Björn Kiehne
Ich setze mich zu den Männern ins Café,
die Sonne wärmt den Platz und mein Knie,
das noch vom Spaziergang schmerzt.
„Jetzt bin ich alt“, denke ich bei mir.
Eine Möwe fliegt über den See, nimmt meine
Gedanken mit zu Anand, der im Tropeninstitut
an einem Virus starb, das seine Leber aushöhlte,
bis sie nichts mehr war als ein nutzloser Schwamm;
zu Nyan-Soe, der daran starb, dass er liebte.
Die Lungenentzündung nahm ihm die Luft zum Atmen,
mein Geld für seine Behandlung bezahlte die
burmesische Bestattung mit Mönch und Feuerwerk;
zu Roberto, der TikTok mit Videos füllte.
Ein Weichteiltumor, nussgroß, streute die
hungrigen Kinder in seinem Körper; vor den
Augen der Familie fraßen sie ihn langsam auf.
Die Möwe kehrt zurück über den See.
„Alle, die ich liebe, werde ich verlieren“,
denke ich bei mir, blinzle in die Sonne,
nicke dem Tod zu und trinke meinen Tee.
15. Oktober 2024 23:31
Björn Kiehne
Im Abendlicht,
das das Zimmer gelb,
und die Adern auf
deinen Armen blau wie
Flüsse leuchten lässt,
erinnere ich mich an dich:
du, umgeben von Rauch,
wie ein griechisches Orakel,
das Kartoffelpuffer macht,
wie du den Schiedsrichter
im Fernseher anschreist,
empört darüber, dass er
das Foul nicht sieht
und in deinem Sessel
mit langen Nadeln
bedeutungsvolle Muster
in meinen Pullover strickst.
Nun drückst du meine Hand,
legst die Fäden nieder,
verstrickst sie nicht,
lässt die Flüsse herzwärts
fließen und mich im Abendlicht.
11. August 2024 17:38
Björn Kiehne
Sonntagmorgen, die Clubs sind zu,
auf der Autobahn rauscht kein Verkehr,
nur die Blätter der Pappel im Hof
rauschen wie ein endloses Meer.
Auf dem Küchentisch liegen Wörter,
fein säuberlich geschnitten aus Papier,
bilden Sätze, Zeilen, Geschichten,
über die Welt, erzählt von dir und mir.
Eine Amsel singt, eine andere antwortet,
wir ahnen, wir glauben, wissen schon,
unsere Gedanken auf ihren Liedern,
die Welt, ein verhallender Ton.
16. Juni 2024 06:22
Björn Kiehne
In den Morgenstunden, als ich
dein Kind war, hielt ich das Ohr
dicht an die Erde,
hörte ein Rauschen.
Musste lernen, allein zu sein,
um ihnen zu lauschen,
an ihren Ufern zu gehen,
die niemand sah außer mir.
Die Gedanken gingen mit,
dass aus mir nichts wird,
ich niemandem genüge, stecken-
bleibe in meinen Möglichkeiten.
Aber auch die Ahnung,
dass die Welt einen Riss
hat, durch den ein
Versprechen flüstert:
Da sind Flüsse,
die auf dich warten
und ein Meer.
Da sind Flüsse,
die auf dich warten
und ein Meer.
Da sind Flüsse,
die auf dich warten
und ein Meer.
8. April 2024 07:50
Björn Kiehne
Wenn alle gehen,
bleiben nur wir übrig
und der Wunsch,
einen sicheren Ort
im anderen zu finden.
Wir können dann nah
am Meer leben und
den Wellen erlauben,
unsere Herzen
zu überspülen nur,
um sich gleich
wieder zurückzuziehen.
Wir finden einen Ort,
an dem Platz für dich und
mich und die ganze Welt ist,
und bitten die Wellen,
uns ihre salzige Tinte zu leihen,
um von uns zu erzählen.
27. Januar 2024 02:28
Björn Kiehne
Einmal werde ich sicher sein,
dass es einfach ist,
dass in der Tasse vor mir,
Nord- und Ostsee zusammenfließen
und Dampf aufsteigt wie Nebel
in den Dünen,
einmal werde ich sicher sein,
dass hier und jetzt alles und alle
anwesend sind, auch du, mit
den herantreibenden Wolken
im Blick und Strandhafer im Haar,
wie du mit deinen Kiefernhänden
Salz aus dem Wind kämmst
und uns das Meer herbeirufst,
einmal werde ich wissen,
dass es einfach ist.
27. Oktober 2023 13:00
Björn Kiehne
Ich will mehr auf die kleinen Gesten achten
die scheinbar selbstverständlichen,
den Regen, der die Blätter vom Staub befreit,
den Wind, der über den See streicht,
egal, wer in ihm schwimmt,
die ganze Großzügigkeit dieses Planeten,
Erde, Feuer, Wasser, Luft, die sich
finden, nur um einander zu verlieren.
Wer würde nicht zärtlich werden bei dem
Gedanken, dass wir alle sterben müssen:
Gib ihr alles zurück, erst Haare, Zähne, Knochen,
Flüssigkeiten, das Gewebe, das dich zusammenhält,
dann die Gedanken, die Gefühle, deinen Namen,
stirb, bevor du stirbst, jetzt, zärtlich
in den Armen ihrer Großzügigkeit,
der Freundlichkeit einer Fremden.
17. Juli 2023 08:24
Björn Kiehne
Da hinten im Bild das bin ich
unsicher, ob ich vortreten soll,
mein Großvater, mit leicht
angezogenen Arm, neben mir.
Die Lindenblätter über uns
färben die Szene grün,
entrücken sie in das Flüstern,
in dem ich aufwuchs.
Ich halte ängstlich seine Hand,
denn eine Kugel wandert durch
seinen Arm, kann jederzeit am Herz
ankommen und ihn mir entreißen.
Den Schlosser, der sanft lächelt,
und an den Straßenrändern
Löwenzahn für die Hasen sticht,
in ihren dunklen Käfigen.
Ich spüre noch seine Hand im Rücken
vor den ersten Metern ohne Stützräder
auf dem kleinen blauen Fahrrad,
auf das ich so stolz bin.
Die Hand, die später das Sackband
knotet, das ihm den Atem nimmt,
als das unsichtbare Mädchen erscheint,
ihn fragt, was er im Krieg getan hat.
Eine Kugel wandert durch meine Geschichte,
lockert ihr Gewebe, trennt Faden von Faden,
lässt Licht in den Raum hinter den Bildern,
ein anderes Licht.
21. Mai 2023 18:31
Björn Kiehne
Ein Sommerhaus wartend
mit weit geöffneten Fenstern zum Meer,
Möwen, die den Himmel teilen,
Katzen, die auf geheimen Wegen
die Insel durchstreifen,
hoch zur griechischen Kirche,
an die sich die Gräber drängen
wie uneingelöste Versprechen,
runter zum Hafen, wo die Schiffe
nach Kadıköy warten, jedes ein
Abschied, jedes eine Bitte,
uns die nicht zu nehmen,
die wir lieben.
Worte in den Wind gesprochen,
den Salzatem des Marmarameers,
den Zigarettenhauch Istanbuls,
die das Haus umflüstern,
flüstern in der Kammer unterm Dach,
flüstern in das Ohr des Erzählers,
der zum Hafen hinunter sieht,
die Kais absucht, den Blick
zurück auf die Geschichte lenkt,
die langsam vor ihm wächst,
deren Figuren er begrüßt
wie alte Freunde, um wieder
aus dem Fenster zu sehen:
wartende Schiffe,
Möwen, die den Himmel teilen,
Katzen, die die Insel durchstreifen,
zurückkehren in die Erzählung,
Zuflucht suchen in der Stille
zwischen ihren Zeilen.
Für Emre, Burgazada
5. März 2023 12:23
Björn Kiehne
Zieh den Nebelmantel an
und lass uns über die Heimat
sprechen, das gute Land in dir.
Dein Haar, ein Wald im Gebirge,
die Vögel warten in den
Zweigen auf das erste Licht,
das die Nebelschwaden
leuchten lässt und den
Wind befreit aus den Tälern.
Über Schläfen, Wangen,
Nasenrücken treibt er
sie, eine Herde Wasserwesen,
auf Pfaden alter Erzählungen
über Mund, Kinn durch
das Urstromtal zum Nabel,
zurück zum Anfang der Welt,
an dem der Wind abnimmt und
die Stille beginnt zu singen.
Es gibt einen sicheren Ort,
grenzenlos, friedlich und frei,
und, wenn sie in den Krieg ziehen,
zieh du den Nebelmantel an
und sprich über die Heimat,
das gute Land in dir.
15. Januar 2023 09:53