Björn Kiehne

Die unsichtbaren Flüsse

In den Morgenstunden, als ich

dein Kind war, hielt ich das Ohr

dicht an die Erde,

hörte ein Rauschen.

 

Musste lernen, allein zu sein,

um ihnen zu lauschen,

an ihren Ufern zu gehen,

die niemand sah außer mir.

 

Die Gedanken gingen mit,

dass aus mir nichts wird,

ich niemandem genüge, stecken-

bleibe in meinen Möglichkeiten.

 

Aber auch die Ahnung,

dass die Welt einen Riss

hat, durch den ein

Versprechen flüstert:

 

Da sind Flüsse,

die auf dich warten

und ein Meer.

 

Da sind Flüsse,

die auf dich warten

und ein Meer.

 

Da sind Flüsse,

die auf dich warten

und ein Meer.

8. April 2024 07:50










Björn Kiehne

Für einen Freund

Wenn alle gehen,

bleiben nur wir übrig

und der Wunsch,

einen sicheren Ort

im anderen zu finden.

 

Wir können dann nah

am Meer leben und

den Wellen erlauben,

unsere Herzen

zu überspülen nur,

um sich gleich

wieder zurückzuziehen.

 

Wir finden einen Ort,

an dem Platz für dich und

mich und die ganze Welt ist,

und bitten die Wellen,

uns ihre salzige Tinte zu leihen,

um von uns zu erzählen.

27. Januar 2024 02:28










Björn Kiehne

Trost

Einmal werde ich sicher sein,

dass es einfach ist,

dass in der Tasse vor mir,

Nord- und Ostsee zusammenfließen

und Dampf aufsteigt wie Nebel

in den Dünen,

einmal werde ich sicher sein,

dass hier und jetzt alles und alle

anwesend sind, auch du, mit

den herantreibenden Wolken

im Blick und Strandhafer im Haar,

wie du mit deinen Kiefernhänden

Salz aus dem Wind kämmst

und uns das Meer herbeirufst,

einmal werde ich wissen,

dass es einfach ist.

 

27. Oktober 2023 13:00










Björn Kiehne

Die Freundlichkeit einer Fremden
Ich will mehr auf die kleinen Gesten achten 

die scheinbar selbstverständlichen, 

den Regen, der die Blätter vom Staub befreit, 

den Wind, der über den See streicht, 

egal, wer in ihm schwimmt, 

die ganze Großzügigkeit dieses Planeten, 

Erde, Feuer, Wasser, Luft, die sich 

finden, nur um einander zu verlieren. 



Wer würde nicht zärtlich werden bei dem 

Gedanken, dass wir alle sterben müssen: 

Gib ihr alles zurück, erst Haare, Zähne, Knochen, 

Flüssigkeiten, das Gewebe, das dich zusammenhält, 

dann die Gedanken, die Gefühle, deinen Namen, 

stirb, bevor du stirbst, jetzt, zärtlich 

in den Armen ihrer Großzügigkeit, 

der Freundlichkeit einer Fremden.



17. Juli 2023 08:24










Björn Kiehne

Ein anderes Licht

Da hinten im Bild das bin ich
unsicher, ob ich vortreten soll,
mein Großvater, mit leicht
angezogenen Arm, neben mir.

Die Lindenblätter über uns
färben die Szene grün,
entrücken sie in das Flüstern,
in dem ich aufwuchs.

Ich halte ängstlich seine Hand,
denn eine Kugel wandert durch
seinen Arm, kann jederzeit am Herz
ankommen und ihn mir entreißen.

Den Schlosser, der sanft lächelt,
und an den Straßenrändern
Löwenzahn für die Hasen sticht,
in ihren dunklen Käfigen.

Ich spüre noch seine Hand im Rücken
vor den ersten Metern ohne Stützräder
auf dem kleinen blauen Fahrrad,
auf das ich so stolz bin.

Die Hand, die später das Sackband
knotet, das ihm den Atem nimmt,
als das unsichtbare Mädchen erscheint,
ihn fragt, was er im Krieg getan hat.

Eine Kugel wandert durch meine Geschichte,
lockert ihr Gewebe, trennt Faden von Faden,
lässt Licht in den Raum hinter den Bildern,
ein anderes Licht.

21. Mai 2023 18:31










Björn Kiehne

Im Haus des Erzählers

Ein Sommerhaus wartend
mit weit geöffneten Fenstern zum Meer,
Möwen, die den Himmel teilen,
Katzen, die auf geheimen Wegen
die Insel durchstreifen,
hoch zur griechischen Kirche,
an die sich die Gräber drängen
wie uneingelöste Versprechen,
runter zum Hafen, wo die Schiffe
nach Kadıköy warten, jedes ein
Abschied, jedes eine Bitte,
uns die nicht zu nehmen,
die wir lieben.
Worte in den Wind gesprochen,
den Salzatem des Marmarameers,
den Zigarettenhauch Istanbuls,
die das Haus umflüstern,
flüstern in der Kammer unterm Dach,
flüstern in das Ohr des Erzählers,
der zum Hafen hinunter sieht,
die Kais absucht, den Blick
zurück auf die Geschichte lenkt,
die langsam vor ihm wächst,
deren Figuren er begrüßt
wie alte Freunde, um wieder
aus dem Fenster zu sehen:
wartende Schiffe,
Möwen, die den Himmel teilen,
Katzen, die die Insel durchstreifen,
zurückkehren in die Erzählung,
Zuflucht suchen in der Stille
zwischen ihren Zeilen.

Für Emre, Burgazada

5. März 2023 12:23










Björn Kiehne

Ein gutes Land

Zieh den Nebelmantel an
und lass uns über die Heimat
sprechen, das gute Land in dir.

Dein Haar, ein Wald im Gebirge,
die Vögel warten in den
Zweigen auf das erste Licht,

das die Nebelschwaden
leuchten lässt und den
Wind befreit aus den Tälern.

Über Schläfen, Wangen,
Nasenrücken treibt er
sie, eine Herde Wasserwesen,

auf Pfaden alter Erzählungen
über Mund, Kinn durch
das Urstromtal zum Nabel,

zurück zum Anfang der Welt,
an dem der Wind abnimmt und
die Stille beginnt zu singen.

Es gibt einen sicheren Ort,
grenzenlos, friedlich und frei,
und, wenn sie in den Krieg ziehen,

zieh du den Nebelmantel an
und sprich über die Heimat,
das gute Land in dir.

15. Januar 2023 09:53










Björn Kiehne

Abendgebet

Tretet ein ihr Stillen,
streicht den Wind mir aus
der Stirn und das Raunen
der Zeit aus den Händen.

Ich will euch glauben,
es ist schon alles gut,
du musst nichts tun,
kannst jetzt loslassen.

Tretet ein ihr Stillen,
leert das Gefäß der Nacht,
tragt mich über die Grenzen,
gebt bitte gut auf uns acht.

20. August 2022 21:48










Björn Kiehne

Die leuchtende Stadt

Ich brauche stärkere Medikamente,
etwas, das die Risse in den Fassaden
kittet, oder sie ganz niederreißt.

Ich sehe sie aus dem Fenster eines
Flugzeugs, nachts, Licht, das wie Lava
aus der schwarzen Erdkruste quillt.

Ich laufe ihre labyrinthischen Treppen
auf und ab, die sich in wahnsinnigen
Kombinationen aneinander reihen.

In ihren Auditorien trage ich meine
Lieder vor, ernte Applaus und Spott,
werde ein und wieder ausgeladen.

Dann sehe ich mich in einem Garten,
zwischen Ruinen, mühsam und müde
der Trümmererde etwas Gemüse abringen.

Ich brauche stärkere Medikamente, etwas,
das mich über die Grenzen der Stadt bringt;
Licht dringt aus den Rissen ihrer Fassaden.

2. Mai 2022 16:22










Björn Kiehne

Winterweizen

Die Hügel tragen schwer am
Schneehimmel, grüne Fäden
liegen auf den Äckern;
wenig führt so aus der Zeit,
wie der Weg nach Haus.

Das Dorf im Schiefermantel zieht
seine Schultern höher, lässt
die Linden, in die der Wind
so viele Versprechungen flüstert,
die Höfe allein bewachen.

Und morgens in der dämmrigen Küche
muss der Kaffee stark sein, um die
Gespenster zu vertreiben, die nachts
hinter den Bildern hervorkriechen
und an den Fäden der Geschichten ziehen,
die wir uns über uns selbst erzählen.

Nachmittags, spazieren in der Feldmark,
die Wolkendecke reißt auf,
Lichtfinger streichen entlang der
Reihen Winterweizen,
wie an Leitfäden aus der Geschichte
in eine Freiheit ohne Raum und Zeit.

9. Januar 2022 00:26