Mirko Bonné

Luftmacumba

2

Leises Gezisch aus einer kleinen gelben
irrtümlich gelandeten Mongolfière, wenn
Gas in den Tank des Taxis gepresst wird,
das mich durch die unheilvolle Nacht fuhr.
Mit den Augen der Blattschneiderameisen
rollten Omnibuskolonnen aus dem Centro
nach Botafogo, Flamengo und Cantagalo,
hinter Scheiben dunkle Gesichter, kaum
Brillen, Zeitschriften, Unterhaltung. Müde
von Tag und Wärme, bereitwillig bewegt,
leert sich um Mitternacht Rio und landen
auf der Lagune hinter Leblon die Reiher,
um in der sicheren Dunkelheit zu fischen.
Den Kopf in die Nacht gereckt schluckend,
stehen sie einbeinig im Wasser da, träumen
unter den ausgebreiteten Armen des Jesus
auf dem Corcovado, das Evangelium hätte
noch gar nicht begonnen, und schlafen so
satt irgendwann ein. Und auch ich schlief,
Gesichter, die mich verlachten als Baron,
als Barão da Torre, rollten in Kolonnen
hoch oben im Turm durch den Traum.

*

10. Januar 2011 21:16










Mirko Bonné

Luftmacumba

Außer Sicht? Ja und wenn?
Sieh den Vogel – ihn erreich!
Emily Dickinson

1

Das Schöne an dem Turm in Rio,
den Zauber davon in alledem Elend
von Luxus, brachten die Vögel mir bei.
Blickte ich nur lange aufs Betonmeer
von Ipanema im weißen Dunst, dann
weiter ostwärts auf die wirkliche See,
segelten über die Hotels Fregattvögel
lautlos schwarz. In ihrer ausgemergelt
anmutenden Riesigkeit voll Gleichmut,
kreisten sie in weithin zerdehnten Pulks
über der Favela am Hügel von Cantagalo.
Als er sie beschrieb, stellte sich Whitman
Segler vor, Schluss mit dem Kompass –
Schluss mit den Karten, Schiff der Luft,
und über der Bucht, an Bord der Fähre
nach Niterói, wo Passagiermaschinen
zehn Meter überm Wasser zur Piste
des alten Flughafens sinken, sah ich
in löchriger Thermik zwischen den Jets
schwarze Rümpfe und Segel hingleiten,
eine prähistorische Keilschrift vom Fliegen,
langsam wie die Zeit über den Ozean streicht.

*

3. Januar 2011 10:24










Mirko Bonné

Kreuzspinne

4

Weiße Fliegen, kalt,
dem Geschmack nach
altes Wasser, Schnee!

schrie am Fenster
der Zweibeiner, Schnee!
– und da fror sie.

Die Wand lesend,
das Gepilz, glitt sie
zu der Nische,

da lebte etwas,
das fraß sie, damit
nichts mehr begann.

*

Allen Fischen und allen Fischern schöne Festtage!

23. Dezember 2010 11:34










Mirko Bonné

Kreuzspinne

3

Sieht im Spiegel
des Menschenfensters
das eklige Tier,

weißes Kreuz, Achtbein,
die pralle Leibbeere
wie ihre: ich.

Vor dem Glas hängend
bestarrt sie ein Kleid, rot,
Courbets Kornsieberin.

Vorbeifliegen Tage.
Und Laub trudelt
ins rauschende Gras.

*

16. Dezember 2010 17:15










Mirko Bonné

Kreuzspinne

2

Sitzt den ganzen Tag lang
still auf dem klebrigen
unsichtbaren Balkon,

zitternd mit dem Wind,
während nichts passiert
außer Blechschlangen.

Nachts, Knacken der Bäume,
seilt sie sich ab, trinkt
vom grauen Gras.

Tausendbeiniges Nieseln,
droben Gottes Augen,
der die Fliege nicht liebt.

*

9. Dezember 2010 10:54










Mirko Bonné

Kreuzspinne

1

Niemand, der ihr zeigt,
dass sie da ist, kein Bein
auf ihr Herz gelegt.

Blickt unentwegt:
ins Blau des Tags
hinter Wolkennetzen,

wartet auf die Welt,
frisst sie, lacht,
träumt: bedeutungslos.

Vorbeifliegen Tage
und enden in Zacken,
Beinen, der Nacht.

*

30. November 2010 14:53










Mirko Bonné

Mars und Monde

Der verregnete Garagenhof,
eine Häusersichel plötzlich
himmelblauer Tore, in der Mitte
geziegelter Stern fürs Bäumchen.

Es sieht so aus wie seinerzeit.
Richtig! Wie geht’s dir, kleine
Esche, was treibst du seit dreißig
Jahren, und wo sind alle?

Auf der Ziegelmauer schwerelos,
las ich Austauschschüler, picklig,
nichts, ich lebte für Modelle
von Mars und Monden in den Tag.

Aufgebockt in einer Garage
stand der graue Familienmorris,
in der daneben lagen Matratzen,
vollgesogen mit Somersetregen.

Da küssten Rodney und ich
zwei giggelnde Nachbarmädchen
mit Pferdeshirt, duftender Haut,
staubfeinen Ohrläppchen,

die uns mitnahmen nach oben
in ihren Plüschtierkosmos,
Poster vom Pferdekopfnebel
an Tapeten überm Rekorder.

Phobos, die Furcht, kreiste
als zerdellte Schädeldecke
des Kriegsgottes um den Mars,
ich hielt den Mond in Händen,

fühlte die Unebenheiten,
die Krater unter Liz‘ Haaren,
Knochen, Knorpel, und spürte,
ich flog durchs All, wir flogen.

*

29. Oktober 2010 10:49










Mirko Bonné

Billy Shakespeare

Der kleine Billy lief hier übers Gras,
vorbei an Schlüsselblumen, Ringelblumen,
an der Mauer dem Goldregen und Wein,

nichts weiß die weite Welt davon.
Shakespeares Kindheit und Jugend,
ein dunkler Garten. Er hat Luftwurzeln.

In die matten Bleiglasscheibchen
eines der alten Fenster in Stratford
sind hunderte Signaturen geritzt,

Hardy, Scott und Charles Dickens,
Keats kam 1817 her, gerade 22,
fleißig feilend am Endymion.

William Shakespeare, Gentleman,
kam mit 28 zur Welt, verheiratet,
groß wie die Tür seines Elternhauses,

um die sich eine Heckenrose rankt.
Raute, Lavendel, Rosmarin, die Lilien,
altgeworden, sah er den Garten wieder.

Durch die Namen im Fenster sehe ich
die alte Henley Street: ihre Shops,
Souvenirbuden, Geldautomaten.

Nebenan vorm Dichterzentrum
knipsen asiatische Reisegruppen
elisabethanische Schaufensterpuppen,

während unter dem Quittenbaum
voll gelber runder Quittenplaneten
ein Schauspieler in Pumphosen

indigniert Hamlet deklamiert.
Er schwenkt einen Plastikschädel
über Maiglöckchen, Waldgeißblatt,

wildem Thymian und Veilchen.
Hier lief der kleine Billy übers Gras.
Er kannte alle Blumen, und jede Blume ihn.

*

5. Oktober 2010 22:04










Mirko Bonné

Schweinesermon

Acht oder neun muss ich gewesen sein, als ich irgendwo am Tegernsee, in einem Dorf, wo ich als fremdes Kind mit Gleichaltrigen draußen spielen ging, auf dem Gelände eines großen Bauernhofs unvermittelt Zeuge wurde, wie dort ein Schwein, eine mächtige Sau, viel größer, als ich es war, getötet wurde. Es war ein Erlebnis, das mein ansonsten immer erschreckend löchriges Gedächtnis nie hat vergessen können. Ich erinnere mich an die Schreie des Tieres, die Gewalt, die es der ihm zugefügten Gewalt entgegenzusetzen versuchte, ich sehe das Kolbenschussgerät vor mir und fühle noch den Apparat, den ich in die Hand nahm, als ihn der Bauer oder Schlachter dem Schwein an den Schädel gepresst und abgedrückt und dann fallen gelassen hatte. Manchmal, wenn ich ein Schwein sehe, fallen mir, so will es mir scheinen, die Augen der Sau wieder ein, in meiner zerquälten Erinnerung sind sie in ihren letzten Augenblicken auf mich gerichtet, schließen sich nicht, sondern zeigen mir ihre Furcht, ihre Wehmut, ihr Erdulden und schließlich ihre Erlösung oder doch wenigstens Erleichterung.
Seltsamerweise hatte ich nie Mitleid mit dem Schwein. Ich fühlte mich ihm verbunden, ja fühlte – meinte ich – mit ihm. Gab es Erläuterungen seitens des Bauers, oder meiner Mutter? Ich weiß es nicht mehr. Ich sehe in meiner Erinnerung keine anderen Kinder, obwohl wir viele waren, die damals an dem Sommernachmittag dort auf dem Hof herumgespensterten. Ich weiß noch, wie erschüttert meine Mutter war, als ich erzählte, der Hinrichtung eines Schweins beigewohnt zu haben, und dass sie mich fragte, was auch ich mich selber fragte: Warum hast du das getan?
Ich denke, ich wollte verstehen, was das ist: ein Schwein, ein großes Tier, das getötet wird, auch in meinem Namen, obwohl es nichts getan hatte, was einen so barbarischen Akt rechtfertigen würde. Doch es ist das Gegenteil eingetreten, eine Leerstelle, eine leere Insel in meinem Gedächtnis, so kommt es mir vor, ist seinerzeit entstanden. Seit über fünfunddreißig Jahren fragen nicht mich die Augen des Schweins, sondern frage ich die Augen in meiner Erinnerung, goldenbraune, runde, tiefe Augen.
Seit ich Gedichte lese, ist es mir nur selten passiert, in Versen eine Antwort zu finden – einen Klang, eine Musik aus Bedeutungen finde ich dagegen viel öfter. „Lied aus reinem Nichts“ nennen, nach Versen von Wilhelm von Aquitanien, Michael Braun und Hans Thill ihre Anthologie, die deutschsprachige Lyrik des noch jungen 21. Jahrhunderts versammelt. Gestern las ich erstmals darin und fand ein bezaubernd-verstörendes Gedicht, um dessen Lob willen ich mir diesen Schweinesermon abgerungen habe.
Das Gedicht heißt zärtlich-lakonisch „Saurüssele“; geschrieben hat es Günter Herburger:

Das Wichtigste,
was man von Schweinen
lernen kann: kein Mensch zu sein.

Sie sind sehr sauber,
sehr gefühlvoll, ein wenig zänkisch,
kämpferisch, aber dann lieben
sie einander wieder,
und wenn sie weinen,
was sie gerne tun, schreien
sie kaum und lächeln dabei.

Einen Tag, bevor sie
geschlachtet werden sollen,
sind sie nervös und konfus,
rennen umher und beschmutzen sich.
Dann beginnen sie zu singen,
sehr tief und sehr hoch,
wir vermögen es nicht zu hören.

Kein einziges Schwein ist bekannt,
das alt, krank und mager
noch auf der Weide lebte,
ganz und gar nicht allein,
weil umgeben von Igeln,
sodass, wenn es stirbt,
es auch ein Häufchen wäre,
bedeckt von Blättern und Geschmeiß,
deren Konzerte
wir niemals vernehmen.

*

15. September 2010 12:45










Mirko Bonné

Die Gewalt der Gedichte

The base of all inks and pigments is seawater.
Seamus Heaney

Ein warmer blauer Sommervormittag,
von den hölzernen Kais an der Liffey
schnappten sich Möwen die Brotrinden
und weichten sie im Schlammwasser auf,
und beglückt von der Raffinesse der Vögel
schlug Paddy Haughy Mick FitzRoy vor,
am Merrion Strand schwimmen zu gehen.
Sie kauften Bier und trotteten zum Zug.

Ein silbernes Flimmern in der Luft,
im Nachbarabteil gestapelt Kartons,
und an den Fenstern vorbei schossen
die Möwen gleichauf mit dem Waggon,
in dem Haughy und FitzRoy durstiger
von Halt zu Halt plauderten übers Meer,
Nachmittage in ihrer Kindheit am Meer,
Atlantizismus und Gewalt der Gedichte.

Grün gewesen war der Himmel immer,
kamen sie mit der Klasse nach Blackrock,
um da auf den Bus zum Strand zu warten.
Umschwirrt von Wespen fragte Paddy:
Warum beschreibst du das nicht mal?
Mick zog an der schwarzen Zigarette,
sie tranken, sie summten, es war heiß.
Der Bus stand da, Möwen auf dem Dach.

Ein Spiegel aus Gold überm Asphalt,
durch den die Jungen, die sie mal waren,
und die Toten, die sie begraben hatten,
wankten zu dem leeren Bus. Haughy klopfte,
und die Tür flog auf – Wann fährst du?
Der Fahrer gähnte, ob das da FitzRoy sei,
der Dichter, und als sich der verneigte,
sprang der Motor an und starteten die Vögel.

Album (9), 2006

*

31. August 2010 22:29