Hans Thill

Der Barbar von Vézelay

vezelay11
Erinnert sich an eine Geschichte, in der eine fliegende Hand durchs Fenster kommt. Er ueberlegt, womit man so eine Hand fuettern koennte, doch daran erinnert er sich nicht

Er steht vor einem Haus, liest sein Fachwerk Balkenalphabet. Er befragt den Buchstaben e
denkt an den Reissnagel auf Perecs Schreibmaschine, er klappt das Buch zu wie Kublai Khan seinen Atlas

Der Sohn des Pharao wird von einem Racheengel getoetet. Moses und das goldene Kalb. Angreifende Elefanten

Er denkt an die verschiedenen Formen des Fallens, zaehlt sie auf. Aus der Autotuer, dem davonrollenden Pfirsich hinterher. Die Stufen eines Podiums hinauf, einen uebergrossen Blumenstrauss in den Haenden, im Begriff, eine Festrede zu halten. Kinder im Arm, alt und mit einem Kopftuch. Die Wolken fallen der Sonne entgegen. Graeber fallen den Himmel hinauf usw

Er liest, fuehrt ein Selbstgespraech korrigiert gesagte Dummheiten, schaemt sich fuer Vergangenes. Er denkt den Satz: Das geht mir nach. Tröstend die getunkte Magdalena aus einem eigenen Gedicht

13. Mai 2009 16:03










Björn Kiehne

Blau Grün Gelb

Wiesen Felder Wind
schwerblauer Himmel
Rapsleuchten am Horizont

Das Schüchterne Kind
streicht durch feuchtes Gras
tastet Schritt für Schritt die Welt aus

Der Tag riecht nach nasser Erde
Eine Lerche steigt auf
Ihr Gesang zerreißt die Wolken

weit weg
irgendwo
beginnt es
zu regnen

13. Mai 2009 07:27










Andreas Louis Seyerlein

~

0.01 – Eine Fotografie, die zeigt, wie ich kurz nach meiner Geburt ausgesehen habe. Ich war schon geputzt, aber noch immer zerfurcht vom langen Warten unter Wasser. Als ich mir vor wenigen Minuten diese erste Fotografie meines Lebens in Erinnerung rief, ist mir bewusst geworden, dass eines Tages einmal eine weitere Fotografie existieren wird, eine Fotografie, die die letzte Aufnahme gewesen sein wird meiner Person als einer lebenden Person. Auch ist mir bewusst geworden, dass das < Auf die Welt kommen > mit Entfaltung zu tun haben könnte und dass von Nathalie Sarraute gleichwohl eine erste Fotografie existiert haben musste in schwarzer und in weißer Farbe und vielleicht noch immer existiert. – M e i n  erster Schatten. – Ich wäre im Jahr meiner Geburt in Farbe bereits möglich gewesen.

sarraute

2.15 – Eines Tages im Jahre 1965, vielleicht an einem Samstag, vielleicht an einem Sonntag, ich konnte schon laufen und hatte gelernt, mir die Schuhe zu binden, nahm Roman Opalka den kleinsten seiner verfügbaren Pinsel in die rechte Hand und malte mit titanweißer Farbe das Zeichen 1 auf eine schwarz grundierte Leinwandfläche. Bevor er diese erste Ziffer malte, fotografierte er sich selbst. Er war gerade 34 Jahre alt geworden, und als er etwas später seine Arbeit unterbrach, – er hatte weitere Ziffern, nämlich eine 2 und eine 3 und eine 4 auf die Leinwand gesetzt -, fotografierte er sich erneut. Er war nun immer noch 34 Jahr alt, aber doch um Stunden, um Ziffern gealtert. Auch am nächsten und am übernächsten Tag, Woche um Woche, Jahr um Jahr wurde er älter, in dem er Ziffern malte, die an mathematischer Größe gewannen. Wenn eine Leinwand, ein Detail ( 196 x 135 cm ), zu einem Ende gekommen war in einer letzten Zeile unten rechts, setzte er fort auf einer weiteren Leinwand oben links, die nun eine Lichtspur heller geworden war, als die Grundierung des Bildes zuvor. Bald sprach er Zahl für Zahl lauthals in die Luft, um mit seiner Stimme auf einem Tonband die Spur seiner Zeichen zu dokumentieren. – In unserer Zeit, heute, ja, sagen wir HEUTE, oder nein, sagen, wir morgen, ja, sagen wir MORGEN, wird Roman Opalka mit weißer Farbe auf weißen Untergrund malen, Ziffern, die nur noch sichtbar sind durch die Erhebung des Materials auf der Oberfläche des Details. Der Betrachter, stelle ich mir vor, muss das Bild von der Seite her betrachten, um die Zeichen in ihren Schatten erkennen zu können. – Dienstag. stop. Ende der Durchsage. stop

> particles

12. Mai 2009 21:16










Carsten Zimmermann

was strömt
was strömt
was
strömt

10. Mai 2009 12:26










Hendrik Rost

Wellen


7. Mai 2009 11:22










Mirko Bonné

Willkommen, Björn Kiehne!

Nacht an den Hafenbecken

Elektrische Kristalle,
verworfenes Licht,
Nacht an den Hafenbecken.

Schiffe liegen schweigend,
schwebende Schatten,
schwarze Löcher in den Nachtlaken.

Aus dem Asphalt strahlt Sonnenwärme,
der eingefangene Tag wird frei,
und unter meinen Schritten
birst der Kies.

Ein salziger Wind
trägt Geräusche heran,
die leise verhallen
zwischen den Stelzen der Kräne.

Mit diesem Gedicht habe ich im Sommer 2008 Björn Kiehne kennen gelernt, in einem Lyrikworkshop, der alljährlich vom Wilhelm Raabe-Zentrum in Braunschweig veranstaltet wird. Björn Kiehnes Gedichte erinnern mich in ihrem so respektlosen wie einfühlsamen Zugriff an den Ton und die Sujets des jungen Wolfgang Borchert, sie kommen aus dem Lied, führen ins Lied zurück und haben nicht selten den Wind, Geräusche, Töne und Klänge und Stimmen von Tieren und Menschen zum Thema. Dabei sind sie still, unaufdringlich, durchpulst von einer warmen verhaltenen Ironie, die um ihre Wehmut weiß.

Der Tag riecht nach nasser Erde
Eine Lerche steigt auf
Ihr Gesang zerreißt die Wolken

weit weg
irgendwo
beginnt es
zu regnen

Ich erinnere mich an eine Zeit, als es die größte denkbare Freude für mich war, zwei solche Strophen, sieben Zeilen, in ein Notizbuch zu bringen. Ich finde, wenn ich Björn Kiehnes Gedichte lese, eine Ahnung von dieser Wonne wieder, und es freut mich nicht zuletzt deshalb sehr, wenn ich nun gemeinsam mit Andreas Münzner, dem ich für sein Engagement danke, Björn Kiehne aufs herzlichste im Goldenen Fisch begrüßen kann.

*

5. Mai 2009 14:07










Carsten Zimmermann

wissen was los ist

wir stehen wir stehen wir stehen morgens auf und wissen was los ist. wir werden wir werden wach wir heben die bettdecke wir heben die bettdecke an und wissen was los ist. wir werden wach wir strecken wir stecken uns und heben die bettdecke wir heben die bettdecke an und wissen was los ist. wir heben die bettdecke an und schwingen wir schwingen uns aus dem bett wir schwingen wir heben die bettdecke an und wissen was los ist. wir wissen was los ist. wir schwingen wir heben wir heben uns aus dem bett wir heben die bettdecke an und wissen was los ist. wir gehen wir schlurfen wir gehen ins bad wir gehen ins bad und wissen was los ist. wir wissen wir wissen wir wissen es einfach. wir wissen was los ist. wir gehen ins bad wir heben die bettdecke an wir schwingen wir werden wach wir strecken wir schwingen uns aus dem bett und wissen was los ist. wir wissen was los ist

4. Mai 2009 11:07










Hans Thill

Der Barbar von Vézelay

vezelay11

Liest Hinweisschilder als Befehle. Staedte waeren Brunnen, Doerfer haetten einen heiligen Schaedel. Entfernungen sind Kombinationen eines Geheimdienstalphabets

Er hat eine Ahnung. Er beruehrt keinen Pilz, keine Schraube, keinen Strassennagel

Legende der heiligen Eugenia. Der Basilisk und die Heuschrecke. Das Begräbnis des hl. Paulus

Er sieht die Baeume welken, die Steine zerbrochen unter den Flechten, er weiss nicht, was das fuer ein Zeichen ist und ob er es befolgen soll. Er sieht in der Kirche einen dicken Mann singen, neben ihm eine maechtige Frau im schwarzen Haengekleid, die ploetzlich ebenfalls zu singen beginnt

Er sieht ein, das Wissen hat die Voelker traege gemacht. Es hat ihnen die Hosen gekuerzt, die Schenkel wurden fetter. Er sieht die Wissenden den Berg hochrennen mit wippenden Rucksaecken. Er vergisst in einer ungeheuren Anstrengung alles, was ihm eingepraegt wurde und wischt sich mit einer herrischen Geste die Nase aus dem Gesicht

2. Mai 2009 12:00










Marjana Gaponenko

Annuschka VII

Man sieht dich, es bebt dein Leib auf der Brücke.
Man sagt: da ist sie, und schon stürzt du herab.
Ob als Träne du fielst, ob als Schatten,
ob du wirklich warst? Oh, du tanzt,
tanzt langsam im Wasser, Mädchen.
Silbe um Silbe wächst dein Tanz.
Er mundet dem Himmel.
Er mundet den Sternen.
Sie schneien und schneien
auf den Platz, wo du standst.
Dein klirrender Leib, war er weiß,
war er klar, war er da? Oh, Anna,
es wurde gerufen
ins Auge des Wassers hinein:
Schicke uns einen Traum!
Und du kamst übers Wasser
als Hauch.

1. Mai 2009 23:37










Hans Thill

Stele

Idea Vilariño
(1920 – 2009)

Gedicht Nummer 19

Ich möchte sterben. Ich möchte
Keine Glocken mehr hören.

Glocken – was für eine Metapher –
o Sirenengesänge
o Feenmärchen
Märchenonkel – gehen wir.

Ich will einfach keine
will einfach keine Glocken mehr hören.

(eigene Übersetzung)

29. April 2009 23:30