Mirko Bonné
Meine Töchter, Berlin und ich (2): Auszug von Töchtern
Sie mussten tatsächlich gehen, ich hatte es gesehen
an ihren Gesichtern, die sich langsam wandelten
von denen von Kindern in die von Freunden,
von denen von früher in die von jetzt.
Und gespürt und gerochen, als sie mich küssten,
ihre Haut und ihr Haar, die nicht mehr für mich
bestimmt waren, nicht so wie früher,
als wir noch Zeit hatten.
Es war in unserem Haus eine Welt des Sehnens,
Glücks, Schmerzes und Kummers gewachsen, in ihren
Zimmern, wo sie ansammelten, was sie
mitnehmen sollten, ihre Erinnerungen.
Jetzt da sie weg sind, schau ich aus ihren Fenstern und seh
genau die gleiche Aussicht, genau die
gleiche Welt von vor zwanzig Jahren,
als ich herkam, um hier zu wohnen.
Rutger Kopland
Vertrek van dochters (Ü.: M.B.)
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11. August 2010 16:25Mirko Bonné
Meine Töchter, Berlin und ich (1): Dr. Kaesbohrers Puppe
Während längerer Autofahrten ist es nur eine Frage der Zeit, bis meine Tochter Sonia zu mir sagt: „Papi, Papi, erzähl uns eine Geschichte wie früher die mit dem Pferd und dem Baum und dem See, wo sich alles verzaubert“ – eine Geschichte, an die ich mich leider nicht erinnere. Stattdessen erzählte ich meinen Töchtern eine Geschichte, die ich einmal ins „Forum der 13“ gestellt hatte, vor damals fünfeinhalb Jahren, als Julika, meine Jüngste, noch gar nicht auf der Welt war, und noch einmal, vor gut zwei Jahren, hier in den „Goldenen Fisch“.
Die Geschichte ist diese:
„Dr. Kaesbohrers Puppe
Zwei schöne, ineinander greifende Geschichten über Kafkas Leben in Berlin berichtet Mark Harman in der aktuellen Nummer von ‚Sinn und Form‘. Die erste wurde überliefert von Kafkas letzter Lebensgefährtin Dora Diamant; mit ihr war Kafka unterwegs in einem Berliner Park, als sie ein Mädchen trafen, das seine Puppe verloren hatte. Kafka beruhigte das Kind, indem er ihm erzählte, es solle sich keine Sorgen machen; die Puppe habe ihm einen Brief geschrieben, darin erkläre sie alles über ihr plötzliches Verschwinden. Da das Mädchen verständlicherweise den Brief lesen wollte, versprach Kafka, am nächsten Tag wiederzukommen und das Puppenschreiben mitzubringen. Dora Diamant berichtet, Kafka habe fortan tagtäglich einen neuen Brief im Namen der Puppe verfasst. Darin berichte die Puppe ihm, dass sie geheiratet habe und deshalb fortgezogen sei.
Es gab mehrere Versuche, das Mädchen von damals per Annonce ausfindig zu machen; heute wäre es über neunzig Jahre alt. Allein, die ‚Herrin der Puppe, die wegzog zu Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande‘ hat sich nie gemeldet.
Dafür jedoch eine andere heute über 90-jährige Dame; sie berichtet, dass Kafka in Berlin im Haus ihrer Mutter zur Untermiete gewohnt, dass er sich jedoch Dr. Kaesbohrer genannt und im Keller mit chemischen Präparaten experimentiert habe.“
Natürlich, aus Spannungs- wie aus erzieherischen Gründen erzählte ich meinen Töchtern nicht, wer die Briefe an die Puppe schrieb, erzählte auch nichts von „Sinn und Form“, „Mark Harman“ oder „Kafka“, den ich nur „ein Mann“ nannte. Sondern ich fragte Sonia stattdessen, wer ihrer Meinung nach die Briefe an die Puppe wohl geschrieben haben könnte.
Ihre Antwort war so einfach wie verblüffend, und in gewisser Weise hat sie recht damit: „Du.“
Album (8), 2002/2008
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2. August 2010 13:30Mirko Bonné
Fäden
Die Goldpollen, die überall
in Fäden auf dem Boden liegen,
Sommerabend. Das zarte rote
Licht und Schwalben. Bleib nicht
allein; fahr noch nicht heim;
geh unter den Bäumen eine Weile
mürrisch durch die schöne Luft.
Da kommt die Nacht, gelber
Schein; der letzte kalte Wein,
Sommernacht mit überraschend
Regen. Die Trauerweide lacht,
und jemand ruft dich an, der
noch vorbeikommt, reden, trinken,
liegen zwischen goldenen Fäden.
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14. Juli 2010 16:51Mirko Bonné
Der Lankauer See
Mein Freund und sein Bruder schwammen
unter den großen Uferbäumen zuletzt
im Alter meines Sohns. Fragt er sie,
was anders ist heute, schweigen beide
und blicken aufs grün blinkende Wasser,
die Äste, als würden sie zurückreichen
vierzig Jahre lang bis zu ihnen zwei Jungs.
Ein blonder Reiher, so steht die Tochter
meines Freundes auf einem Pfahl am Ufer,
ehe sie springt. Mein Sohn in seinem Boot
verlässt sich aufs Verstreichen der Zeit,
ihre warmen Wellen, Mücken und Pollen,
die Flüge der Enten zum Abend. Anders,
silberner, sagt einer, stiller, ist nur der See.
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1. Juli 2010 19:08Mirko Bonné
Sprühregen
Ein nackter fliederfarbener und nasser Hund
läuft durch die Stadt auf seinen kurzen Beinen.
Er sucht nach nichts – in den Lichtern am Bund
ist er daheim; einen Herrn hat er scheinbar keinen.
Und scheint er auch selbst aus Licht, ich sehe ihn.
Furchtlos, rosig, klein, so wartet er vor einer Wand
aus Chinesinnen, die vor dem Regen fliehen,
Plastiktüten, Sonnenschirme in der Hand.
Ein nasser fliederfarbener und nackter Hund
rennt über Straßen, die sich teilen und im Kreis
umwinden, Stadtautobahnblüten, blau und bunt
auf den steinernen Lichtungen Shanghais.
Sprühregen; er fährt eine Rolltreppe hinauf.
Träumend hebt er an einem hölzernen Tempel
das Bein. In allen Spiegeln hört die Seele auf –
auf der Haut duftet noch ihr blasser Stempel.
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7. Juni 2010 12:53Mirko Bonné
Savoy
Als man lieber Inder war, lieber
als ein Kind, als man ein Kind nicht
mehr und kein Inder war:
mmmm mmmm mmmmmlieber man,
die mottenkugelsicheren Schränke
der Ahnen durchleuchtet, durch-
röntgt mit rot unterlaufenen
Augen: Rotes! Da!
mmmm mmmm mRotes Tuch,
Zeug: Klamotten, rot Stiefeletten,
rote Ringe wie unter übermüdeten
Inderaugen. Augenringe geschwärzt
mit Kippenasche, ja, Javaanse-
raucher, Patschuli-überzeugt:
mmmm mmmm mmmm mmmMan
ist dann so durch die Nacht geheizt,
im Karmann ins Savoy, den Spiegel-
tempel, Stempel, und Kornelkirschen-
Mala tanzen lassen mit Ma Anand Grit,
Swami Thorsten in roter Latzhose was
zubrüllen, Roten Afghanen einfüllen:
mmmm mmmm mmmm mmmmmmSo
lehnte man da, dachte nichts. Das Nichts
sehr rot. Man lehnte rot ins Nichts. Komm,
rief wer. Zerhackt! Nur wer. Komm doch,
wem rief man zu. Es blutete das Stro-
boskop, sah man, und sich: Wer
mmm mmmwar das noch.
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Mit Dank an Sylvia für Einrücken, Wundern und Wiederfunde
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19. Mai 2010 09:58Mirko Bonné
Green
Hinter den Fliederbüschen
fassten sie dich an, da lebte
ein Igel ohne Stacheln,
bloß Haut, ganz Auge.
Als Mutter gestorben war,
my little boy, da hingen
drei graue Haare verfangen
an dem Totenbettgestell.
Es gibt den Gott, gibt ihn,
nur deinen Weg zu ihm, den
kennst du nicht. Du musst
das Finden finden. Bete!
Küsse! Und bleib rein.
Entsinn dich, Julien,
hinter dem Flieder
die Blässe, die Kälte
des Betts, der Glanz
in dem Auge des Igels.
Entsinn dich. Nimm dir
ein Herz und sei dein.
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8. Mai 2010 14:14Mirko Bonné
Manfred von Bayeux
Oder Marne. Zwei-Jahre-jünger-
Bruder, fröhlicher Massengrab-
Manfred, Wehrdienstverweigerer-
motiv gefallener Großonkel u. v. a.
Elementarteil der Familienerzählung.
Schwarzer Engel der Westfront,
der schussartig in seine Schwester fuhr.
Käti, du redest wie Manni, Käti,
du bist aber leider nicht Manni.
Manni von Bayeux oder Marne.
Entre les lignes des tombeaux,
Käte auf Kriegsgräberfahrt.
Mon frère. Zwei Jahre jünger.
Im Setrabus mit Raketenschnauze
ein Klima, wie ich mir vorstellen kann,
viel Ewiggestrige, Gottchen,
die ganzen jungen Leute ansehen,
Totenfotos vom Blitzkriech.
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Album (7), 1999
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26. April 2010 22:55Mirko Bonné
Barry Lyndon for ever
Es gab Kostüme und Kulissen,
die stärker als er selber waren,
verloren aber hatte er sich nie.
Er fühlte nichts verschwinden.
Er liebte. Schnee seit Love Story.
Am Meer bei Malibu erfand er sich.
Er war der Driver, der verstummte,
und blieb doch immer Barry Lyndon.
Was war da, fragte er sich über drei
Jahrzehnte, 17 Filme lang, wer trug
Duelle aus mit Kindern, seinem Blut,
um sich danach nicht mehr zu finden.
Er mit gepuderter Perücke in Berlin.
Zum Flackern einer Kerze abgefilmt
im Zimmer eines Rokokogemäldes,
als wäre Welt nicht schon zu viel.
Vielleicht war Zeit für Kubrick Speed.
Das sollten Klügere als er ergründen.
Er fühlte nichts. Seit 1775 gab es kein
Entrinnen, keine Tür für Ryan O’Neal.
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Album (6), 2009
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21. April 2010 09:48