Mirko Bonné

Oboe

Schließ den Mund über der Oboe,
die weißen Töne strahlen
die Luftröhre hinunter
auf dein nacktes Herz.
Frühmorgens, am Tisch
die Milchjahre, eingetauscht
gegen die Angst der Hand vorm Papier,
Einen im Rücken, nah, dass er jede
Silbe zwischen den Zeilen errät.
Wortmulm, Eroberungen des Maulwurfs.
Wo denn ein Land finden, wie zwei Schritt weit
folgen einem Gedanken, da zurückmündet
in die Schuhspitzen der Meridian.
Schließ sie über der Oboe,
deine Lippen. Milch
fließt durch die Röhre, und
wir bilden einen Gesangkreis. Ich
tausche die Bissstellen
im Tisch gegen eine
geheime Musik ein, und du
komm, du komm einmal um die Welt.

*

12. August 2016 10:22










Christine Kappe

die Frauen ohne Köpfe, die Siegerkränze mit den abgehackten Händen, der gotische Durchbruch, dahinter zieht jemand die Landschaft weg, die nur auf Folie gemalt ist, bunte Lichterketten, zum besseren Verständnis.

als ich aufs Klo gehen, sehe ich die Kinder dort Frösche auf die Heizung legen, zum Trocknen, es gibt kaum Stühle, & alle essen mitgebrachte Sachen, nur wir haben nichts mitgebracht, außer unseren Texten, die keiner lesen will, die Kinder spielen ‚Mord im Dunkeln‘, im Hellen, im Ernst.

ich habe Bücher früher anders gelesen, ernsthafter & wie als Sport, ich meine, die Seiten richtig umgeblättert, & möglichst viele am Tag, & immer gegen die Welt, immer gegen die Welt.

12. August 2016 06:37










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (54)

10. August 2015, ein Montag

Gestern Abend fuhren einige Aikidoka und ich nach dem Training zum Weißensee, badeten und gingen essen beim Asiaten. Hübsch. Und mir dämmerte, dass mein Zustand sich erst wirklich ändern könne, wenn ich lange wandere. Also nicht nur über die Alpen, sondern in Bolivien oder Peru am Titicacasee oder irgendwo anders. Nur dann würde sich der Blickwinkel im nötigen Maß verschieben. Natürlich ist das eine Flucht, aber aus Furcht vor Fluchtverhalten in Dauerschockstarre zu verharren, ist schließlich auch keine Lösung.

Heute Vormittag doch noch ein weiteres Rundschreiben an Genossenschaft und Mitbewohner – unter erhöhtem Schweißaufkommen. So nüchtern geblieben wie möglich, dennoch in Erwartung der wutschnaubenden Meute unter der Maske heiliger Entrüstung.

Halbherzige Bewerbungen meines Metjens nahmens Preetzen bei 3sat, ZDF Kultur und ORF III, den Sendern, die sich auch für 88 – pilgern auf japanisch erwärmt haben.

Herr S. von der FAZ schreibt, mein Expeditions-Vorschlag Richtung Papua-Neuguinea bzw. Kuruwai erübrige sich, weil Redakteur L. das Land im September bereise. Ist Papua-Neuginea gerade in Mode gekommen?

Planung für meine Anreise nach Siebratsgfäll, Ausgangspunkt der Alpenüberquerung. Braucht etwas lange, so eine Planung, aber irgendwie auch schön, so ein erster Schritt in Richtung Wanderreise.

11. August 2016 08:47










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (51/52/53)

6. August 2015, ein Donnerstag

Mit dem Gedanken ins Bett zu gehen, dass man Angst vor Angstträumen hat, ist eine ziemlich gute Garantie für eine schlechte Nacht. In den einen Träumen möchte ich nach Krumme Lanke, werde mit dem Auto an einer Gabelung rausgelassen und weiß nicht mehr, wohin. Außerdem kann ich mich nicht gut bewegen. Und wache ich aus dem Traum auf, spüre ich das rechte Knie.

Dieser zweite Fastentag setzt mich völlig matt. Ein hartnäckiger Kopfschmerz, der sich nachts zwischen Nasenwurzel und Stirnhöhle eingenistet hat, geht nicht weg. Erst gegen 17 Uhr wird er schwächer. Fasten versetzt mich spürbar in einen Mangel- und also Krankheitszustand. Das passt zu meiner Situation: Ich mache mich krank. Ich unterlaufe die Ernährungsvorgaben durch zwei Löffel Apfelmus und etwas Saft. Sonst würde ich völlig siechen. Ich werde Aikido schwänzen.

Nachmittags die ganze Zeit im Bett. Zwei Träume: Im ersten lebe ich in einer eher großzügigen Wohnung mit Balkon. Es klingelt. Kitty und – ach, was?! – ihr neuer Freund, der mir irgendwie aus Filmen bekannt vorkommt, stehen vor der Tür. Ich bewirte sie und spiele den Gastgeber, bis mir in einer ruhigen Minute einfällt, dass das dämlich ist und ich mich heimlich aus der Wohnung mache. Im zweiten Traum gerate ich trotz wartender Schlangen und uniformierten Wachdiensten durch einige Schliche in einen Lidl-Supermarkt und fische nach Bananen, die dort auf einem Bord über einem Bett liegen.

Hitzewelle über Berlin. Heute deutlich über 30°C, morgen werden 37°C erwartet. Das ist natürlich totaler Blödsinn, sich bei dieser Hitze auszumergeln.

7. August, ein Freitag

Recht angenehm erwacht. Zwar in einem Traum, in dem ich im Sehnen nach einer Frau das Nachsehen habe, aber das störte nicht allzu sehr.

Das Frühstück nach dem freien Training ist normalerweise ein Fest. Heute sitze ich mit meinem Wässerchen dabei. Für den Rest des Tages Darben und Trinken auf dem Sofa. Dieser dritte Fastentag sieht Darmentleerung vor. Bloß nicht noch einmal diese Entwässerung. Ich werde es mit Kaffee probieren.

Das hat nicht geklappt. Also noch eine Portion Glauber-Salz in banger Erwartung.

9. August, ein Sonntag

Gegen 3:30 Uhr erwacht in der Sommerhitze, schlaflos und müde. Nachgeschaut im Internet: Ricky Gervais hat sich aus seinem facebook-live-Blog verabschiedet, etwas rüde sogar.

Kittys Züge gehen langsam verloren. Die Projektionen, die ich auf sie lud – Kinder, Familie, Zukunft, Lebenssinn, Neuanfang, Allesgut – winden sich um einen Namen, nicht um ein Gesicht oder einen Menschen mit Kontur.

Im Morgenblau nach ersten Tagebucheinträgen friedlich entschlummert, sogar mit Traum von etwas Erotischem und vom Essen eines Brötchens mit belegtem Ei – zuletzt also ein erfüllbarer Traum.

(Fast erfüllbar: Beim Bäcker stellt sich heraus, dass Schnitt-Ei aus ist.) Fasten beendet. Sofort reingehauen. Alles, auch Eis.

Die Morgenlektüre in Bleak House liest sich wie ein Kommentar auf meine Situation im Hause. Bei Dickens rankt sich das Geschehen um die unheilvolle Mühle der Justiz, namentlich im Fall Jarndyce contra Jarndyce, einer Mühle, in die sich der sonst arglose Richard ziehen lässt und in den Sog von Argwohn, Zweifel und sonstiger Zermürbung gerät.

10. August 2016 11:20










Tobias Schoofs

SIEBZEHN

was hier beschrieben steht ist
unsichtbar ein zeilengrab in dem
du weggekommen bist was hier

beschrieben steht besteht nicht
mehr ich hab dir doch gesagt
du sollst für nachwuchs sorgen

stattdessen bist du weg und alle
sagen was der hier beschreibt
ist ausgedacht als wirklichkeit

doch gar nicht möglich hättest
du dich rangehalten könnt ich
leicht auf deine brut und damit

auch auf dich verweisen und
du und das hier wären doppelt

9. August 2016 20:35










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (49/50)

4. August 2015, ein Dienstag

Ab morgen wird gefastet. Heilgefastet. Besorgung einer Unterkunft am ersten Tag der Wanderung, Schriftverkehr mit Genossenschaft, Ausfüllen der Krankenversicherungs-Anträge für den Wechsel in die Gesetzliche, Impfung (Zecken), und schon geht’s dahin.

Heute Abend wieder Mieterversammlung – die erste nach dem letzten Eklat …

5. August, ein Mittwoch

Die Mieterversammlung verlief glimpflich, zumal ich Frau H.s Rat befolgte, nicht die Laus im Pelz zu sein, sondern still den Dingen zu folgen. Es wird ziemlich resigniert geklungen haben, wie ich sagte, keine Einwände zu erheben. Dieses Resignative wird mir heute Morgen beim Frühstück sehr klar. Dabei dämmert die Vorstellung, mit so einer Resignation aus dem Leben zu scheiden, wenn die Hoffnungen aufgebraucht sind. Also auf eine Weise, dass die Umgebung mit der Schulter zuckt. Die Vorstellung, in dieser Verfassung über den fünfzigsten Geburtstag zu kriechen und mich mit irgendwelchen Fernreisen von einer Lebenswürdigkeit zu überzeugen, lässt draußen am Tisch beim Bäcker meine Augen feucht werden. Ich merke, wie sich der Gedanke einkrallt, dass es eine Option ist, aus dem Leben zu scheiden, und möglicherweise bezeichnet genau dieser Gedanke die Schwelle zur Krankheit und Krisis und das, was Frau H. mir für meine Zukunft prophezeite.

Bei Kafka wird es nachzulesen sein: dass die Macht des Opfers darin besteht, seine erlittenen Verletzungen zur Schau zu stellen und die Täter damit an ihre Taten zu erinnern. Und außerdem, dass diese Macht nur eingebildet ist und in der Fantasie des Opfers besteht, da die Täter tausend Strategien und Schlichen ersonnen haben, dieser Attacke auszuweichen. Haben die geschundenen Freaks auf Jahrmärkten jemals das Publikum zur Einkehr gebracht? Nein, sie haben gejohlt und gezahlt und damit ihr Recht auf Hohn und Verachtung erkaufen können. Und Schweinsteiger hat im WM-Finale seine Wunde nur deshalb so glorreich-heroisch präsentieren können, weil sein Täter in der Minderheit war und Schweinsteiger – als Sieger des Titels – im Gewand des Opfers der eigentliche Täter blieb.

Es bleibt erbärmlich zu glauben, jemanden damit beeindrucken zu können, indem man ihm sein „Das habt ihr aus mir gemacht“-Antlitz zeigt. Der Andere hat damit nichts zu tun. Er wird – mit Recht – entgegnen: Das hast du aus dir gemacht. Wie wirke ich auf Andere mit meinen Minirebellionsanflügen: wie all die Spinner, die ihre Frust-Weltsichten in die Gegend motzen und den Zeitungslesern der Bäckerei auf den Wecker fallen.

Dies ist der erste von vier Fasten-Tagen. Das Fasten lässt sich seltsam an: die mit Glauber-Salz angetriebene Entleerung erfolgt nicht, obwohl ich mittags eine Zusatzportion in mich hineinschütte. Erst gegen 18 Uhr entfaltet das Abführmittel seine Wirkung, dann allerdings mit Macht, leider gerade zum Zeitpunkt, als ich zum Aikido-Training will und als lauter Nachbarn im Treppenhaus herumgeistern. Das Klo auf halber Treppe ist in solchen Phasen sehr weit weg.

9. August 2016 10:57










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (45/46/47/48)

31. Juli 2015, ein Freitag

Jetzt, am Abend, lässt die Wirkung jener Tröpfchen nach, die mir auf der Zunge zergingen unter der heiligen Pipette von Frau H. und mich mit der Welt vereinten. Vielleicht diente auch Noah Baumbachs Gefühlt Mitte Zwanzig als Ausnüchterungszelle. Da lässt sich ein Paar von Mitte Vierzig auf ein junges Hipster-Paar ein und sieht sehr schnell sehr alt aus. Allerdings wirkt Er (Ben Stiller) vergleichsweise deutlich vitaler als ich: ein zwar gescheiterter Dokumentarfilmer, aber einer mit Ambitionen; ein zwar törichter Partner, aber einer mit Ehefrau (und zwar Naomi Watts); ein zwar verworrener Wohner, aber immerhin mit cooler Wohnung etc.

1. August, ein Sonnabend

Die Beschäftigung mit Vatis Familienchronik ist ein ewiges Stolpern. Mal überliest er meine Anmerkungen, dann missversteht er sie, dann misslingt das Versenden – ein ewiges Nachsetzen, Nachholen, Würgen, obwohl es im Grunde mein Wunsch ist, Vati im Produktivdasein zu begleiten. Wir schauen einander in die unendlich aufgefächerten Spiegel unserer Renitenzen und Erwartungen. Wenn er am Telefon fragt, was ich heute denn so machen würde, fühle ich mich sofort wie im Kreuzverhör.

2. August, ein Sonntag

Heute morgen sitzt beim Bäcker, wie jeden Morgen, der geistig etwas zurückgebliebene Mann mit dem vergreisten Kindsgesicht und plappert im Selbstgespräch. Es sind Wallungen. Mal kleinere und größere Blasen, die aus dem Morast unhörbaren Selbstgesprächs an die Oberfläche steigen. Er ist die Kehrseite all jener Leute, die über unsichtbare Anstecker telefonieren und anmuten wie Gestörte im Selbstgespräch. Im Gegensatz zu ihnen wirkt der Mann beim Bäcker wie jemand, der telefoniert. Aber eigentlich macht er das ja auch in seinen im Kreisverkehr verlaufenden Ich-Dialogen.

3. August, ein Montag

Täglich spüre ich das rechte Knie und weiß doch, dass es noch einen Monat durchhalten muss. Ich bin ziemlich sicher, dass dort eine Art Splint lose ist, der im besten Fall verleimt werden müsste.

Das Soll von drei Kapiteln in Dickens‘ Bleak House erfüllt. Was normalerweise die Belohnung vom Tagewerk sein sollte, ist mangels Tagewerk selbst zum Tagewerk erhoben. Das ist mittags erledigt, genauso, wie das Mittagessen um 12:15 Uhr erledigt ist. Was ich mir täglich abverlange, ist lächerlich wenig. Als wäre ich mein eigener Psychotherapeut, der seinem Patienten nur das mindeste zutraut.

8. August 2016 09:27










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (42/43/44)

28. Juli 2015, ein Dienstag

Juckende Stellen schon seit Tagen. Wahrscheinlich Ungezieferbisse. Flöhe? Mein Bett ist ein sozialer Ort.

Heute abend kommen drei Aikidoka zum Essen, ich koche – wie fremd schon allein der Gedanke! – ein Drei-Gänge-Menü mit Tomatensuppe, Bratkartoffeln, Eis-Himbeer-Baiser. Dessert ist einfach. Schwieriger ist die Tomatensuppe. Schon das Wort „Dünsten“ muss ich googeln. Nicht eben haute cuisine, die Tomatensuppe in der Schüssel zu lagern, in der sonst der Putzlappen liegt …
… Nach Mitternacht: glücklich abgespeist. Durch den Schleier möglichst lässiger Geschäftigkeit sah ich die Ströme der Gespräche fließen und dachte: Ja, so muss Leben sein.

29. Juli, ein Mittwoch

Auf einem Bahnsteig telefoniert eine kleine junge Frau. Sie trägt Jogginghosen und sagt sehr energisch, sie sei „zunächst einmal sauer auf die … Jenny Fotzenschön …“

Vierter und bitte vorerst letzter Termin bei Heilpraktikerin H. (die sich selbst lieber als Seelenheilerin bezeichnen würde). Sie begegnet meiner Skepsis an der Methode mit Hinweis auf naturwissenschaftlich belegbare Erkenntnisse über morphogenetische Felder (ererbtes Wissen innerhalb genetisch verbundener Gemeinschaften) und verweist auf Rupert Sheldrake als wissenschaftliche Referenz. (Das recherchiere ich später und sehe: Laut Wikipedia sind Sheldrakes Hypothesen über das „Gedächtnis der Natur“ von der etablierten Wissenschaft als pseudowissenschaftlich abgelehnt worden; zu den wenigen Befürwortern zählt Bernd Hellinger, der die Familienaufstellung als psychotherapeutische Methode prägte und seinerseits umstritten ist.) Meine Einwände gegen die jüngste Auswahl der während unserer Behandlung heranzitierten Engel entkräftet Frau H. mit souveräner Leichtigkeit: Dies alles seien eigentlich lediglich Energiekörper, die ins Totenreich begleiten, je nach Kultur unterschiedlich ausgestaltet. Es hätte auch ein Bär oder ein halb-skelettiertes Wesen sein können, aber solche Wesen seien eben eher in anderen Kulturen tätig, hier nähme man Engel. Frau H. kann auch mit gänzlich nicht-scharlatanischer Nüchterneheit von ihrer Erleuchtung und ihren Erleuchtungsmomenten sprechen, inklusive ihrer großen Skepsis an den Mitteln der Sprache, die an solchen Bereichen (im Jenseitigen) nichts mehr greifen könne. Überdies gelte es auch in meinem Fall, das dauernde Festhalten und Kontrollieren aufzugeben. Es würden noch härtere Kämpfe auf mich zu kommen als bisher: eine noch ärgere Gegenwehr von Ego und Persönlichkeit. Da würde ich durch müssen.
Im nächsten, kinesiologischen Behandlungsschritt hält Frau H., wohl mit Rücksicht auf meine methodischen Zweifel, den „heiligen Raum“ sehr abstrakt: Er ist nicht bewohnt von Engeln, sondern von Lichtkörpern. Mir ist, als wäre der heilige Raum gerade saniert worden.

30. Juli, ein Donnerstag

Wie mich das drängt, diesen Tag nach dem H.-Tag Revue zu passieren. Morgens eine Mail vom Sensei, einsetzend mit „Lieber Gerald, ich liebe dich, danke für deine Mail“ – wann hat es so etwas schon gegeben? Dazu ein überaus milder Email-Verkehr mit Kitty, der dann einvernehmlich ermüdet und einschläft. Zur Eiche. Die war warm.

Lade J., den wilden Siegfried, zum Besuch des Jüdischen Museums und der Ausstellung „Gehorsam“ ein, siehe: Er willigt ein und hält es aus. Was für ein therapeutischer Tag. Welche Droge hat Frau H. da eingeträufelt? Und wann werden die Mühlsteine wieder ihr Mahlwerk aufnehmen?

7. August 2016 10:52










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (39/40/41)

25. Juli 2015, ein Sonnabend

Der schönste Tag der Woche: morgens freies Training. Viel ushiro-ryote-dori. Wenn keine Verletzungen auftreten, dürfte alles geschmeidig ablaufen bei der Prüfung.

Danach mit dem Fahrrad zum sogenannten Berliner Fotomarathon; mit dem Übertreten der Schwelle flutet mich das Gefühl, kaum eines der Fotos könne mich interessieren und ich sei lediglich dort, um ein selbstgestecktes kulturelles Wochen-Soll zu erfüllen. Speditives Checkern, frühe Flucht.

Wylers Sackgasse (USA 1939) – Humphrey Bogart vor seinem großen Ruhm. Anrührend: Er gibt dem Gangster Seele, und Wyler dreht ein wirkliches Sozialdrama mit einer Prise Gangstertum. Eine hübsche Entdeckung, auch wenn Gram und Grübeln nur für Momente verschwinden.

26. Juli, ein Sonntag

Das allsonntagliche Telefonat mit den Eltern. Vati kündigt an, er werde mir seine Familienchronik noch mal zur Durchsicht zusenden (wie oft denn noch?), aber es habe keine Eile, ich möge danach gehen, „wie es meine Geschäfte zulassen“. Innerlich sofort aufgebracht. Ich bin Wunde. Man hört: Schwester U. verzeichnet Arthrose-Befund in den Knien. Man weiß: Schwester S. mit rheumatischen Beschwerden. Man ahnt: marodes Erbmaterial, demnächst verschrottet durch die familiale Lust an Hoch-und Überdruck.

Tee-Treffen zur Dojo-Sache bzw. zu J. und seinen Entgleisungen: Ein Aikidoka-Zirkel findet sich ein im Garten des Sensei, debattiert mit dem Störenfried und über ihn. Auf dem Heimweg Unbehagen trotz Einsichten des Friedlosen über seinen Tunnelblick. Unbehagen über Debattierverhalten, über Diplomaten, die ihre Verständnissinnigkeit demonstrieren mit Einleitungssätzen wie „Mich hat sehr berührt, wie …“, was mich sehr unangenehm berührt. Aber letztlich: die Arbeit ist getan. Ab jetzt: Urlaub davon. Was J. damit anfängt, ist seine Sache.

27. Juli, ein Montag

Frühstück mit Verleger Z., „meinem“ Verleger (haha: ein Buch!). Der ist ja nun charmant und beredt und lustig gesegnet mit vielerlei Wissen und Interessen. Vielleicht aber werde ich langsam blöde. Ich vermisse eine gedankliche Schärfe bei mir, ein pointiertes Denken. Ich tappe recht oft im Nebel halber Gedanken und hoffe auf halber Strecke, irgendwo heil herauszukommen. Auch verhehle ich ihm gar nicht, dass im Augenblick nicht viel los ist mit mir. Das könnte man noch als Klarsichtigkeit verbuchen, bringt aber natürlich nicht viel.

6. August 2016 17:10










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (37/38)

23. Juli 2015, ein Donnerstag

Ruheloses Gehen im Kiez-Karree. Spazieren sollte ich, Glück tanken und mit scharfen Blicken den Passanten ihre Gesichter ablösen, um sie einzukleben ins Album daheim, doch ich erledige lediglich das Pensum, als habe man mir das Gehen verschrieben.

SMS-Verkehr mit Exfreundin M. – wie viele Jahre haben wir uns nicht gesehen – wirklich acht? Wie die wohl aussieht?

Post vom Amt: Verlangt werden Nachreichungen, die meinen Mehrraumbedarf belegen. Erneut unliebsame Befriedigung über behördliche Zumutung, über die ich mich empören könnte und meine Zeit in einen staatsbehördlichen Dienst stellt.

Zahnarzt: Krone zum Dritten. Beim Einsetzen empfindlich. Hoffentlich werden die nächsten Tage gut, sonst sofort wieder hin, bevor man’s nicht wieder loskriegt.

Auf der Rückfahrt vom Aikido erhebt sich dringlich der Wunsch, auf der Jannowitzbrücke in den Sonnenuntergang zu schauen. So tu ich denn, nüchtere aber sofort aus und fahre eilig weiter.

24. Juli, ein Freitag

Gott als blinder Fleck in der Wahrnehmung. Dieser Gedanke erschien mir beim Aufwachen so niederschrifttauglich, während der Niederschrift bereits nicht mehr.

Filmabend der „Japanischen Filmreihe“ mit den Aikidoka: Seom – Die Insel – der schmerzerfüllte Film von Kim Ki Duk. Kaum jemand hält ihn aus, viele machen dem Innendruck Luft und lachen und geben Kommentare, um sich diesen Angriff vom Leib zu halten. Neben mir sitzt Frau S. auf Tuchfühlung, was ich einerseits reizend finde, was ich andererseits aber gar nicht reizend finde. Es wäre absolut idiotisch, in diese Richtung zu liebäugeln.

5. August 2016 14:51