Sylvia Geist

Bewegung des Tages

So viele hat es gegeben im Lauf der Zeit, dass man sie kaum aufzählen kann. Man hat die Arme in die Luft geworfen und in die Hände geklatscht. Manchmal hat man die auch überm Kopf zusammengeschlagen. Man hat vor offenen Schnürsenkeln gekniet, mit den Fingern Finger angestupst: „Schau mal, so…“ Man hat sich über aufgeschürfte Knie und eingewachsene Zehennägel gebeugt. Man ist über Spielplätze und Straßen gerannt, während man irgendwelche Beschwörungsformeln murmelte. Man hat die Arme ausgestreckt und kam gerade noch rechtzeitig. Man hat den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Man hat den Kopf in den Nacken geworfen und gelacht. Man hat den Kopf geschüttelt. Sich an ihn gefasst. Man hat sich den Bauch gehalten. Man hat genickt. Ratlos die Hände gehoben. Auch den Zeigefinger, das kann man nicht bestreiten. Man hat sich erst mal hingesetzt. Man stand herum und an. Man sprang auf. Man war stolz, gerührt, entsetzt, gespannt, verängstigt, mitgenommen, begeistert, erstaunt. Man blieb auf Trab und war daneben. Alles kam in Gang und ging weiter. Jetzt geht jemand los. Man steht da und hält einen Moment lang ganz still. Man stellt sich auf die Zehenspitzen. Dann hebt man zwei Finger an den Haaransatz. Man zieht den Hut.

für Kai

24. Juni 2009 12:59










Sylvia Geist

Ein, zwei Bemerkungen über die vielen Möglichkeiten, „Willkommen“ zu sagen

Um das hier habe ich mich gerissen. Unbedingt wollte ich das Vergnügen haben, Christoph W. Bauer im Goldenen Fisch willkommen zu heißen – obgleich der Geistesblitz, ihn hierher einzuladen, gar nicht von mir stammt, sondern von Mirko.
Ja, ich habe mich regelrecht vorgedrängelt, und jetzt, da es ernst wird mit der Begrüßung, stehe ich vor einem Problem. Denn wie stelle ich das nun am besten an, bei so jemandem?
Ich könnte aus einer Laudatio auf ihn zitieren: „Bauer gehört zu den Autoren, die rar sind im Lande. Er ist voller Skrupel, behelligt Menschen nicht aufdringlich mit seinen Texten.“ Und: „Diese Gedichte sind Christoph W. Bauer.“ (Anton Thuswaldner)
Ich könnte Christophs produktive Vielseitigkeit erwähnen, seine Romane, Herausgaben, Lyrik. Ich könnte über die Freude schreiben, die seine Gedichte in mir auslösen, über den Rausch beim Inhalieren der glänzenden, rasanten Wortschöpfungen, der lebendigen, hochkomplexen und dabei ganz kristallinen Syntax, über das erstaunliche Vermögen auch, Fremdwörter zu fremden Worten zu machen, zu verführerischen, coolen Sirenen, und über das, noch erstaunlicher: dermaßen leichtfüßig das „land in unsichtbaren atlanten“ abschreitende Wissen, das diese Gedichte mit dem Leser teilen wie gute Gastgeber, freigebig und so selbstverständlich, dass man sich fühlt wie zuhause.
Ich könnte erzählen, wie ich ihn, nachdem wir vor Jahren schon im Rahmen des schönen, von ihm initiierten Zeitschriftenprojekts „Wagnis“ Schriftkontakt hatten, erst kürzlich kennengelernt habe, als herrlich unkonventionellen Denkspieler und Gedicht-Gesprächspartner.
Und ich könnte – endlich! – ihn zu Wort kommen lassen, mit einem Auszug aus seinem Gedicht aus 70 Gedichten „supersonic“, aus dem Abschnitt „aprikosen“:

XVI

läufst die glieder gegossen zu klöppeln
im stirnrad der pflichten
aus dem dickicht
aufgefächerter gebärden

denen du die tage bezwingst stadtein
übern markt dir selbst feil
geboten und taub
für offerte längst wieder

verkauft zwischen geflechten voll licht
aus den sekunden gepflückt
von gesängen über
mütigen schüben ganz

plötzlich
die saftigen lieder in aprikosen
fabulierender kindersommer im mund

*

Lieber Christoph, gemeinsam mit Mirko und allen im Goldenen Fisch freue ich mich über Deine Ankunft hier.

9. Juni 2009 14:07










Sylvia Geist

Strontium

hiesige himmelsrichtungen
nach zehrschäden und heuschreckenvöllerei zu bestimmen wäre leicht
südliche lebensläufe zu unterscheiden von solchen aus unseren provinzen
    ein kinderspiel in jahrhunderten die heimat unserer leibspeisen festzustellen
gäbe es schon methoden. übrig blieben überallkarten in
knöchernem esperanto

vollständiger entschlafen
in einem künftigen smithsonian als im erdarchiv die
vor uns. niemand der sie lesen könnte – besonders nachts
    wenn du die ganze straße überblicken könntest weil niemand
dich ablenkt davon reist der glaube weit. aber
nicht allein

zu sein
ist ein zimmer im raum. im dunkel wohin
wir dauernd unterwegs sind die gezähmte landschaft ringsum auch
    die blüht ihre große rapsfeldfreude die lautstärke am mittag
und wie es sein kann mit plänen und
auf lavendeltreppen.

    Schön, dass Du hier bist, lieber Martin!  

     
5. Juni 2009 14:27










Sylvia Geist

Meer

II.

Salzgrammar, nicht erlernbar, löst das Schild,
es warnte vor Ausgestorbenem,
Geschichten, Erinnerungen alter Männer.

Geordnetes Plankton, fünfzig Seiten, das Weiße
des Wals aufzuschlagen, das harpunierte Nichts,
einmal für alle beschrieben der Nährwert

der Unart. Ganz zu schweigen vom Leviathan,
was könnte besser gelingen. Wolkencargo,
Fixsternzirkus, kein Gewerbe meiner Augen.

Mein Schiff kam auf dem Weg der Laute,
aufgeschnappt, gefressen wie Krill,
Manna, als ich Kind war. Ich hörte sie

auf Gischt, die Pequod, die Wachen,
sich ablösende, einander zugewandte
Wörter, in jeder Muschel die Turbine

Tiefe. Raum ist, was ich nicht verdränge, Kleinstes
steigt auf in vegetabilen Galaxien, friedvolle Silben,
die Bläue beginnt, der Atem zu flüstern.


Auch von mir ein herzliches Willkommen, lieber Björn.

20. Mai 2009 12:12










Sylvia Geist

Kennwort Aprikose

Wenn ich an Aprikosen denke, erinnere ich mich an den Aprikosenbaum, den meine Tante aus einem Kern gezogen hat. Inzwischen trägt das Bäumchen schon selbst Früchte, kleine gelbe, angenehm kühl und fest in der Hand liegende Aprikosen, die mehr nach Gartenluft als nach Obst duften. Bei einigen lässt sich der narbige Stein darin leicht öffnen, springt fast von selbst auf und gibt den fruchtbaren Kern frei, die Mandel, ein Flämmchen wie der Kern des Wortes „Aprikose“, apricus, „sonnenbeschienen“, womit die erinnerten Aprikosen mich nun daran denken lassen, dass sie wirklich eine Übertragung von Sonne sind, von Strahlung ins Stoffliche, in Haut, Fleisch und Stein der Frucht, so wie ein Wort seine Übertragung ins Physische erfährt, sobald es gesprochen wird, wenn es Atem wird, Schallwelle, bewegte Luft.
Höre ich das Wort „Aprikosen“ , wandelt es sich, enthält plötzlich mehr als seine Ethymologie, das gehörte Wort führt weiteres mit und wird damit selbst ein Weiteres, es echot im Klang buchstäblich ein Anderes, das selten gewordene Verb „kosen“.
Das althochdeutsche chosôn war ein reich entwickeltes Wort, das mal als Adjektiv, mal als Verb auftretend und in zahlreichen Kombinationen die Vielgestaltigkeit menschlicher Rede bezeichnete: als chôsîg und chleinchôsîg bedeutete es „beredt“, flankiert vom Hauptwort chôsîgî für „Beredtsamkeit“, als vilichôsîg hieß es „geschwätzig“, als argchôsôn „übelreden“, „verlästern“, als widarchosôn „widersprechen“. Diese und noch andere Formen und Bedeutungen umgeben wie Faserschichten, wie Fruchtfleisch, den Kern von chosôn. Über ihn lässt sich eigentlich nur noch spekulieren, doch es wird angenommen, dass er vom lateinischen „causari in seinem späteren Gebrauche für das schleppendere alte causam dicere u. ä., vom Reden vor Gericht“ herrührt. Dafür sprächen romanische Wörter wie das altfranzösische choser – „zanken“, „tadeln“ – oder auch chausar im Sinne von „sein Recht geltend machen“.
Diese Annahme gefällt mir, führte sie mich doch über einen ausgedehnten Bogen zurück zu der Kreuzung zwischen Sprache und Gerechtigkeit, wie sie Peter Waterhouse in seinen, ebenfalls im oben erwähnten Band enthaltenen, Ausführungen zu Carl von Linnés „Nemesis Divina“ betrachtet. Linné, so erfährt man, schöpfte aus allen erdenklichen Quellen, aus dem Buch Hiob wie aus Senecas Schriften und Vergils Hirtengedichten, er zitierte aus den Psalmen und Lucullus´ Sieg über die Parther herbei, sogar eine Revolte in Russland, und das Zusammenstellen und -führen dieser Zitate aus derart weit voneinander entfernten Orten und Zeiten diente keinem anderen Zweck, als seinem Sohn, der ebenfalls Carl von Linné hieß, einen Einblick zu geben „in die ausgleichende Gerechtigkeit der Welt“ – als wäre es nicht nur möglich, Recht zu sprechen, um es zu üben, sondern, wer weiß, gar nicht anders als unter dieser Voraussetzung möglich! Dieser Gedanke hätte einiges für sich, vor allem die fast utopische Vorstellung, im Bewusstsein der Schnittstelle zwischen „reden“ und „Recht sprechen“ die „Rede“ weniger als rhetorisch denn als moralisch definierte Sprechhaltung aufzufassen.
Doch ganz so einfach war der Zusammenhang zwischen chosôn und causari nicht beschaffen, man sieht immer noch erst den Stein der Frucht, sieht noch einige der ihn umlagernden Bedeutungsfasern, nicht aber den Kern, das Flämmchen der Mandel. Die Bedeutungen des lateinischen und des deutschen Wortes stimmten nicht eins zu eins überein, deshalb glossierte das deutsche recht differente Wortfelder, die – wie zum Beispiel bei gichôsi für oratio – mit einem Zusatz besonders bezeichnet werden mussten: dingchôse für das Reden vor Gericht stand zum lateinischen rhetorico syrmate offenbar in keiner verwandtschaftlichen Beziehung. Also doch nur Rederei, aber keine Gerechtigkeit in chosôn, geschweige denn der Funke einer nemesis divina? Aber, oder vielmehr wieder nein: „Was für causari spricht, ist der merkwürdige Umstand, dasz lat. causa früh volksmäszige Aufnahme gefunden haben musz, nach kôsa (…) causa, Rechtshandel in deutsche Begriffe übersetzt, die Streitsache eines Zweikampfes (…) Das musz aus römischem Rechtsleben auf deutschem Boden entstanden sein, und zwar sehr früh, vielleicht noch vor der Wanderung.“
Darum ding-chôse, nach der Rechtssache, ja, aber mehr noch nach der „Sache“ selbst, chose, wie sich auch im älteren, ursprünglichen sahhan für „streiten“ die sahha spiegelte, und an dem Punkt berührt man endlich den Kern, zieht seine dünne Schale ab, unter der nun auch die Möglichkeit der causa sichtbar wird, ihre Kraft, kausal zu werden, Ursache von etwas. „Den Germanen müszte das gewandte Reden der Römer vor Gericht einen solchen Eindruck gemacht haben, dasz sie danach kunstvolles Reden, Streiten, Unterhandeln benannt hätten, dann Zwiegespräch überhaupt, auch trauliches“, heißt es weiter bei Grimms.
Das ist also die ganze „Aprikose“, mit ihrer sonnenbeschienenen, sonnengelben apricus-Haut, darin der reiche Klang von „kosen“ und der Stein, das widerspenstige chosôn mit seinen vielen angrenzenden Bedeutungen, und in ihm die flammenförmige Mandel mit ihrer Fruchtbarkeit, der Causa, wo sich reden mit rechtsprechen trifft, sprechen mit traulich reden. Ausgerechnet sein zartester, am wenigsten begründbarer Teil ist der widerständigste Rest des Wortes, ihn höre ich mit, wenn ich „Aprikose“ höre. Niemand weiß mehr genau, wie sich reden, selbst traulich reden, in kosen wandelte, wieso es in jüngeren Sprachzeitaltern nur noch Berührung meinte, Bewegung, bewegte, streichende Luft, doch es würde mich nicht wundern, wäre da, irgendwo im Verborgenen, das Wandelwort aber am Werk gewesen, über das ich zu den Aprikosenbäumen gelangt bin.

(Strahlung Sprache / Notizen)

17. März 2009 13:59










Sylvia Geist

„Aber: sonnig“

„In Hopkins Tagebüchern leuchtet oder klingt oder duftet fortwährend etwas heran, das ich-förmig ist, aber…, eine Wolke, aber…, ein Grasfleck, aber…, im Wind flackernde Blätter der Ume, aber…“, heißt es in dem Essayband „Die Geheimnislosigkeit“ von Peter Waterhouse.
Dieses Ich-Förmige bewegt sich leicht, nicht unmerklich, aber in einem Modus nahe daran. Es bewegt sich in der Tarnung von Landschaft, geht nicht hindurch, vorbei oder darüber hinweg, es wandelt und wird gewandelt, seinen Schritten, seinem Tempo, seiner Haltung nach. Auch die Landschaft wandelt sich im Bewegungsmodus des Wandlers, den man in den bei Waterhouse angeführten Passagen aus Hopkins Tagebüchern nicht als Ichsager wahrnimmt, sondern als das verschwiegene Ich-förmige der Landschaft, beide „gehen“ miteinander her, nebeneinander, komplementär in der Landschaft, die der Text zeigt, und sich gegenseitig komplettierend. Die Landschaft des Textes wäre nicht ohne ein Ich, aber es ist nun darin als eines, das gewandelt ist, als ein Aber-(Wolke-aber-Grasfleck-)Ich, das sich als gesehene und mitgeteilte Landschaft darstellt und gleichzeitig als ihr sehender und mitteilender Teil.
„Aber“ ist ein teilendes Wort. Es teilt einen Satz oder eine Satzfolge in Aussage und Einwand, abgrenzend und zugleich vermittelnd. Das Aber ist ein Tor, durch das das Andere in den Satz kommt und ihn wandelt, ein Wandelwort. Es bindet mindestens ebenso stark wie „und“, doch nicht durch Reihung. Es verselbständigt das in den Satz gebrachte Andere. Es ist ein Ichwort, gefürchtet und verfemt in Welten ohne Wenn und Aber, in totalitären Systemen, ein individualisierendes, emanzipatorisches Wort und doch eines, das auf den oder die anderen zurückgeht im Akt der Differenzierung: „Ja, du…, aber ich…“ und umgekehrt. Es führt zusammen, indem es auf eine Unterscheidung weist, signalisiert eine Alternative, eine weitere Denkbarkeit und wird in diesem Weiteren zu einem Wort mit zeitlicher Dimension. Ein gewandeltes Zeitwort?
Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm wird die „uralte Partikel“ vom gothischen afar hergeleitet, das wiederum eine Fortbildung der Präposition af ist: „(…) aus dem in af enthaltnen Begriff der Senkung und des Niedergangs folgt der des nach, hinter und wieder (…) vielfach verwickelt ist die Anwendung der conjunction aber, wie sie aus dem Übergang des wieder in wider, des Wiederholens in ein Entgegnen erwachsen ist; fast immer läszt ein solches aber sich auch durch ein schleppenderes dagegen, hingegen, dahingegen verständigen.“ Welch ein Kippwort: dem Niedergang erwidert das Danach, das Wider-Aber taucht als ein „abermals“ auf. In den „tausend aber tausend Stimmen“, die bei Goethe „durch die Lüfte schwimmen“, ergänzt und verstärkt es die ohnehin schon symbolische Tausendzahl als Beiwort für Ungezähltes und fasst es in sich zusammen.
Manche Bedeutungsnuance hat sich im Lauf von Jahrhunderten scheinbar verloren, besonders in alten Wortverbindungen wie „Abersaat“ – die Aussaat zum Beispiel von Rüben, nachdem das Korn geerntet war, eine „Nachsaat“ also – oder, vielleicht am schönsten und am schwierigsten, zweischneidigsten, in „Aberwandel“, was das „Recht zurück zu gehen“ bedeutete, auch „Reukauf“ und „rückgängig machen“. Auf seiner positiven Deutungsseite wendet der Begriff den Rückstoß des Wider in die Rückgabe des Wiedergutmachens.
Seine volle Beweglichkeit erhält das Aber jedoch erst, wo es zum Verb „aberreden“ wird, hier reicht es vollends zum Anderen hinüber, wird, nun tatsächlich in Gestalt eines Zeitworts, wieder Partikel, Widerwort, getunnelt zur abgewandten Seite des Mondes: „delirare, gebildet wie aberkosen und gleicher Bedeutung: dis geschlecht der menschen, das also aberredt, verzuckt und nit bei im selbs ist.“
Steht „aberreden“ mit „abern“ in Verbindung? Dem Wörterbuch der Grimms zufolge ist „abern“ abgeleitet „von althochdeutsch avarôn, iterare“, oder von „àparên, wahrscheinlich regelascere“. Dann steht da noch: „Keinem von beiden verwandt scheint ein abern der Vogelsteller für locken, füttern (…): wo sich die zeislein, hänflein aufhalten; da wird ihnen mit mahen (mohn), hanf und anderm geäbert, und wann sie die speisen einmal oder zwei angenommen, werden die wände gerichtet.“
Plötzlich steht es wieder mitten in einer Landschaft, das Aber-Ich, antwortend, aberredend vielleicht, weiter gehend, weiteres auflesend in einer gewandelten Landschaft, die jetzt an etwas erinnert und in der auch „Sonne“ anders klingen kann, leichter oder nur licht: „ABER, sonnig, ein dem lat. apricus verwandtes, in unserer Sprache althergebrachtes Wort (…) In der Meinauer Naturlehre heiszt der Zephyrus waltwint oder âberer wint; und auch Zwingli sagt: so einer lang in dem schneeglanz gewandlet hat und demnach an aabre grüne ort kumt…“
„Heute ist aberes Wetter“ heißt: es ist sonnig, also es taut, der Schnee schmilzt, „es abert“. Doch und noch keine Wände in dieser Landschaft für die Vögel. Aber Vögel, und Bäume, Aprikosenbäume.

(Strahlung Sprache / Notizen)

9. März 2009 11:18










Sylvia Geist

Wiederfund (10): Aus dem Leben eines Satzes

„Ich nehme die Sonne und werfe sie…“: Als Marie Sklodowska im November 1891 in einem Hörsaal der Sorbonne diesen Satz hörte, war sie vierundzwanzig Jahre alt. Nachdem sie als Erzieherin gearbeitet, ihrer Schwester Bronia das Medizinstudium in Frankreich finanziert und daheim in Warschau ihren kranken Vater gepflegt hatte, war sie gerade erst in Paris angekommen, um ihr Physikstudium aufzunehmen, und nun hörte sie von Paul Appell diesen Satz, von dem sie später Eve Curie erzählte und den diese in die Biographie ihrer Mutter aufnahm.
Marie war schon in Warschau von Mathematik und Physik bezaubert gewesen, der Satz von der geworfenen Sonne war ihr nur eine Bestätigung, dass sie sich endlich auf dem Weg ins Berufsleben befand. Zu welchen wunderbaren Entdeckungen der führen würde, wusste sie nicht.
Doch ist das, was Marie Curie – im Laufe von Jahren, das heißt: während ungezählter wenig wunderbarer, sondern unbequemer und vermutlich zuweilen auch recht eintöniger Stunden, die sie in einem staubigen, im Winter kaum beheizbaren, zum Behelfsabor umfunktionierten Hangar zubrachte – sind also die Stoffe, auf sie die dort in den Kesseln mit brodelnder Pechblende stieß, überhaupt „wunderbar“ zu nennen? Bis sie und Pierre Curie die Elemente Radium und Polonium nachgewiesen hatten, waren ihre Hände verbrannt von Säuren, mit deren Hilfe sie die neuen Stoffe isoliert hatten, und von der Arbeit an der Erforschung einer weiteren Entdeckung, die sich darin verbarg, nämlich von dem Element, um das man nun die Reihe Feuer, Wasser, Erde, Luft erweitern musste, vom Element Strahlung.
Ahnte sie, wenn sie ihre verbrannten Hände betrachtete, dass die Auswirkungen dieser Emanation über solche Oberflächenschäden hinausgehen würden, dass das fünfte Element schon begonnen hatte, im Körperinnern, im Knochenmark, die Leukämie auszubrüten, an der sie erkranken würde? Schwer vorstellbar, dass die Wissenschaftlerin sich der schlichten Hypothese, die sich aus den Verbrennungen an den Händen ergab – dass es zu weiteren, inneren Verbrennungen kommen konnte – hätte entziehen können. Und wenn sie eine Gefahr ahnte, kam ihr da der Gedanke, die Arbeit mit dem Element Strahlung aufzugeben oder auch nur einzuschränken?
Wohl kaum. Die Frau, die von dem Satz „Ich nehme die Sonne und werfe sie…“ so hingerissen, so mitgenommen worden war, dass sie ihrer Tochter davon erzählte wie von einem Initiationsmoment, hätte sich bei aller Rationalität nicht gegen die riskante Arbeit entscheiden können. Dabei dachte sie auch in den Dingen des täglichen Lebens sehr vernünftig, und wenn sie einen praktikablen Weg gesehen hätte, sich gegen eine mögliche Gefahr zu schützen, hätte sie es getan. Leider gab es einen solchen Weg nicht, schon deshalb nicht, weil man Art und Ausmaß der Risiken ja erst noch in Erfahrung bringen musste, und abgesehen davon ging es, wenn sie die Pechblende rührte, Proben nahm und untersuchte, maß und rechnete, auch nicht darum, vernünftig zu sein. Die Verfassung, in der man arbeitete, lässt sich dagegen aus einer überlieferten Bemerkung Pierre Curies ableiten: „Ich wünsche mir, dass es eine wunderschöne Farbe hat.“
Nicht nur diesem Hinweis nach ist es fraglich, dass die sich erst allmählich herauskristallisierende Bedeutung ihrer Entdeckung sie antrieb. Es dauerte vier Jahre, bis ein Dezigramm reinen Radiums isoliert war (nicht gerechnet die Zeit, die es brauchte, die neuen Elemente zu erahnen), eine Spanne, gegen die sich die der Entwicklung der Radiumindustrie und der Anwendungen des Stoffs unter anderem auf medizinischem Gebiet kurz ausnimmt, vier Jahre in einem zugigen Hangar, in denen noch gar nicht abzuschätzen war, wann die Arbeit zu einem greifbaren Resultat führen würde und welche Nutzeffekte sich daraus ergeben würden. Pierre Curies Wunsch aber wurde mehr als erfüllt. Das Element – das winzige Stückchen, das man schließlich aus acht Tonnen Schlacken destilliert hatte – war, wie Marie notierte, von der „schönsten Farbe“: es leuchtete.
Ich glaube, Marie ging es bei alledem immer noch und immer weiter um den Satz, der in ihr lebte wie ein Bild, in dem sie sah, was für sie zum Glück gehörte: die unerhörte Freiheit darin, seine Ausblicke auf die Möglichkeiten des sonderbaren Handwerks, die sie damals, 1891, zu erproben begann. In der Poesie dieses Satzes fand sie all das wieder, und wenn sie ihre verbrannten Hände betrachtete, war es vielleicht, als sähe sie im Grunde nur das Werk der gedachten Sonne, die sie seit dem Tag im Hörsaal hatte werfen wollen – aber diese Annahme ist natürlich schon nicht mehr Teil der Geschichte, des offiziellen Lebens dieses Satzes.
Sie gehört zu seinem zurückgezogenen Dasein in meinem Kopf. Ich begegnete dem Satz, als ich vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war, in der Curie-Biographie, die meine Mutter mir in der heimlichen Hoffnung geschenkt hatte, irgendwie mein Interesse an einem Fach wecken zu können, in dem meine Leistungen einfach unterirdisch waren, und obwohl ich keinen Schimmer davon hatte, wie Formeln wohl funktionierten, spürte ich in dem Gleichnis von Paul Appell, dass sie so etwas wie ein Konzentrat sein mussten, transparent, gehaltvoll und schön. Auch viel später noch, als mir langsam schwante, dass ich eben nicht zu denen gehörte, die im Chemielabor die Abenteuer erleben können, von denen ich als Schülerin geträumt hatte, blieb mir eine Art Kinderfreude an dem Wenigen, das ich von dort mitnehmen konnte.
An den Satz dachte ich dann aber lange nicht mehr. Erst neulich traf ich wieder auf ihn, als ich mir das Gedicht Nocturne noch einmal ansah. „Ich habe schwarze Hände fürs Gras“, lautet der Schlussvers, und schon als ich ihn schrieb, fragte ich mich, woher dieses Bild gekommen sein mochte, wovon die Hände des lyrischen Ich da eigentlich schwarz sind. Von Druckerschwärze? Immerhin eine Spur, in einer äußeren Schicht des Gedichts. Als ich es mir nun vor ein paar Wochen wieder vornahm, fiel es mir endlich ein: es ist Ruß, und unter dem Ruß sind die Hände verbrannt von der Sonne des Satzes.

(Strahlung Sprache / Notizen)

23. Februar 2009 15:54










Sylvia Geist

Manitoba

Dein Nachbar hat seine Schindeln
weggelegt neben die ausgedienten
Nägel und die Kinder

nebenan das Lachen, das du
an schlechten Tagen verdächtigst.
Um diese Zeit lacht niemand über

die Zäune. Die Dunkelheit der Häuser
streicht die Zeile, die Trampelpfade und
das Gebell und was immer zu hören ist: dies

ist der Platz, beleuchtet von nur diesem Tag.
Dort rücken wir die Stühle aus den Hageln
des Nussbaums, die hirnschönen Kerne liegen

weiß und bitter bloß zu früh.
Wie Angehörige einer alten Religion
beugen wir uns der Augenzahl der

Blätter, schütteln unsere Deutungen ab
und noch einmal beschreibst du mir das
Wild mit der falschen Frage.

13. Februar 2009 12:00










Sylvia Geist

agarden

: a garden

12. Februar 2009 08:35