Nikolai Vogel

Große ungeordnete Aufzählung (Detail)

Weltflucht,

1. Dezember 2016 00:05










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (107)

1. Dezember 2015, ein Dienstag

Herrliches Tenchi-nage-randori mit Jascha, Heiko, Julian, und ich würde allzu gern das Rätsel entschlüsseln, wie Jascha seinen Schub so hinter die Hand bekommt, dass er so leicht fliegen kann. Sensei unterwies mich beim Schwert, „aus dem Geist der Stille heraus“ zu schneiden. Und mir schien, dass dieser Hinweis einen neuen Weg wiese, heraus aus dem Ampeln der Technik ins freie Feld des wirklichen Aikido.

Um 21:45 Uhr ins Kino, in The Assassin von Hou Hsiao-Hsien. Verstanden habe ich so gut wie nichts von diesem Mittelalter-Martial Arts. Schon während der ersten monotonen Dialog-Passage war ich eingeschlafen. Ich erwachte in Gemälden aus Nebeln, meditiativen Gobelins. Das genügte mir.

1. Dezember 2016 11:25










Mirko Bonné

Das Kind Kalifornien

An den Wänden die Bilder von dem Kind,
das größer geworden ist als Kalifornien.
Du siehst sein Gesicht wachsen auf
blassen Fotografien und erkennst
das Kind an seinen Ohren, dem Blick,
der Sehnsucht nach dem Ende der Enge.
Das Kind Kalifornien schrieb nie einen Brief.
Es rief keinen an. Es ging fort und blieb
in der Ferne. Von den Wänden dort,
wo du schläfst, manchmal träumst,
blickt es dich an und doch nicht dich.
Rätsel, Zweifel, wildes Wollen, wonach
sucht so ein Kind, und wonach sucht es
nicht? In jeder Regung, jeder Bewegung,
jeder Entgegnung hat das Kind ein Gesicht,
das mahnt: Trau der Festigkeit der Dinge.
Da, die Gelächterschönheit. Glaub mir,
sagt das Kind an der Wand des Hauses,
das dir Asyl gewährt. Im Zweifel Zweifelnder.
Sei selber dein Sehnen. Wenn nötig ein Land.
Wenn nötig ein fernes. Wenn nötig Kalifornien.

*

1. Dezember 2016 12:01










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (108)

2. Dezember 2015, ein Mittwoch

Immer diese verschwendeten Mittwoche: Behördengänge und Formalitäten. Aber dann ein Moment freudigen Aufmerkens, als die Mitarbeiterin in der Agentur für Arbeit vom Gang zum Jobcenter abriet: „Da machen Sie sich nackt.“

2. Dezember 2016 13:54










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (109)

3. Dezember 2015, ein Donnerstag

Eine ungestillte, nicht zu bändigende und zu bremsende Wut bricht sich nachts Bahn. Zwei Nächte mit Träumen aus Wut, wütend geschlafen, wütend erwacht, ganz aus Wut bestehend. Jetzt gleich zum Zahnarzt.

Vom Zahnarzt zurück: Da fiel das Wort „Wurzelbehandlung“. Er erwähnte es „nur für den Fall“. Gleichzeitig (und offenbar angelegentlich) mahnte er, gründlich Zähne zu putzen, und zwar „nicht nur zwei bis drei Minuten, sondern fünf bis sechs“. Wie ein Pennäler steht man da. Ob er das auch gesagt hätte, wenn er wüsste, dass ich inzwischen in Weissensee wohne? In Weissensee wird man schneller alt als man Zähne putzen kann. So sehr ich aus ethischen Gründen die Altersvielfalt in Weissensee begrüße, so lästig schlägt mir hier der rapide Verfall entgegen: Panoramen meines bevorstehenden Siechtums.

3. Dezember 2016 15:15










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (110)

4. Dezember 2015, ein Freitag

Interview mit einer Drehbuchautorin eines offenbar satt budgetierten Spielfilms über Franz Osten und seinen 1925 gedrehten Die Leuchte Asiens. Mein eigener Dokumentarfilm darüber liegt knapp 15 Jahre zurück. Wissens-Rausverkauf. Zuvor ein galliges Erwachen mit jenem chronisch fiesen Nebenhöhlen-Druck, der mir das Liegen verleidet. Laut HNO-Arzt eine Nasenscheidewandkrümmung, laut HNO-Arzt operabel, leider, denn zu so einer Operation habe ich keine Lust; lieber wäre mir der Bescheid, dagegen sei die Medizin leider machtlos.

Dazu eine mitrauschende Unruhe, die ich auf das Digitalisieren von Familienfotos zurückführe. Sie lösen mehr aus, als von bewusster Erinnerung registriert werden könnte. Diese Bilder verströmen kleinste Erinnerungspartikel an Pullover, an Momentgefühle, an Gummispielzeuggeruch, an Angst vor Schmalzbrot, an Strumpfhosenkratzen, an damals nicht nennbare und denkbare Zwänge, an lauter Sekrete, die das Gift des Lebens bilden. Gerade höre ich die Sinfonie von Edgar Elgar. Furchtbar. Plötzlich steht die eigene Sterbestunde vor Augen, und der letzte Wunsch (…).

4. Dezember 2016 13:00










Hendrik Rost

Die Luftfreunde

Deine Freunde schreiben dir Wolken
aus den Ländern, in denen sie vielleicht
wohnen. Dem Regenland und dem Land
der Physik. Sie schicken in Tropfenform
kleine Gemeinsamkeiten: das Wasser,
das den Weg allen Wassers geht.
Sie schreiben dir, das Ende endet nie.
Es beginnt an einem beliebigen Punkt
in den Luftbriefen oder den Kapillaren
der Bäume. Du kannst uns ja lesen,
schreiben sie in Kumuli. Lies bitte,
was wir über die Wiese hinterm Haus
wissen. Lies auch den Angstwald
zwischen den Schulterblättern. Schreib
zurück von deiner Suche mit dem Gesicht.
Deinen zweifelnden, wissenden Augen,
denen wir trauen. Hier, das Liebeswürdige.
Deine Freunde schreiben dir Leben,
schreiben, weil es dich gibt. Ameisenähnlich
prickelt’s dich im Fuß – dein Herz,
es erhebe sich. Sie schicken dir Zuversicht
ohne Grund, diese Freunde. Diese Luft,
in ihr findest du Wetter, Briefe und Physik.
Du kannst ja lesen. Du kannst ja, wissen Wolken.

6. Dezember 2016 13:29










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (111)

7. Dezember 2015, ein Montag

Am Sonnabend nachmittag kam Frau S. aus Frankreich zurück. Abend und Nacht verliefen traulichinniglieblich, doch wie wühlt alles in meinem Kopf, wenn ich das Fotoalbum öffne – wie eine Flasche, aus der die Dschinnis der Vergangenheit strömen.

7. Dezember 2016 12:34










Hendrik Rost

Adaption

Ein Ort, den es schon gar nicht mehr gibt und den ich nie vergessen kann, ist der Arbeitshühnerstall von Rutger Kopland. Hier in diesem Verschlag in seinem Garten, einem langen und schmalen halb verwilderten Stück der Niederlande, saß er in einem vollständig durchgesessenen Ledersessel. Es gab einen öligen Schreibtisch, Bücher an den Wänden und Zeitschriften, die nach einem komplexen Chaosprinzip aufgeschlagen auf jeder freien Fläche lagen. Drei große Fenster zeigten nach Westen, Norden und Osten. Ein uralter Holzofen bollerte halb übellaunig, halb gutmütig. Kopland sprach immer mit Bedenkzeit – er hörte schlecht, aber er wusste auch, dass es wichtig ist, sich jede Antwort kurz durch den Kopf gehen zu lassen. Wenn er von anderen Autoren sprach, dann aus Bewunderung. Wenn nicht Bewunderung, dann Respekt – vor den Hühnern, die früher hier gegackert haben, dem Bahndamm hinterm Haus, auf dem die Menschen dahinreisen, dem Abdruck eines zwiespältigen Gedichts in Ausgabe XX der Literaturzeitschrift von 1987. Für den professionellen Traumforscher ist es selbstverständlich ein Stilprinzip, die calvinistische Vernunft und die nächtlichen, mitunter bedrohlichen Gespinste, eigene und die anderer, wertzuschätzen. Dieses lebenslange Lesen und Schreiben so vor sich hin ist sicher eine Remedium gegen den allgemeinen Hang zur Ablehnung. Ich hatte die ganze Zeit das seltsame Gefühl, eine lange und tiefgreifende Kränkung zu erleben, die mit dem Leben zusammenhängt und seinen Anforderungen, Fehlschlägen und literarischen Hackordnungen. Und diese Kränkung war allmählich zu einem Teil des Erfolgs geworden, zu zahllosen eigenen Büchern und zu einer Grundhaltung, die aus einem alten, sterbenden Dichter einen bewundernswerten Schelm macht.

9. Dezember 2016 14:25










Markus Stegmann

Absence

Absence steht im Gesicht der Wörter.

10. Dezember 2016 11:28










Tobias Schoofs

ARABY

langsam gehen die lichter aus
und die markthallen verkleinern sich
oder werden sie größer? zwischen

fetzen von geschmack und sport
artikeln zwischen desinteressierten
verkäuferinnen und müder logistik

zwischen rückenschmerz und waren
wirtschaft weckt eine werbung für
mundwasser vielleicht oder tabak

noch einmal eine hoffnung damit
die unerfüllbarkeit auch morgen als
überraschung in dein leben tritt

12. Dezember 2016 00:13










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (112)

13. Dezember 2015, ein Sonntag

Frau S. hatte Geburtstag. Liquidrom, Japanischessen, Sopranosgucken, Aikido, Lachen. Und Staunen über meine neuen Augen, die aus dem Winkel misstrauisch auf die alten Augen in der Schatulle in der Schublade des Schranks im alten Speicher blicken, in die alten zum Sprung bereiten Augen, die auf Höhe mit den Augen der Anderen sind, die sich die Augen reiben.

13. Dezember 2016 11:19










Christian Lorenz Müller

DEHYDRIERT ZU KILOBYTES

Am Ende bleibt jedes Gedicht
für sich allein.
Vor dieser Erkenntnis
steht seine Sehnsucht
nach einer Seitenzahl,
die Sehnsucht nach einer Bindung
an achtzig, neunzig Andere.
Die Sehnsucht, einmal Augen
auf sich zu spüren, einen Blick
der nicht nur kurz verweilt.
Nicht wenige Gedichte
senken dann die Lider,
verziehen das Gesicht
oder schauen böse drein,
und doch verzehren sie sich
nach diesem Blick, verzehren sich
und ahnen schon den Spott voraus
und die Häme, oder, schlimmer noch,
das Schulterzucken oder laues Lob
oder hündische Loyalität
und peinliche Bewunderung.

Ja, ein Gedicht bleibt am Ende
immer für sich allein.
Es vereinsamt zwischen den Seiten
oder es dehydriert
in einem elektronischen Archiv
zu ein paar Kilobytes.

So wie dieses hier.

13. Dezember 2016 11:51










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (113)

14. Dezember 2015, ein Montag

Die Sache mit der Krankenversicherung sieht nicht gut aus. Es zeichnet sich ab, dass ein Fluch über meiner 1996 getroffenen Entscheidung liegt, mich von der Versicherungspflicht befreien zu lassen. Das rächt sich jahraus, jahrein, es wird sich ewig rächen. Entsprechend übel war mein Schlaf und waren die Träume. J., der wildeste Aikidoka unseres Dojos, tauchte darin auf als unbarmherziger Verfolger, vor dem wir – oder nur ich? – flüchteten, einen Turm hinauf, voller Angst, er würde uns – mich? – finden und molchen. Weitere Träume mit Verfolgern: Tiere, seltsam gefräßige Biber, die zuschnappten.

Mit Zaudern trat ich heute morgen ins Café, ahnend, jener Dame mit blauem Turban zu begegnen, deren Kontaktlust mein Lektürebedürfnis vereiteln würde. Sie war tatsächlich da, ich fügte mich und duze sie seit heute. 1980 zog sie von Hamburg nach Berlin und bewohnt seit 16 Jahren in Weissensee ein Künstler-Atelier, das der Senat bezuschusst. Sie arbeitet bevorzugt mit Fahrradschläuchen und gebrauchter Seife. Die Fahrradschläuche werden mittels Kabelbindern zu Figuren geformt und bilden an den Wänden dreidimensionale Zeichnungen.

14. Dezember 2016 17:43










Christian Lorenz Müller

BASAR

Vier Jahre lang
war ein Leben immerhin
eine Handgranate wert,
eine Fassbombe oder zumindest
ein paar Kugeln, nun kostet es
nicht mehr als den Griff
nach einem Brocken Beton,
nach einer Baustahlstange.

Ein preisgegebenes Versteck
verringert die Summe der Schläge
mit dem Elektrokabel.
Drei verheimlichte Namen
haben den Gegenwert
von drei ausgerissenen Fingernägeln.
Wer nach Gerechtigkeit verlangt
bezahlt mit seiner Zunge.

Dann ist Schweigen, ist Stille
auf dem Basar.

15. Dezember 2016 12:05










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (114)

15. Dezember 2015, ein Dienstag

Man muss, kann und darf es wohl sagen: Frau S. und ich sind ein Paar. Geworden. Zu meiner Überraschung. Ein wenig wohl auch zu meiner Sorge. Aber wollen sehen. Ich würde sie gern mit dem Namen Knuff Bollerkopp kosen, aber Frau S. hat sich das streng verbeten.

Die Scheiß-Versicherungsgeschichte will nicht enden. Wahrscheinlich muss ich in den Rückzugskampf und versuchen, zu den alten Konditionen in die Private zurückzukehren. Obwohl ich keine Anwartschafts-Versicherung abgeschlossen habe. Zeit für einen Bettelbrief – peinlich, das Ganze.

Gestern habe ich mich beim Aikido so sehr verausgabt, als gäbe es eine Belohnung dafür. Nein, Aikido ist keine Kompensation für das übrige Dasein. Das übrige Dasein kompensiert Aikido.

15. Dezember 2016 13:59










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (115)

16. Dezember 2015, ein Mittwoch

Geschäftsbriefe an KSK, TK und Alte Oldenburger, um den status quo zu retten. Ich höre es über und unter mir, das Knirschen der Steine der Zeitzermalmungsmühle.

16. Dezember 2016 14:20










Mirko Bonné

Sander Tannen

Zwischen den Plattenbauten von Nettelnburg
umhergaloppieren, und weiter durch den Frost
des frühen Morgens am S-Bahndamm entlang.
Die klirrende Luft. Ich könnte nachsehen, wann
ein Bus zur Schule abfährt, aber zockele lieber
vorbei am Billwerder Billdeich. Dort steht blass,
rot im Dunst, der Giebel eines Vierländer Hofs,
wo vor vierzig Jahren ein Schulfreund wohnte.
Wo bist du, Hakan Akalin! Kahle Äste; Elstern;
grauer Laubschlamm in Grünanlagen. Sander
Tannen — so hieß die Schule meiner Freundin
in der Zeit, als ich mir tags den Kopf zerbrach
über Schreiben, Musik, mich. Tender sun. Adri.
Am Telefon eine mir unbekannte Welt, hoffe ich
Dich zu finden, heißt es bei Sun Kil Moon. Früh
am Abend kachelte ich dann mit der Guilietta
zu Alten in Boberg und Lohbrügge. Eine Blinde
sah immer noch vor sich, wie hell es 1921 war,
und in einer Mansarde lebte eine, die hatte ich
lieb, die konnte nur liegen und rief mich: „Pony!“
Ich rede an der Schule, die längst anders heißt,
mit Schülern, jünger als mein Sohn, über Trakl,
Trakls Schwester, Tabus. Und ich trabe zurück,
durchs Laub, zum Bahnhof. Die Elstern lachen;
und der Nachmittag, so war er immer, ist grau.

Für Mark Kozelek

*

17. Dezember 2016 00:19










Karin Fellner

Altjahrsabend

/

Kabel und Soldaten laufen über und durch, ah trapptrapp, gut gelaunt

am Strand von Anno Du, indes Madame das Futur mit ihrem Absatz einklopft:

„Du wirst das Spiel nicht ändern, wenn du das Spiel ändern willst.“

/

Am Stand von Madame Fu klopfen Spieler die launigen Nichtspieler ab

nach Kabalen, die jüngst zu Hunderten aufflogen. Du rappelst:

„Hey, nimm deine Daten aus meinem Bodensatz!“

/

„Du wirst gelebt worden sein“: Schon zieht Madame diesen Satz

aus ihrem Dutt. Für dich! Ein Nichtspieler überreicht dir

den Millenniumspatzen. Plus zwei Nusshälften für ein schlachtenfrohes Futur.

17. Dezember 2016 20:44










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (116)

18. Dezember 2015, ein Freitag

Gestern erste Anzeichen von Missmut im Beisammensein mit Frau S., und zwar anlässlich unserer gemeinsamen Lektüre von Ovids Metamorphosen. Frau S. kennt sich – sie besuchte ein humanistisches Gymnasium – gut in den Mythologien aus und kehrte das – für mich wohl einen Hauch zu stark – heraus, während ich mich davon – einen Hauch zu stark – beleidigt fühlte. Eine beiderseits verspürte Missstimmung, beidseits von Harmoniesucht getrieben, beide vermutlich Verwundete, die vor Wunden Angst haben.

Hautarzttermin: keine medizinischen Auffälligkeiten. Kosmetisch wäre eine Abtragung herausstakender Leberflecken möglich; aber das kostet 150,- EUR, die keine Krankenkasse übernimmt.

Zufällig habe ich mich nach Jahren einmal wieder an Hegel versucht, an der Phänomenologie des Geistes und dem Kapitel Herr und Knecht. Um zu probieren, ob ich jetzt lesen könne, was ich nie richtig las aber immer gern unter Gelesenem verbucht hätte. Aber wie mich das anstrengt, ihm zu folgen beim Denken über Seyn und Bewusstseyn und Seyn im Anderen, allein die vielen Ypsilons! Ich entschließe mich zum Verständnis, dass man sich selbst im Dialog mit dem Anderen reflektiert, wobei zu bedenken ist, dass dieses Verfahren für beide gilt und diese Selbst-Begegnung also in einem vielfach verwinkelten Spiegelkabinett stattfindet. Aber Hegel meint das offenkundig weit komplexer, und ich begreife, dass ich mein Lebtag zu dusselig für höhere Philosophie bin.

18. Dezember 2016 12:46










Konstantin Ames

«Uff dii Bähm! Dii Pälzr kumme!»

Falschgedichte lesen Tagebucheinträge.
Ein bisschen Selbstreferentielles hier, Franzi,
und da bisschen angebrannte Bio-Biographie.

Falschgedichte gleichen Bisschen von Nagern.
Gedichtfälscher wurden nie von Haien vervolkt. Sie leben
in Ihrer Nachbarschaft; tragen Achtzigerjahrenamen.

Haben keinen Schimmer von der Überlegenheit österreichischen
Humors und glauben allen Ernstes an ihr Bier, weil sie belgisches
nicht kennen. Starkwurm! Erzgemüse! Ich kenne keine Enten mehr,

Ist 2016 eine Stadt? Wird 2017 ein Land sein; nur noch Landschaft?

Die nie aggressiv waren, nennen mich aggressiv. Meine O-o-gen
weit aufgerissen. Meine Franziska, Bürgerkinder, schon im Hirn
bedrängten Engels. «Loss dai voll’ Books runner!» … nur noch Kelten!

Saartieren

18. Dezember 2016 14:28










Thorsten Krämer

*

Der Moment, wenn du im Supermarkt an der Kasse stehst
und jemand entfreundet dich, vielleicht ein alter Kollege,
den du zuletzt vor fünf Jahren gesehen hast, oder
ein Schulfreund, der deine Anfrage ohnehin
nur aus Höflichkeit angenommen hatte, und du
bemerkst es nicht, wie könntest du auch, nur später
fehlt da jemand und dir fällt beim besten Willen nicht ein,
wer es sein könnte.

19. Dezember 2016 07:44










Konstantin Ames

Neues aus der Nahtodtube

Vorsicht, das ist eine Kettensäge! Und das ist ein Golem.
Nehmen Sie ruhig noch eines der großen Themen!
Seien Sie nicht so bescheiden, Ihr Nachbar könnte …

Hören Sie auf, ständig «Fickt Euch!» zu sagen, ja?
Sie sind schließlich auch nicht im Bilde!
Über Goliath haben Sie hier nicht zu befinden! – Nö!

Ich kann sehr wohl jeden meiner Sätze mit Ausrufungszeichen beenden!

Sie könnten sich freuen, hier das Klopapier mimen zu dürfen!
Unsere Sterze nehmen Sie ernst! Wir hatten 5.000 Blatt zur
Verfügung, und Sie sind’s geworden, Monsieur Douche!

Achten Sie zukünftig auf Ihre Haltung am Stiel im Sielhäuschen!
Rühren Sie die Schwäne nicht an! WRUMM-WRUMM

Kaufmannsund- & Kleinschreibenden

20. Dezember 2016 10:49










Andreas H. Drescher

Das ist der Tag an dem sie
die Marktbäume rasieren
das Pfeifen matzerathisch
zwei Kapuzen fragen ein
ander nach dem Weg am
Brunnen vorbei am Schnitt
am Hören vorbei der baut
sich keines mehr unter den
ersten Lidern dieses Finger
schnippen alle Hinterhand

PAROLE

21. Dezember 2016 08:51










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (117)

21. Dezember 2015, ein Montag

Alptraum-Besuch der Ex-Freundin M. mit ihrem Sohn J. (6). Sie verbrachten den Sonnabend, Sonntag und Montag bei mir. Es ist jetzt schon nach Mitternacht, und morgen früh fahren sie mit dem Zug weiter. J. erwies sich als erzener Würgeengel. Wegen seiner unbedingten Zustandsveränderungsunlust verließen wir in zweieinhalb Tagen die Wohnung einzig dafür, um im 1-Euro-Shop einige Einkäufe zu erledigen. Als J. endlich schlief, lief M. zu alter Bestform auf. In ungebrochener Eskalationslust kreischte sie, schrie, schlug die Tür, und mir war’s nur noch peinlich wegen der übrigen Mietparteien im Hause. Morgens dann der frühwache Sohn: Sein erzenes Gebrüll, mit dem er über seine Mutter gebot, wurde einzig von deren Opfer-Geilheit überboten. Sie will sich die Selbstzerstörung nicht nehmen lassen. Ich hätte sie nicht einladen dürfen. Ich schlief schlecht, träumte miserabel.

21. Dezember 2016 12:24










Christian Lorenz Müller

HASSAN AL-ALMANI POSTET

Tausend Pferde, Brüder,
brachen aus der Koppel.
Kaum schnaubte die Maschine,
strauchelten die Feinde,
sie sackten nieder
wenn das verchromte Krummschwert,
wenn der Kühlergrill sie traf,
und wer entkam
dem geißelte der Dieselschweif
schwarze Angst ins Herz.

Brüder, in die Sättel!
Sprengt die Koppeln auf,
ein blutiges Al-Andalus
ist nun auch dieses Land.

21. Dezember 2016 12:25










Konstantin Ames

Süddeutlicher Gesang

O nein, jetzt kommt die manische Phase. Wäre bloß dumm Kai.
Wäre der Super Mario der Poesi’ch, dann müsste mal Kai …
ist aber – Häute – süddeutlicher Gesänger Pfennig.
Soviel bedeutet das. Vor allem aber süddeutlich.
Wer nie sein’ Höld mit zwanzig las, der braucht Ist das
jetzt eine Anzeige der Leber? Höhö.
(Frage aus Dormagen-Umland)
in jungen Jahren schon ein Taschentuch. Kennt nicht den
Unterschied von Freude und Freudigkeit. Verreckt daran. Also
wirklich, Kai (zu viele Bilder), Kain,
das Miauen der Bluthunde versteht nicht der eitle Referendar.
Wie könnte eine Prüfung je durch die Knie gehen?
Kai versteht auch das nicht. Kain nichts mehr! Hans Paul!
Tigerkrüppel! Warte. Waren’s nicht Triggerknüppel?
Kai ging nicht vor den Zaun. Davor hatte Kai Angst.
Und davon hat Kai eine Spracke, Kain.
Tigerkrüppel liegen im Hotel und riechen händig
an Triggerknüppeln, denken an apfelgroßes
Politisches in Soße
[Quellheiligtum Sudelfels]
Wir leben unbefreit, nein? Heißt hier jemand Luzifer? Im
Stutengarten, bespannt mit freiem Willen, der Gewaltgene
O gedenk Not my cup of tea. (Sinclair)
des Geschenks? Nö. Des Gesangs? Macht Kai Angst.

21. Dezember 2016 14:28










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (118)

22. Dezember 2015, ein Dienstag

Erleichtert sah ich sie ziehen, das zernagte Blumenmädchen und ihr fleischfressendes Pflänzchen. Danach mit Frau S. in die Arno-Schmidt-Ausstellung: ein Raum als Kartei aus 100 Stelen mit 100 Aspekten, mit Anmerkungen, Zeugnissen, Fundsachen – ein großer Zettelkasten, in dem wir stöbernd rumspazierten. Aikido schwänzend zu Bette.

22. Dezember 2016 11:33










Thorsten Krämer

*

Der Moment im Café, wenn zwischen zwei Gabeln Kuchen
das Grundrauschen in den Vordergrund kippt, als wäre dies
die Aufgabe der Gäste: die richtige Atmo, das akustische
Design deines Aufenthaltes hier, als spielten sie das alles
nur für dich, und dieses Innehalten gerade ist der kritische
Moment, in dem der Schwindel aufzufliegen droht, weswegen
du jetzt schnell den Kuchen weiter isst, damit niemand umsonst
hier gewesen sein wird.

22. Dezember 2016 13:38










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (119)

26. Dezember 2015, ein Sonnabend

Vorweihnachtsmomente mit Frau S.: metamorphotisches Plätzchenbacken zu Ovid. Meine glasigen Geständnisse, welche Ersteindrücke mich von ihr anfangs ferngehalten hatten, haben Frau S. getroffen, und sie möchte nicht mehr davon. Mir ist nicht ganz klar, ob solche Bemerkungen entschärfend oder entzündlich wirken.

Heiliger Abend: Bis 2 Uhr morgens trank und sang die Großfamilie im Haus von Schwager Wietzke in Weddelbrook.

Heute Morgen, halb noch träumend und halb erwachend, hielt sich ein Satz im schlafselig vernebelten Kopf: „Im Träumen fügen sich die Teile zum passenden Puzzle.“ Umgehend peinlich berührt davon, im Austräumen für höhere Erkenntnis zu halten, was sich im Wachzustand als Warnung vor törichter Traumgaukelei liest.

26. Dezember 2016 13:55










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (120)

27. Dezember 2015, ein Sonntag

Vom Traum heute Morgen weiß ich lediglich, dass ich mich an einem Waldrand befand und mich dort im Gehölz versteckte, vermutlich vor H.H. (sein Name fiel vorgestern, obwohl ich seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr zu ihm habe). Ich blieb versteckt, allerdings mit einem klammen, nicht leicht zuordbaren Gefühl, das ich auch jetzt nicht klar definieren oder begründen kann.

27. Dezember 2016 19:44










Markus Stegmann

eines

eines
eines
tages tages
tages tages
tages

eines eines
tages
tag tag
tick tack
tages

eines

bist
du und du
bist
du

eines bist
du
tick tack tages
eines bist
du
bist du
tick tack
tages
sind wir du
und du
und

eines

bist du
du

bist du
zurück

28. Dezember 2016 00:09










Björn Kiehne

Blumen

Es gibt Gedichte,
die aus dem Asphalt aufsteigen,
von dort, wo gerade jemand stirbt.

Sie mischen das Abgas
mit den Gedanken derer,
die verschwinden.

Ich lege Blumen
in die Luft,
für alle,

die sterben;
für alle,
die töten

und nicht wissen,
dass sie selbst
ihr erstes Opfer sind.

29. Dezember 2016 05:20










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (121)

31. Dezember 2015, ein Donnerstag

Gestern dokusan beim Sensei: Wie sich der Aikido-Geist in den Alltag übersetzen lasse und wie sich dieser Vorgang bei ihm vollzogen hätte: auch bei ihm in Stufen; in Stufen des Sich-Spürens; nicht als linearer Vorgang, sondern in kleinen aber spürbaren Momenten, in denen ihm deutlich wurde, dass er sich spüre. Zu meinem Aikido: raus aus dem Arm, hinein in die Hand. 287 Aikido-Trainingseinheiten im Jahr, also 5,5 Einheiten pro Woche. Und gleichzeitig spürte ich jetzt beim Winter-Lehrgang ein krisenähnliches Phänomen, eine mentale Erschlaffung, eine etwas sieche Neugier, die derzeit nicht erfasst ist vom Reiz der Prüfungen, der Techniken, des Austobens. Sensei hat mich am ersten Lehrgangs-Tag einmal nach vorn geholt, die harte Schulter angemahnt und an den folgenden Tagen nicht wieder nach vorn zitiert.

Nachmittags zum Kaffee bei der Nachbarin G., die ich in ihrer rustikalen Ostberliner Art sehr mag. Sie berichtet Erstaunliches: Geister frisch Verstorbener sitzen beizeiten auf ihren Balken und streuen Blüten; ein andermal laufen leere Schuhe durch ihr Wohnzimmer. Dann, beim astrologischen Gutachten, das ich gefasst hinzunehmen mir vorgenommen hatte, wurde sie sehr ernst: oh, zweimal Uranus … sie lenkte das Gespräch dann aber versöhnlich zu weniger Fatalem und fragte, ob mich meine Reiselust auch nach Indien zöge, wo es ja Leute gäbe, die über uns Erdenmenschen zusammengerollte Blätter liegen haben, in denen alles über unser Leben verzeichnet sei, weil wir ja alle mit Aufgaben versorgt seien. Ja, alles sei dort verzeichnet, eben der ganze Lebenslauf, auch das Sterbedatum. Sie gab mir zwei Berliner mit.

31. Dezember 2016 19:05