Sylvia Geist

Zum Beispiel Phil Doole

Unter der Rubrik “Eine Meldung und ihre Geschichte” berichtete der SPIEGEL vor ein paar Jahren ueber Phil Doole, der am Mount Cook beide Beine verloren hatte und 21 Jahre spaeter auf Prothesen den hoechsten Berg seiner neuseelaendischen Heimat bestieg. Was Doole antrieb, ging aus dem Artikel (ein Zitat daraus und ein Gedicht dazu stehen irgendwo im Fisch) nicht hervor, und die Frage nach dem Warum beschaeftigte mich auch nicht. Ob Doole nun den Berg erfahren wollte oder sich selbst auf dem Weg, eines scheint doch ziemlich unwahrscheinlich zu sein: dass er das Bergsteigen inzwischen aufgegeben hat. Solange dieser Mann sich bewegen kann, wird er immer so weit gehen, wie es ihm moeglich ist (und sich dann fragen, wie weit er wohl noch kommt).
Vielleicht sind die Moeglichkeiten und Kraefte eines Menschen zugleich seine Zwaenge.

Nachtrag vom 08.08.:
Noch mal gegoogelt und festgestellt, dass der erwaehnte Artikel aus dem Jahr 2004 stammt. Ausserdem findet man u.a. die Information, Doole habe 2006 den Mount Everest erklommen.
Ueber Gerlinde Kaltenbrunner wiederum liest man nach dem Absturz Fredrik Ericssons, ihres Teamgefaehrten am K2, vor wenigen Tagen: „Dass Kaltenbrunner ihr Vorhaben (Besteigung saemtlicher Achttausender ohne Sauerstoffgeraet / Anm. S.G.) nun aufgibt, ist nicht zu erwarten. Im Mai 2007 verschüttete eine Lawine bei der Besteigung des Dhaulagiri ihr Team. Zwei spanische Bergkameraden starben, Kaltenbrunner überlebte knapp – dank einer Luftblase – und grub sich selbst aus den Schneemassen aus. Zwei Monate später bezwang sie mit dem Broad Peak ihren zehnten Achttausender.“ (WELT Online) Interessant in diesem Zusammenhang auch eine Prognose von Kaltenbrunners Ehemann, Ralf Dujmovits: „Selbst wenn Gerlinde vor meinen Augen abstürzt – ich würde weitermachen. Umgekehrt wäre es genauso.“

7. August 2010 23:23










Sylvia Geist

Dienen

Im digitalen Dickicht stieß ich jüngst auf einen Kommentar zu einer Veranstaltung mit arabischsprachigen Dichtern, die im Rahmen des diesjährigen Poesiefestivals in Berlin stattgefunden hat und an der ich als Vorleserin der deutschen Übersetzungen von Leila Chamaa teilgenommen habe. Der diese Lesung kommentierende Gast nun stieß sich an dem Umstand, dass Gedichte männlicher Lyriker von einer Frau vorgetragen wurden. Die dabei ins Feld geführten Begründungen sollen an dieser Stelle keine Erwähnung finden, sie entstammen größtenteils einer Debatte, die, wenn ich das einmal so lax sagen darf, einen Damenbart hat.
Nur auf einen Punkt möchte ich eingehen: jener Zuhörer unterstellte, man leihe dem Islam die Zunge, indem man in der Konstellation „männlicher Dichter / weibliche Lesestimme“ die vortragende Frau in der Rolle der Dienerin vorführe.
Dieses Argument halte ich für verfehlt. Zum einen vereinfacht es die Sicht auf den Islam in seinen unterschiedlichen Ausprägungen und Lebenswirklichkeiten auf eine Weise, die man eher von Roland Koch kennt als aus literarischen Zusammenhängen; zum anderen stehen Vorleserinnen (und Vorleser), wie Übersetzerinnen (und Übersetzer) – hoffentlich – stets im Dienst, und zwar an Gedichten, nicht oder nicht in erster Linie an deren Urhebern. Im 21. Jahrhundert sollte dies jenseits einer ausgedienten intellektuellen Geschlechterapartheid in beide Richtungen möglich sein, ohne überkommene bzw. im gegebenen Kontext ohnehin deplacierte Vorstellungen von Subalternität zu nähren, auch und gerade in den Begegnungen zwischen der westlichen und der islamischen Welt. Und natürlich ist es längst möglich; ich z.B. schätze mich glücklich, dass einige meiner Gedichte kürzlich von einem Kollegen aus Saudi-Arabien nicht nur übersetzt, sondern anlässlich verschiedener Lesungen auch von ihm vorgetragen wurden. Der „weiblichen Stimme“ meiner Gedichte hat das gewiss keinen Abbruch getan, eher mag sie in seiner Kehle eine andere Färbung gewonnen haben, einen um Nuancen veränderten Ton, der mein Gehör für etwas schärft, das nie ganz „mein“ ist, geschweige denn es bleiben sollte.

11. Juni 2010 17:18










Sylvia Geist

Wiederfund (12): Das Geheimis des Struwwelpeters

„Ungezogenheit ist der Verdruß des Kindes darüber, daß es nicht zaubern kann. Seine erste Erfahrung der Welt ist nicht, daß die Erwachsenen stärker (sind), sondern daß es nicht zaubern kann.
(…)
Das Geheimnis des Struwwelpeters: Diese Kinder sind alle nur ungezogen, weil ihnen keiner was schenkt, darum ist das Kind, das ihn liest, artig, weil es schon auf der ersten Seite so viel geschenkt bekommt. Ein kleiner Geschenkregen fällt da vom dunklen Nachthimmel. So regnet es unaufhörlich in Kinderwelten. In Schleiern, wie Regenschleier sind, fallen Geschenke auf das Kind herunter, die ihm die Welt verschleiern. Ein Kind muss Geschenke kriegen, sonst wird es wie die Kinder im Struwwelpeter sterben oder fortfliegen. Das ist das Geheimnis des Struwwelpeters.“

aus: Walter Benjamin – Über Haschisch. Mit einer Einleitung von Hermann Schweppenhäuser

Das Geheimnis des Struwwelpeters ist eines aus einer Reihe von Geheimnissen, die sich Benjamin während seiner Rauschexperimente zeigten. In einem der Experimente dieser „Vorschule der profanen Erleuchtung“ (Schweppenhäuser) begegnete er auch einem sie alle einigenden Geheimnis der Wahrnehmung, als ihm ein verschleiertes Gesicht erschien, „das selber nur Schleier ist – das ist viel zu himmlisch, um weiter darüber zu reden“. Das hat etwas Eleusisches: der Schleier hebt sich sozusagen in dem Moment vom Geheimnis, in dem der Schleiercharakter des Offenbarten hervortritt. Fritz Fränkel, der mehrere Rauschexperimente Benjamins protokollierte, schrieb dazu: „Es ist für den Haschischrausch ein ebenso gewöhnlicher wie charakteristischer Vorgang, daß das Sprechen mit einer Art Resignation verbunden ist, daß der Berauschte schon darauf verzichtet, auszusprechen, was ihn wirklich bewegt, daß er sich bemüht, etwas Beiläufiges, Unernstes an der Stelle des Eigentlichen aber Unsagbaren zum Ausdruck zu bringen…, daß – dies ist das Merkwürdige und der Aufklärung sehr Bedürftige – das gewissermaßen auf Abbruch Geäußerte weit merkwürdiger und tiefer sein mag als das, was dem Gemeinten entsprechen würde.“ Vielleicht ist das auch die Verbindung zwischen Imaginationszuständen des Haschischrauschs und solchen der Dichtung, oder der Verselbständigung von Sprache im poetischen Wahrnehmungsprozess, eine geistige Verfassung, die Benjamin gemeint haben könnte, als er vom Denken als von einem „eminenten Narkotikum“ sprach. Nach dem Geheimnis des Struwwelpeters ließe die poetische Wahrnehmung Geschenke regnen, die die Welt verschleiern und das Schleiergesicht der Dinge zeigen, Geschenke, ohne die man vielleicht „sterben oder fortfliegen“ würde wie die Kinder im Struwwelpeter.

18. Mai 2010 12:39










Sylvia Geist

Tree of Life*

*Touristenattraktion in Bahrain

30. April 2010 12:02










Sylvia Geist

Bougainvilla

Zu einer Tageszeit ist sie köstlich, nämlich
wiedergefunden auf den Fluren des Hotels
Hochsommerfrühling, wenn du, im Knast aus Wald
Tapete tasmidisch an Sesshaftigkeit vortäuschenden
Blättern würgend, nicht mehr reden willst, wenn nicht
der Allüberallbeo den Vorhang seiner Flügel öffnet und sich
zeigt, was du nicht verkennst noch vermagst, die Welt im
Ornat einer Welt, die geliebt wird, sich fallen lässt irgendwo
in einer Dienstagnachmittagminute im Aufwind
des Fahrstuhls, beziehungsweise stehenbleibt in voller Blüte
mitten auf dem Entsetzenspurpur des Teppichs, wenn du
sie schon übergehen willst auf der Reise nach Jerusalem,
Samsara, Eden, abbiegst, abbrichst, wenn sie dir zufällt
als Situation oder als Drehtür zur Tag-und-Nacht
Gleiche, als davorlos, als Goldwaage, geeicht auf alles,
was du herzlichst und ausschweigst, als waghalsige
Schlüsselblume, als Name für Bougainvilla, dann

20. April 2010 17:28










Sylvia Geist

Pferde

Ich hatte den Wunsch nicht. Ich kannte die Pferde
aus Lebkuchen und die aus Holz, und die anderen,
die den Karren mit dem Sarg zogen in dem Lied,
das meine Mutter mir vorsang. Die Mutter im Lied
schenkte ihrem Kind immerzu die falschen Pferde,
süße, harte Enttäuschungen aus Lebkuchen oder Holz.
Erst die Karrengäule am Schluss waren echt. Aber
ich hatte einen Apfelschimmel, der zum Fenster
raustänzelte wie ein Zeitungsschnipsel. In Wirklichkeit
ahnte ich, glaube ich, den Unterschied. Es gab das
Luftpferd, und es gab die echten Enttäuschungen,
die am Ende vom Lied den Karren zogen, vielleicht
kam es mir auch so vor, als könnte man darauf pfeifen.

9. April 2010 14:09










Sylvia Geist

Hirsche

für Sünje

8. April 2010 10:29










Sylvia Geist

Quecksilber

zwischen wach
und wacher geteilt in schweiß und brand war
es so mein schrecken in kindlichen fiebern? die stiegen
mmmmin einen körper den es noch nicht gab oder
nicht mehr. der fror. eine blühende haut um
mmmmdie geister sich scharten. sommer in den kapillaren
mmmm mmmmder zweige vor dem fenster und das gesumm
mmmm mmmm mmmmaus dem zimmer nebenan geweht in mein draußen:
irgendein keim… übern weißen fleck wand lief das stirnding
mmmmdas geht jetzt um auf wunderlands äckern also vorbei.
orientieren nach

echos echo
tieren nach dem mit dem horn über die
augenweide fand ich nicht heim machte nicht halt… her
mmmmwas kalt macht! löffel wie widerworte auf die zunge
gezwungen bis die schatten schulter an schulter zusammen
mmmmgewachsen – vater mutter die ausgedachte schwester und alle
mmmm mmmmtröstlichen gesichte – gegen morgen hin zu keinem verschwammen
mmmm mmmm mmmmim lichte der erde aus kunststoff meiner einzigen
lampe. was könnte friedlicher sein als die hitze vergangen
mmmmunterm gegenzauber eines pilzes die rückkehr aus langen ferien
von allem

die begrüßung
der dinge die man wiedererkennt nach der umschrift
früherer rezepte: verdünnung aufguss surrogat. das märchen von zuhause.
mmmmaber da stand das haus. die leergeregnete kirsche und
der rest der welt. mad as a hatter
mmmmhöchstens noch die wühlmaus die aus ihrem garten
mmmm mmmmunter dem rasen nichts vertrieb sowie das wetter
mmmm mmmm mmmmdas über die scheiben strich und schrieb. genesen
sagte mir nichts. zur nacht wurde es klar. verankert
mmmmin ihrem funkelpelz der baum. das tropfen. es hieß
fort gewesen.

25. März 2010 14:17










Sylvia Geist

Bodum

Rätsel, ist das nicht eine Begebenheit, wären es drei,
sieben, neun, die man behielt, weil sie einander folgten.
Auch der Satz, das um uns sei magisch, ist es nicht
weniger als die Geschichte, die ihn beweisen soll, oder
der Küchentisch, an dem ich meinen Zug verpasse,
um davon zu hören, und es dauert kaum länger als
ein Entenplätschern, ein Quaken, sich irgendetwas
vorzustellen. Standhafter bleiben die übrigen Aufgaben,

die Mechanik der Kaffeekanne, beim Säubern des Filters
die Ratlosigkeit vor Teilen, bis einem das Ganze wieder
bekannt vorkommt. Zur Geschichte: weder die Nummer,
von Kindern oder Böen gekritzelt auf die Staubhaut
des Wagens, in dem jemand dem Unfall entkam, noch
dass ich beten lernte, bevor es mich rettete vor einem
grauen VW Passat, ordnet, was uns übern Kopf hinweg
passiert, an zur Formation, etwa der eines Pfeils Enten

in eine bestimmte Himmelsrichtung. Eine übrigens holte
mich mal aus ganz kurzem Flug, knallte auf das Wasserloch
bei der alten Zünderfabrik, wo ich damals wohnte, nachts,
so dass ich nicht mehr weiß, ob ich denn meine Arme hatte
ausbreiten müssen. Die Dinge träumen, lesbar wie das flüchtige
Zusammentreffen der Schwerkraft mit den Teilchen am Grund
dieser Kanne. Rätsel, am liebsten ist es mir unerschütterlich
als Kaffeenebensatz, wenn es heißt: „Dreh den Boden um.“

für Dieter M. Gräf

13. März 2010 15:20










Sylvia Geist

Brom

geschah mir
das im purpurschneckenschlummer? jenes heim das mich umfing
dem ich mich anschmiegte dass ich nur so stürzte
mmmmdies tat das nicht mich endlich in den tag
entwand mit dem rückgrat einer wendeltreppe? möglich

kein unterliegen
fällt schwerer als ein anderes in wirklichkeit. einmal
bin ich die weiche schleppe die ins laken geknotet
mmmmihr besseres gedächtnis buckeln muss ihr wünschen und irren
ein andermal erwischt mein schlaf mich überall

zieht mich
auf den flur zwischen den häusern und ich
klappere vor meiner tür. nicht mehr als der unversehrte
mmmmmüll. was aus ihm werden könnte mit der antwort
die er sich gibt. wie konntest du.

2. März 2010 13:56