Mirko Bonné

Kreuzspinne

2

Sitzt den ganzen Tag lang
still auf dem klebrigen
unsichtbaren Balkon,

zitternd mit dem Wind,
während nichts passiert
außer Blechschlangen.

Nachts, Knacken der Bäume,
seilt sie sich ab, trinkt
vom grauen Gras.

Tausendbeiniges Nieseln,
droben Gottes Augen,
der die Fliege nicht liebt.

*

9. Dezember 2010 10:54










Mirko Bonné

Kreuzspinne

1

Niemand, der ihr zeigt,
dass sie da ist, kein Bein
auf ihr Herz gelegt.

Blickt unentwegt:
ins Blau des Tags
hinter Wolkennetzen,

wartet auf die Welt,
frisst sie, lacht,
träumt: bedeutungslos.

Vorbeifliegen Tage
und enden in Zacken,
Beinen, der Nacht.

*

30. November 2010 14:53










Mirko Bonné

Mars und Monde

Der verregnete Garagenhof,
eine Häusersichel plötzlich
himmelblauer Tore, in der Mitte
geziegelter Stern fürs Bäumchen.

Es sieht so aus wie seinerzeit.
Richtig! Wie geht’s dir, kleine
Esche, was treibst du seit dreißig
Jahren, und wo sind alle?

Auf der Ziegelmauer schwerelos,
las ich Austauschschüler, picklig,
nichts, ich lebte für Modelle
von Mars und Monden in den Tag.

Aufgebockt in einer Garage
stand der graue Familienmorris,
in der daneben lagen Matratzen,
vollgesogen mit Somersetregen.

Da küssten Rodney und ich
zwei giggelnde Nachbarmädchen
mit Pferdeshirt, duftender Haut,
staubfeinen Ohrläppchen,

die uns mitnahmen nach oben
in ihren Plüschtierkosmos,
Poster vom Pferdekopfnebel
an Tapeten überm Rekorder.

Phobos, die Furcht, kreiste
als zerdellte Schädeldecke
des Kriegsgottes um den Mars,
ich hielt den Mond in Händen,

fühlte die Unebenheiten,
die Krater unter Liz‘ Haaren,
Knochen, Knorpel, und spürte,
ich flog durchs All, wir flogen.

*

29. Oktober 2010 10:49










Mirko Bonné

Billy Shakespeare

Der kleine Billy lief hier übers Gras,
vorbei an Schlüsselblumen, Ringelblumen,
an der Mauer dem Goldregen und Wein,

nichts weiß die weite Welt davon.
Shakespeares Kindheit und Jugend,
ein dunkler Garten. Er hat Luftwurzeln.

In die matten Bleiglasscheibchen
eines der alten Fenster in Stratford
sind hunderte Signaturen geritzt,

Hardy, Scott und Charles Dickens,
Keats kam 1817 her, gerade 22,
fleißig feilend am Endymion.

William Shakespeare, Gentleman,
kam mit 28 zur Welt, verheiratet,
groß wie die Tür seines Elternhauses,

um die sich eine Heckenrose rankt.
Raute, Lavendel, Rosmarin, die Lilien,
altgeworden, sah er den Garten wieder.

Durch die Namen im Fenster sehe ich
die alte Henley Street: ihre Shops,
Souvenirbuden, Geldautomaten.

Nebenan vorm Dichterzentrum
knipsen asiatische Reisegruppen
elisabethanische Schaufensterpuppen,

während unter dem Quittenbaum
voll gelber runder Quittenplaneten
ein Schauspieler in Pumphosen

indigniert Hamlet deklamiert.
Er schwenkt einen Plastikschädel
über Maiglöckchen, Waldgeißblatt,

wildem Thymian und Veilchen.
Hier lief der kleine Billy übers Gras.
Er kannte alle Blumen, und jede Blume ihn.

*

5. Oktober 2010 22:04










Mirko Bonné

Schweinesermon

Acht oder neun muss ich gewesen sein, als ich irgendwo am Tegernsee, in einem Dorf, wo ich als fremdes Kind mit Gleichaltrigen draußen spielen ging, auf dem Gelände eines großen Bauernhofs unvermittelt Zeuge wurde, wie dort ein Schwein, eine mächtige Sau, viel größer, als ich es war, getötet wurde. Es war ein Erlebnis, das mein ansonsten immer erschreckend löchriges Gedächtnis nie hat vergessen können. Ich erinnere mich an die Schreie des Tieres, die Gewalt, die es der ihm zugefügten Gewalt entgegenzusetzen versuchte, ich sehe das Kolbenschussgerät vor mir und fühle noch den Apparat, den ich in die Hand nahm, als ihn der Bauer oder Schlachter dem Schwein an den Schädel gepresst und abgedrückt und dann fallen gelassen hatte. Manchmal, wenn ich ein Schwein sehe, fallen mir, so will es mir scheinen, die Augen der Sau wieder ein, in meiner zerquälten Erinnerung sind sie in ihren letzten Augenblicken auf mich gerichtet, schließen sich nicht, sondern zeigen mir ihre Furcht, ihre Wehmut, ihr Erdulden und schließlich ihre Erlösung oder doch wenigstens Erleichterung.
Seltsamerweise hatte ich nie Mitleid mit dem Schwein. Ich fühlte mich ihm verbunden, ja fühlte – meinte ich – mit ihm. Gab es Erläuterungen seitens des Bauers, oder meiner Mutter? Ich weiß es nicht mehr. Ich sehe in meiner Erinnerung keine anderen Kinder, obwohl wir viele waren, die damals an dem Sommernachmittag dort auf dem Hof herumgespensterten. Ich weiß noch, wie erschüttert meine Mutter war, als ich erzählte, der Hinrichtung eines Schweins beigewohnt zu haben, und dass sie mich fragte, was auch ich mich selber fragte: Warum hast du das getan?
Ich denke, ich wollte verstehen, was das ist: ein Schwein, ein großes Tier, das getötet wird, auch in meinem Namen, obwohl es nichts getan hatte, was einen so barbarischen Akt rechtfertigen würde. Doch es ist das Gegenteil eingetreten, eine Leerstelle, eine leere Insel in meinem Gedächtnis, so kommt es mir vor, ist seinerzeit entstanden. Seit über fünfunddreißig Jahren fragen nicht mich die Augen des Schweins, sondern frage ich die Augen in meiner Erinnerung, goldenbraune, runde, tiefe Augen.
Seit ich Gedichte lese, ist es mir nur selten passiert, in Versen eine Antwort zu finden – einen Klang, eine Musik aus Bedeutungen finde ich dagegen viel öfter. „Lied aus reinem Nichts“ nennen, nach Versen von Wilhelm von Aquitanien, Michael Braun und Hans Thill ihre Anthologie, die deutschsprachige Lyrik des noch jungen 21. Jahrhunderts versammelt. Gestern las ich erstmals darin und fand ein bezaubernd-verstörendes Gedicht, um dessen Lob willen ich mir diesen Schweinesermon abgerungen habe.
Das Gedicht heißt zärtlich-lakonisch „Saurüssele“; geschrieben hat es Günter Herburger:

Das Wichtigste,
was man von Schweinen
lernen kann: kein Mensch zu sein.

Sie sind sehr sauber,
sehr gefühlvoll, ein wenig zänkisch,
kämpferisch, aber dann lieben
sie einander wieder,
und wenn sie weinen,
was sie gerne tun, schreien
sie kaum und lächeln dabei.

Einen Tag, bevor sie
geschlachtet werden sollen,
sind sie nervös und konfus,
rennen umher und beschmutzen sich.
Dann beginnen sie zu singen,
sehr tief und sehr hoch,
wir vermögen es nicht zu hören.

Kein einziges Schwein ist bekannt,
das alt, krank und mager
noch auf der Weide lebte,
ganz und gar nicht allein,
weil umgeben von Igeln,
sodass, wenn es stirbt,
es auch ein Häufchen wäre,
bedeckt von Blättern und Geschmeiß,
deren Konzerte
wir niemals vernehmen.

*

15. September 2010 12:45










Mirko Bonné

Die Gewalt der Gedichte

The base of all inks and pigments is seawater.
Seamus Heaney

Ein warmer blauer Sommervormittag,
von den hölzernen Kais an der Liffey
schnappten sich Möwen die Brotrinden
und weichten sie im Schlammwasser auf,
und beglückt von der Raffinesse der Vögel
schlug Paddy Haughy Mick FitzRoy vor,
am Merrion Strand schwimmen zu gehen.
Sie kauften Bier und trotteten zum Zug.

Ein silbernes Flimmern in der Luft,
im Nachbarabteil gestapelt Kartons,
und an den Fenstern vorbei schossen
die Möwen gleichauf mit dem Waggon,
in dem Haughy und FitzRoy durstiger
von Halt zu Halt plauderten übers Meer,
Nachmittage in ihrer Kindheit am Meer,
Atlantizismus und Gewalt der Gedichte.

Grün gewesen war der Himmel immer,
kamen sie mit der Klasse nach Blackrock,
um da auf den Bus zum Strand zu warten.
Umschwirrt von Wespen fragte Paddy:
Warum beschreibst du das nicht mal?
Mick zog an der schwarzen Zigarette,
sie tranken, sie summten, es war heiß.
Der Bus stand da, Möwen auf dem Dach.

Ein Spiegel aus Gold überm Asphalt,
durch den die Jungen, die sie mal waren,
und die Toten, die sie begraben hatten,
wankten zu dem leeren Bus. Haughy klopfte,
und die Tür flog auf – Wann fährst du?
Der Fahrer gähnte, ob das da FitzRoy sei,
der Dichter, und als sich der verneigte,
sprang der Motor an und starteten die Vögel.

Album (9), 2006

*

31. August 2010 22:29










Mirko Bonné


Solsbury Hill, Bath, Somerset

*

25. August 2010 13:50










Mirko Bonné

Meine Töchter, Berlin und ich (2): Auszug von Töchtern

Sie mussten tatsächlich gehen, ich hatte es gesehen
an ihren Gesichtern, die sich langsam wandelten
von denen von Kindern in die von Freunden,
von denen von früher in die von jetzt.

Und gespürt und gerochen, als sie mich küssten,
ihre Haut und ihr Haar, die nicht mehr für mich
bestimmt waren, nicht so wie früher,
als wir noch Zeit hatten.

Es war in unserem Haus eine Welt des Sehnens,
Glücks, Schmerzes und Kummers gewachsen, in ihren
Zimmern, wo sie ansammelten, was sie
mitnehmen sollten, ihre Erinnerungen.

Jetzt da sie weg sind, schau ich aus ihren Fenstern und seh
genau die gleiche Aussicht, genau die
gleiche Welt von vor zwanzig Jahren,
als ich herkam, um hier zu wohnen.

Rutger Kopland
Vertrek van dochters (Ü.: M.B.)

*

11. August 2010 16:25










Mirko Bonné

Meine Töchter, Berlin und ich (1): Dr. Kaesbohrers Puppe

Während längerer Autofahrten ist es nur eine Frage der Zeit, bis meine Tochter Sonia zu mir sagt: „Papi, Papi, erzähl uns eine Geschichte wie früher die mit dem Pferd und dem Baum und dem See, wo sich alles verzaubert“ – eine Geschichte, an die ich mich leider nicht erinnere. Stattdessen erzählte ich meinen Töchtern eine Geschichte, die ich einmal ins „Forum der 13“ gestellt hatte, vor damals fünfeinhalb Jahren, als Julika, meine Jüngste, noch gar nicht auf der Welt war, und noch einmal, vor gut zwei Jahren, hier in den „Goldenen Fisch“.
Die Geschichte ist diese:

„Dr. Kaesbohrers Puppe

Zwei schöne, ineinander greifende Geschichten über Kafkas Leben in Berlin berichtet Mark Harman in der aktuellen Nummer von ‚Sinn und Form‘. Die erste wurde überliefert von Kafkas letzter Lebensgefährtin Dora Diamant; mit ihr war Kafka unterwegs in einem Berliner Park, als sie ein Mädchen trafen, das seine Puppe verloren hatte. Kafka beruhigte das Kind, indem er ihm erzählte, es solle sich keine Sorgen machen; die Puppe habe ihm einen Brief geschrieben, darin erkläre sie alles über ihr plötzliches Verschwinden. Da das Mädchen verständlicherweise den Brief lesen wollte, versprach Kafka, am nächsten Tag wiederzukommen und das Puppenschreiben mitzubringen. Dora Diamant berichtet, Kafka habe fortan tagtäglich einen neuen Brief im Namen der Puppe verfasst. Darin berichte die Puppe ihm, dass sie geheiratet habe und deshalb fortgezogen sei.
Es gab mehrere Versuche, das Mädchen von damals per Annonce ausfindig zu machen; heute wäre es über neunzig Jahre alt. Allein, die ‚Herrin der Puppe, die wegzog zu Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande‘ hat sich nie gemeldet.
Dafür jedoch eine andere heute über 90-jährige Dame; sie berichtet, dass Kafka in Berlin im Haus ihrer Mutter zur Untermiete gewohnt, dass er sich jedoch Dr. Kaesbohrer genannt und im Keller mit chemischen Präparaten experimentiert habe.“

Natürlich, aus Spannungs- wie aus erzieherischen Gründen erzählte ich meinen Töchtern nicht, wer die Briefe an die Puppe schrieb, erzählte auch nichts von „Sinn und Form“, „Mark Harman“ oder „Kafka“, den ich nur „ein Mann“ nannte. Sondern ich fragte Sonia stattdessen, wer ihrer Meinung nach die Briefe an die Puppe wohl geschrieben haben könnte.
Ihre Antwort war so einfach wie verblüffend, und in gewisser Weise hat sie recht damit: „Du.“

Album (8), 2002/2008

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2. August 2010 13:30










Mirko Bonné

Fäden

Die Goldpollen, die überall
in Fäden auf dem Boden liegen,
Sommerabend. Das zarte rote
Licht und Schwalben. Bleib nicht
allein; fahr noch nicht heim;
geh unter den Bäumen eine Weile
mürrisch durch die schöne Luft.

Da kommt die Nacht, gelber
Schein; der letzte kalte Wein,
Sommernacht mit überraschend
Regen. Die Trauerweide lacht,
und jemand ruft dich an, der
noch vorbeikommt, reden, trinken,
liegen zwischen goldenen Fäden.

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14. Juli 2010 16:51