Mirko Bonné

Sprühregen

Ein nackter fliederfarbener und nasser Hund
läuft durch die Stadt auf seinen kurzen Beinen.
Er sucht nach nichts – in den Lichtern am Bund
ist er daheim; einen Herrn hat er scheinbar keinen.

Und scheint er auch selbst aus Licht, ich sehe ihn.
Furchtlos, rosig, klein, so wartet er vor einer Wand
aus Chinesinnen, die vor dem Regen fliehen,
Plastiktüten, Sonnenschirme in der Hand.

Ein nasser fliederfarbener und nackter Hund
rennt über Straßen, die sich teilen und im Kreis
umwinden, Stadtautobahnblüten, blau und bunt
auf den steinernen Lichtungen Shanghais.

Sprühregen; er fährt eine Rolltreppe hinauf.
Träumend hebt er an einem hölzernen Tempel
das Bein. In allen Spiegeln hört die Seele auf –
auf der Haut duftet noch ihr blasser Stempel.

*

7. Juni 2010 12:53










Mirko Bonné

Savoy

Als man lieber Inder war, lieber
als ein Kind, als man ein Kind nicht
mehr und kein Inder war:
mmmm mmmm mmmmmlieber man,
die mottenkugelsicheren Schränke
der Ahnen durchleuchtet, durch-
röntgt mit rot unterlaufenen
Augen: Rotes! Da!
mmmm mmmm mRotes Tuch,
Zeug: Klamotten, rot Stiefeletten,
rote Ringe wie unter übermüdeten
Inderaugen. Augenringe geschwärzt
mit Kippenasche, ja, Javaanse-
raucher, Patschuli-überzeugt:
mmmm mmmm mmmm mmmMan
ist dann so durch die Nacht geheizt,
im Karmann ins Savoy, den Spiegel-
tempel, Stempel, und Kornelkirschen-
Mala tanzen lassen mit Ma Anand Grit,
Swami Thorsten in roter Latzhose was
zubrüllen, Roten Afghanen einfüllen:
mmmm mmmm mmmm mmmmmmSo
lehnte man da, dachte nichts. Das Nichts
sehr rot. Man lehnte rot ins Nichts. Komm,
rief wer. Zerhackt! Nur wer. Komm doch,
wem rief man zu. Es blutete das Stro-
boskop, sah man, und sich: Wer
mmm mmmwar das noch.

*

Mit Dank an Sylvia für Einrücken, Wundern und Wiederfunde

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19. Mai 2010 09:58










Mirko Bonné

Green

Hinter den Fliederbüschen
fassten sie dich an, da lebte
ein Igel ohne Stacheln,
bloß Haut, ganz Auge.

Als Mutter gestorben war,
my little boy, da hingen
drei graue Haare verfangen
an dem Totenbettgestell.

Es gibt den Gott, gibt ihn,
nur deinen Weg zu ihm, den
kennst du nicht. Du musst
das Finden finden. Bete!

Küsse! Und bleib rein.
Entsinn dich, Julien,
hinter dem Flieder
die Blässe, die Kälte

des Betts, der Glanz
in dem Auge des Igels.
Entsinn dich. Nimm dir
ein Herz und sei dein.

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8. Mai 2010 14:14










Mirko Bonné

Manfred von Bayeux

Oder Marne. Zwei-Jahre-jünger-
Bruder, fröhlicher Massengrab-
Manfred, Wehrdienstverweigerer-
motiv gefallener Großonkel u. v. a.
Elementarteil der Familienerzählung.
Schwarzer Engel der Westfront,
der schussartig in seine Schwester fuhr.
Käti, du redest wie Manni, Käti,
du bist aber leider nicht Manni.

Manni von Bayeux oder Marne.
Entre les lignes des tombeaux,
Käte auf Kriegsgräberfahrt.
Mon frère. Zwei Jahre jünger.
Im Setrabus mit Raketenschnauze
ein Klima, wie ich mir vorstellen kann,
viel Ewiggestrige, Gottchen,
die ganzen jungen Leute ansehen,
Totenfotos vom Blitzkriech.

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Album (7), 1999

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26. April 2010 22:55










Mirko Bonné

Barry Lyndon for ever

Es gab Kostüme und Kulissen,
die stärker als er selber waren,
verloren aber hatte er sich nie.
Er fühlte nichts verschwinden.

Er liebte. Schnee seit Love Story.
Am Meer bei Malibu erfand er sich.
Er war der Driver, der verstummte,
und blieb doch immer Barry Lyndon.

Was war da, fragte er sich über drei
Jahrzehnte, 17 Filme lang, wer trug
Duelle aus mit Kindern, seinem Blut,
um sich danach nicht mehr zu finden.

Er mit gepuderter Perücke in Berlin.
Zum Flackern einer Kerze abgefilmt
im Zimmer eines Rokokogemäldes,
als wäre Welt nicht schon zu viel.

Vielleicht war Zeit für Kubrick Speed.
Das sollten Klügere als er ergründen.
Er fühlte nichts. Seit 1775 gab es kein
Entrinnen, keine Tür für Ryan O’Neal.

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Album (6), 2009

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21. April 2010 09:48










Mirko Bonné

Was wird

Gewitter mit Köpfen, Pferde
galoppieren übers Dorf.
Zügellos drischt Strom aus der Erde
den Sommerschorf.

Im Schuppen zittert der Torf.
An der Leine rennen Socken.
Waldarbeiter fragen, was werde,
Kreuzottern aus Licht in den Locken.

Die Unterhaltungen stocken –
man zählt die Entfernung, Blitz!
Ein Junge blieb am Bolzplatz hocken
und liest Briefe von Keats.

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Album (5), 1991

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9. April 2010 17:46










Mirko Bonné

Bilder vom Beginn

Auf zwei Fotografien von Luis Gabriel do Rêgo Silva

Aufflattert eine Taube in Valencia:
Die Flügel ausgebreitet, zeigt das Bild
von oben Decken, Daumenfittich, Schirm,
ein Weiß und ein Gefieder, das gleich fliegt.
Der Fotograf ist jung, er steht am Anfang,
und strenggenommen ist er noch ein Kind,
auf Sommerferien an der Costa Blanca.
Das Auge hat ein Auge und geht auf.

Der Apparat war ganz aus Eschenholz,
der Rumpf, das Leitwerk, seine Flügel
auf Fahrradreifen von Papier bespannt,
die frühe Sonne fiel durch den Aeroplan.
Er hatte einen Sternmotor und Treibstoff
für eine knappe Stunde Flug nicht höher
als hundert Meter überm Meer. So stieg
Louis Blériot im Juli 1909 auf in die Luft.

Auf einem Farbfoto von einer Möwe,
das hundert Jahre später weiß auf Blau
der junge Fotograf in Benidorm schießt,
sieht man den Vogel gleiten, den Moment
lebendig werden, Klippen, Gras und Meer,
man sieht die Luft, die trägt, wie zu Beginn
des ersten Flugs nach Dover, als Blériot
am Morgen abhob in Calais und aufstieg.

Wie war ihm, hundert Meter droben
allein dahinzuknattern, Wind im Bart,
was dachte er die halbe Stunde lang,
die Kreidefelsen vor sich, im Geschrei
der Möwen, lernte er nicht sterben?
Die Bilder der zwei Vögel halten fest,
wie der Beginn, der immer lernen muss,
ein Vogel wird, ein Flieger oder Fotograf.

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http://001.images.atoo.net/atooentreprise/122/122/phototheque/20090805781581.jpg

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29. März 2010 11:45










Mirko Bonné

Einsicht

So hören alle Träume wohl auf
wachsen nicht sondern gehn drauf
was solls mich kümmerts nicht mehr
mehr wollen will ich nicht mehr
ich fürcht mich nicht nicht ein Stück
ich seh zu wie sie weggehn nur weg
aber ich weiß noch, wir waren jung
waren die die sich gebärden wie Müll
die mit dem Sinn für Stil das Gefühl
vermitteln du bist im Recht
weißt du nicht du bist im Recht
ich fürcht mich nicht mehr ein Stück
ich behalte die Türe im Blick
aber ich weiß noch …
Geheul und Gezeter für dich
noch mehr Aufhebens um dich
spiegelt einen Punkt in der Zeit
einen bestimmten Punkt in der Zeit
ja wir vergeudeten bloß Zeit
wir hatten nicht wirklich Zeit
aber wir wissen … wir waren jung
und alle ihr Engel Gottes gebt acht
und alle ihre Richter gebt acht
ihr Glückskinder passt gut auf
auf all die Verschwundnen zuhauf
ich fürchte mich nicht mehr

Joy Division

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Album (4), 2002

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17. März 2010 18:36










Mirko Bonné

Ich würde den Geist der vergangenen
bewahren für künftige … tja … Wiederherstellung?

So in etwa.

Herzlich!

4. März 2010 20:17










Mirko Bonné

La Belle Dame sans Merci. Eine Ballade

I
O was nur fehlt dir, Rittersmann,
Streifst du allein und schwach umher?
Längst welkt das Schilf am See und singt
Kein Vogel mehr.

II
O was nur fehlt dir, Rittersmann,
So abgezehrt und schmerzensbleich?
Des Eichhorns Vorratsbau ist voll
Und die Ernte reich.

III
Ich seh die Lilie deiner Stirn
Vor Angstschweiß feucht und fiebernaß
Und deiner Wangen Rose welk,
Auch sie rasch blaß.

IV
Ich traf im Feld auf eine Frau,
Vollkommen schön — ein Feenbild:
Ihr Haar war lang, ihr Fuß war leicht
Und ihr Auge wild.

V
Ich flocht ihr einen Kranz ums Haupt,
Flocht Reife, Gürtel überdies;
Sie sah mich an, als liebte sie,
Und klagte süß.

VI
Ich hob sie auf mein schreitend Roß
Und sah nicht mehr, was rings geschieht,
Denn seitwärts lehnte sie und sang
Ein Feenlied.

VII
Saftsüße Wurzeln, Honigseim
Und Mannatau fand sie für mich,
Und sicher fremdländisch sprach sie —
«Treu lieb ich dich».

VIII
Zu ihrer Elfengrotte gings,
Da weinte sie und stöhnte schier,
Da schloß ich ihr wild wildes Aug
Mit Küssen vier.

IX
Da lullte sie mich in den Schlaf,
Da träumte ich — Ah! weh, so lang! —
Den letzten Traum, den ich je träumt
Auf dem kalten Hang.

X
Ich sah Monarchen, Fürsten bleich,
Bleich Krieger, todbleich alle Mann;
Sie schrien — «La Belle Dame sans Merci
Hält dich in Bann!»

XI
Sah Lippen klaffen, schmal im Dunst,
Aus denen Fluch und Warnen drang,
Und wachte auf und fand mich hier,
Auf dem kalten Hang.

XII
Und deshalb harre ich hier aus,
Streif ich allein und schwach umher,
Ist auch welk das Schilf am See und singt
Kein Vogel mehr.

John Keats
31. 10. 1795 – 23. 2. 1821

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Album (3), 1995

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24. Februar 2010 23:11