nichts, träume nicht hinab ins Dunkelnass der Sünden. Durch die Stille geht das dünne Pfeifen einer Nase. Der namenlose Mönch gibt zu verstehen, Nasenpfeifen verrate ein Schlummern, doch Schlummern sei nicht Meditieren, ganz im Gegenteil sei das Meditieren eine aufmerksame Wachheit. Mit einem Ruck hält er den Atem an, als gelte es, dringlich und mit allen Sinnen zu lauschen. Mit Sinnen und Kräften. Beide Arme krümmt er vor sich, die Hände zu Fäusten geballt, als würde er mit seinen Unterarmen einen Kübel umklammern. Nichts regt sich, nicht der kleinste Laut ist da, auch kein Nasenpfeifen mehr, und in die angespannte Stille schweigt der namenlose Mönch. Sein Schweigen umklammert die Sitzenden. Innerlich erregt, registriere ich die Lockerung, den Einsatz, den erneuten ersten, noch sehr leisen, fast versunkenen Pfiff, als streiche über eine seit hundert Jahren am Meeresgrunde salzig eingelegte Violine eine Strömung des Atlantiks. Ein letzter Klagelaut, das kleinste Requiem der Welt, ein Echo Lots.

15. April 2012 17:49










Gerald Koll

Zazen-Sesshin (14)

Reines Warten ist Folterqual, und niemand hielte es aus, sieben Jahre oder auch nur sieben Tage lang dazusitzen oder auf und ab zu gehen und zu warten, wie eine Stunde lang zu tun man wohl in die Lage gerät. In größerem und großem Maßstabe kann das darum nicht vorkommen, weil dabei das Warten dermaßen verlängert und verdünnt, zugleich aber so stark mit Leben versetzt wird, dass es für lange Zeitstrecken überhaupt der Vergessenheit anheimfällt, das heißt, ins Unterste der Seele zurücktritt und nicht mehr gewusst wird. Darum mag eine halbe Stunde reinen und bloßen Wartens grässlicher sein und eine grausamere Geduldsprobe als ein Wartenmüssen, das in das Leben von sieben Jahren eingehüllt ist. Ein nah Erwartetes übt, eben vermöge seiner Nähe, auf unsere Geduld einen viel schärferen und unmittelbareren Reiz aus als das Ferne, es verwandelt sie in nerven- und muskelzerrende Ungeduld und macht Kranke aus uns, die buchstäblich mit ihren Gliedern nicht wissen, wohin, während ein Warten auf lange Sicht uns in Ruhe lässt (…).

Auszug aus Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. 1. Buch: Die Geschichten Jaakobs, 5. Hauptstück: In Labans Diensten, Kapitel: Von langer Wartezeit.

15. April 2012 17:45










Andreas H. Drescher

VIA CRUCIS

Da steht es also: das Volk Israel und ein zehnjähriger Legionär, dessen Umhang über den Kaugummi-Asphalt hinter der Passage schleift. Neben ihm sein Bruder im grünen Anorak, der noch an der Hand von Mama trippelt. Spor. Er sagt es groß: SPOR. So wächst der kleine Legionär, verzwölffacht sich. Nun schwankt sein Umhang um zwei dutzend Waden. Manchmal mit Brille, manchmal nicht. Er unterhält sich, fast ein Greis schon, mit sich selbst. Über die Schulter: Wie schön die Trommeln in der Sonne blitzen. Dieselgeruch: die Feuerwehr. Speere, nachlässig getragen, verheddern sich im Umhang. Des Volkes wegen, das auch schon den Großen Markt besteht. Was trägt es, das Volk Israel? Wie damals Leinen und wie heute Baumwolle und Polyester. Der Legionär wird eins und schrumpft wieder, um dem kleinen Bruder das Kurzschwert an den Hals zu drücken. Ein Vorab-Geschenk vom Osterhasen. Mama weist ihn zurecht. So erklärt er einen Eisenpoller zum Ersatz-Bruder und springt um den herum, um wieder aus dem Überzwerg zu wachsen. Seine Stirn zieht sich gegen die Sonne kraus. Dort vor der Post: das Letzte Abendmahl.

Da gießt einer den Wein in Lautsprecher. Beschwerden, dass das Volk nicht jeden Tropfen hört. „Herr… Wenn isch disch nischt…“ Rückkopplung. „Ein Verräder in unserer Midde?“ Popcorn, Tauben, Kinderweinen. „Nur noch eine gleine Waile…“ Zehn Fingerspitzen, die den Himmel halten. Spricht einer mit beim Vaterunser? In roten Batikhosen? Ein Legionär (Ist er´s, den ich meine? Oder ist er´s nicht?) desertiert bereits in Richtung Altstadt. Gethsemane. Zwei karge Papp-Bäume. Neben der Post scherzt Pontius Pilatus noch mit seinem eingeweißten Töchterchen. Der kleine Anorak winkt ihr vom Arm der Mama zu. Er zwinkert, weil das Schild des Malchus blitzt. Der Judaskuss und zwölf Millionen Engel auf dem Parkplatz. Den König der Juden macht das im Headset sehr viel breiter. Pontius Pilatus trägt goldenen Lorbeer an ihm vorbei. Hinter ihm der Tod mit grüner Sense. Er muss geführt werden.  Die Gaze vor seinem Gesicht ist und bleibt zu dicht. Inzwischen lässt der kleine Legionär sich tätowieren. Von einem Chinesen, gleich an der Absperrung. Die Zeichen bedeuten: „Isch will deine Fagebung nischt.“ Hammerschläge, Hammerschläge. Der Regisseur – in schwarzer Lederweste – spricht nun jedes Wort von Judas mit. Auch das Rauschen der Blätter. Auftritt des grün besensten Todes hinter Gaze. Er strauchelt und erreicht Judas nicht ganz ohne Mühe. Der Regisseur zuckt bloß die Schultern: tot ist tot.

Schräge Posaunen und Pilatus endlich offiziell, samt seinem inzwischen verdreifachten Töchterchen. Die Kleinste lächelt schräg hinauf zum Hohen Rat. Genaue Untersuchung. Urteil. Aber kein Ton mehr für den Statthalter. Der Zenturio beschwert sich von der Bühne aus beim Tonmann. Lange schwebt ein Rabe ab jetzt über Weißen Büsten. Dann gibt das Mischpult her: „Warheit, Warheit, was is Warheit…“ Überlaut. Auftritt Barrabas vor schnell geschützten Ohren. Die SMS. Zur Folterung wird eben der vom Stuhl gekippt. Dreihundert Tauben sind am Himmel, schraffieren ihn, sind wieder fort. Das Peitschenpeitschen des Zenturio bleibt ungehört vom malerisch Zerfolterten: „Oh, der ist staub und fum…“ Die kleinen Jungen wollen auf die Schultern ihrer Väter: den Königsmantel sehen, die rote Wasserfarbe unter dieser spitz gestumpften Krone. So nimmt er also sein Kreuz auf…

Nimmt sein Kreuz auf, doch ein gut Teil Pharisäer, ja selbst Legionäre sitzen schon im Eiscafé. Wieder Trommeln. Dann schabt das Kreuz am Fruchtbecher vorbei. Wird dort Zigaretten-Eis verkauft? I-POD-Bilder von den wunden Wasserfarben. Spor, blitzende Schilde, Schreierei. Er ist zum ersten Mal gestürzt. Wird geschlagen. Mit einer Peitsche ganz aus Fensterleder. Nein, nicht er, das Kreuz! Wie die Kinder muss man auf dem Boden sitzen, um das gut zu sehen. Nicht Geox, Brillen-Bohr, auch nicht O2, nicht heute. Das Nippen, Nicken, dann ziehen sie sich selbst am Schal zu ihren Vätern hin und bleiben da.

Das erste Kreuz hängt endlich. Ein Mann im gelben Nachthemd dran. Doch Nummer Eins ist auch schon Nummer Zwei und Drei. Jetzt! Der Herr der Welt hat seit dem  letzten Mal so einiges an Bauch gewonnen. Heutzutage sieht man nur noch selten eine gute Kreuzigung.

7. April 2012 00:26










Mirko Bonné

Widerstände

2 – Emily Dickinson:

Ich wohne in der Möglichkeit –
Ein schönres Haus als Prosa –
Denn sie besitzt mehr Fenster –
Die Türen – sind viel größer –

Hat Räume wie die Zedern –
Fürs Auge ein Gewimmel –
Und als nicht Einstürzbares Dach
Die Wölbungen des Himmels –

Hat Gäste – nur die schönsten –
Und nichts zu tun – bloß Dies –
Die weit gespreizte schmale Hand
Pflück mir das Paradies –

*

6. April 2012 21:47