Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (57)

14. August 2015, ein Freitag

Die Zwischenumsetzwohnungs-Vermittlung verlangt, um tätig zu werden, eine Bescheinigung der Genossenschaft, die belegt, dass ich bei ihr Mieter sei. Die Genossenschaft verweigert eine solche Bescheinigung mit dem Hinweis, dass zwischen Haupt- und Untermieter kein rechtsgültiger Mietvertrag vorläge. Der Hauptmieter meldet sich nicht.

Interessante Wiederholungsmuster vor dem Aikido-Sommer-Lehrgang. Morgen geht es los. Vor fünf Jahren, in der Nacht vor dem ersten Lehrgang, regnete es nachts durch das undichte Dach in meine Küche, der ganze Boden war Pfütze. Die Wohnung entgleitet meinen Füßen.

Abends Training: Die Praxis vertreibt die trüben Gedanken, bis einzig die Freude an der Bewegung mich erfüllt.

14. August 2016 17:50










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (56)

13. August 2015, ein Donnerstag

Rechtsanwalt Dr. H. schreibt, der Gerichtstermin gegen die Zeitung, die mir kündigte und trotz 25 Jahren kontinuierlicher Mitarbeit keine Abfindung geben will, sei leider wenig günstig verlaufen. Umso ungünstiger, als die Richterin Dr. G.-D. hellauf empört gewesen sei, dass ich nicht persönlich erschienen sei und eine persönliche Entschuldigung dafür verlangt habe. Nun war ich in der Tat nicht erschienen, und zwar auf Anraten meines Rechtsanwalts Dr. H., der mir im Vorfeld erklärt hatte, das sei bei solchen Terminen weder üblich noch nötig. Tja, gestand nun Rechtsanwalt Dr. H. auf Nachfrage, das habe er wohl falsch eingeschätzt, wie die Kollegen in Kiel so drauf seien. Zwar könne ich, habe die Richterin Dr. G.-D. mitgeteilt, Widerspruch einlegen, aber der würde sowieso abgewiesen werden. Im Protokoll ist zudem erwähnt, es fehle „jeglicher substantiierter Vortrag, der erforderlich ist, um hier ein Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien festzustellen“. Und ich erinnere mich momenthaft sehr lebendig an den Vorbereitungs-Termin, als ich Rechtsanwalt Dr. H. das gewesene Arbeitsverhältnis unter Vorlage von Papieren konkret und en detail beschrieb, schriftlich substantiiert sozusagen, mit Substanzen allerdings, die er seinerseits aus- und in den Wind schlug mit dem Hinweis, solche Ausarbeitung sei Sache des Anwalts. Per Güteverhandlung wurde eine Abfindung von 2.500,- EUR vereinbart, davon geht die Hälfte an Rechtsanwalt Dr. H.

Im Aikido-Training zeigt sich Frau S. immer wieder von ihrer besten Seite, und es ist etwas unklar, wem genau sie sich so zeigen möchte.

13. August 2016 08:12










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (55)

12. August 2015, ein Mittwoch

Per Rundschreiben entgegnet der Genossenschafts-Vorstand, mein Brief sei „feige“ und findet: „Momentan denke ich, dass unser Projekt und die Forderungen und Vorstellungen von Gerald nicht kompatibel sind.“ Ich frage mich, ab welchem Punkt des Rauskegelns ich einen Rechtsbeistand hinzuziehen muss. Seitens der Hausgemeinschaft ist keine Solidarität zu erwarten, das ist klar.

Zum fünften Mal bat ich heute meinen Hauptmieter um schriftliche Ausstellung des vereinbarten Untermietvertrages. Er schweigt. Offenbar im Kalkül, die Zeitnot dränge zur Unterschrift seiner Vertragsversion, die mir nach diesen zehn Jahren keinerlei Mietdauergarantie gewährt.

12. August 2016 13:22










Mirko Bonné

Oboe

Schließ den Mund über der Oboe,
die weißen Töne strahlen
die Luftröhre hinunter
auf dein nacktes Herz.
Frühmorgens, am Tisch
die Milchjahre, eingetauscht
gegen die Angst der Hand vorm Papier,
Einen im Rücken, nah, dass er jede
Silbe zwischen den Zeilen errät.
Wortmulm, Eroberungen des Maulwurfs.
Wo denn ein Land finden, wie zwei Schritt weit
folgen einem Gedanken, da zurückmündet
in die Schuhspitzen der Meridian.
Schließ sie über der Oboe,
deine Lippen. Milch
fließt durch die Röhre, und
wir bilden einen Gesangkreis. Ich
tausche die Bissstellen
im Tisch gegen eine
geheime Musik ein, und du
komm, du komm einmal um die Welt.

*

12. August 2016 10:22










Christine Kappe

die Frauen ohne Köpfe, die Siegerkränze mit den abgehackten Händen, der gotische Durchbruch, dahinter zieht jemand die Landschaft weg, die nur auf Folie gemalt ist, bunte Lichterketten, zum besseren Verständnis.

als ich aufs Klo gehen, sehe ich die Kinder dort Frösche auf die Heizung legen, zum Trocknen, es gibt kaum Stühle, & alle essen mitgebrachte Sachen, nur wir haben nichts mitgebracht, außer unseren Texten, die keiner lesen will, die Kinder spielen ‚Mord im Dunkeln‘, im Hellen, im Ernst.

ich habe Bücher früher anders gelesen, ernsthafter & wie als Sport, ich meine, die Seiten richtig umgeblättert, & möglichst viele am Tag, & immer gegen die Welt, immer gegen die Welt.

12. August 2016 06:37










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (54)

10. August 2015, ein Montag

Gestern Abend fuhren einige Aikidoka und ich nach dem Training zum Weißensee, badeten und gingen essen beim Asiaten. Hübsch. Und mir dämmerte, dass mein Zustand sich erst wirklich ändern könne, wenn ich lange wandere. Also nicht nur über die Alpen, sondern in Bolivien oder Peru am Titicacasee oder irgendwo anders. Nur dann würde sich der Blickwinkel im nötigen Maß verschieben. Natürlich ist das eine Flucht, aber aus Furcht vor Fluchtverhalten in Dauerschockstarre zu verharren, ist schließlich auch keine Lösung.

Heute Vormittag doch noch ein weiteres Rundschreiben an Genossenschaft und Mitbewohner – unter erhöhtem Schweißaufkommen. So nüchtern geblieben wie möglich, dennoch in Erwartung der wutschnaubenden Meute unter der Maske heiliger Entrüstung.

Halbherzige Bewerbungen meines Metjens nahmens Preetzen bei 3sat, ZDF Kultur und ORF III, den Sendern, die sich auch für 88 – pilgern auf japanisch erwärmt haben.

Herr S. von der FAZ schreibt, mein Expeditions-Vorschlag Richtung Papua-Neuguinea bzw. Kuruwai erübrige sich, weil Redakteur L. das Land im September bereise. Ist Papua-Neuginea gerade in Mode gekommen?

Planung für meine Anreise nach Siebratsgfäll, Ausgangspunkt der Alpenüberquerung. Braucht etwas lange, so eine Planung, aber irgendwie auch schön, so ein erster Schritt in Richtung Wanderreise.

11. August 2016 08:47










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (51/52/53)

6. August 2015, ein Donnerstag

Mit dem Gedanken ins Bett zu gehen, dass man Angst vor Angstträumen hat, ist eine ziemlich gute Garantie für eine schlechte Nacht. In den einen Träumen möchte ich nach Krumme Lanke, werde mit dem Auto an einer Gabelung rausgelassen und weiß nicht mehr, wohin. Außerdem kann ich mich nicht gut bewegen. Und wache ich aus dem Traum auf, spüre ich das rechte Knie.

Dieser zweite Fastentag setzt mich völlig matt. Ein hartnäckiger Kopfschmerz, der sich nachts zwischen Nasenwurzel und Stirnhöhle eingenistet hat, geht nicht weg. Erst gegen 17 Uhr wird er schwächer. Fasten versetzt mich spürbar in einen Mangel- und also Krankheitszustand. Das passt zu meiner Situation: Ich mache mich krank. Ich unterlaufe die Ernährungsvorgaben durch zwei Löffel Apfelmus und etwas Saft. Sonst würde ich völlig siechen. Ich werde Aikido schwänzen.

Nachmittags die ganze Zeit im Bett. Zwei Träume: Im ersten lebe ich in einer eher großzügigen Wohnung mit Balkon. Es klingelt. Kitty und – ach, was?! – ihr neuer Freund, der mir irgendwie aus Filmen bekannt vorkommt, stehen vor der Tür. Ich bewirte sie und spiele den Gastgeber, bis mir in einer ruhigen Minute einfällt, dass das dämlich ist und ich mich heimlich aus der Wohnung mache. Im zweiten Traum gerate ich trotz wartender Schlangen und uniformierten Wachdiensten durch einige Schliche in einen Lidl-Supermarkt und fische nach Bananen, die dort auf einem Bord über einem Bett liegen.

Hitzewelle über Berlin. Heute deutlich über 30°C, morgen werden 37°C erwartet. Das ist natürlich totaler Blödsinn, sich bei dieser Hitze auszumergeln.

7. August, ein Freitag

Recht angenehm erwacht. Zwar in einem Traum, in dem ich im Sehnen nach einer Frau das Nachsehen habe, aber das störte nicht allzu sehr.

Das Frühstück nach dem freien Training ist normalerweise ein Fest. Heute sitze ich mit meinem Wässerchen dabei. Für den Rest des Tages Darben und Trinken auf dem Sofa. Dieser dritte Fastentag sieht Darmentleerung vor. Bloß nicht noch einmal diese Entwässerung. Ich werde es mit Kaffee probieren.

Das hat nicht geklappt. Also noch eine Portion Glauber-Salz in banger Erwartung.

9. August, ein Sonntag

Gegen 3:30 Uhr erwacht in der Sommerhitze, schlaflos und müde. Nachgeschaut im Internet: Ricky Gervais hat sich aus seinem facebook-live-Blog verabschiedet, etwas rüde sogar.

Kittys Züge gehen langsam verloren. Die Projektionen, die ich auf sie lud – Kinder, Familie, Zukunft, Lebenssinn, Neuanfang, Allesgut – winden sich um einen Namen, nicht um ein Gesicht oder einen Menschen mit Kontur.

Im Morgenblau nach ersten Tagebucheinträgen friedlich entschlummert, sogar mit Traum von etwas Erotischem und vom Essen eines Brötchens mit belegtem Ei – zuletzt also ein erfüllbarer Traum.

(Fast erfüllbar: Beim Bäcker stellt sich heraus, dass Schnitt-Ei aus ist.) Fasten beendet. Sofort reingehauen. Alles, auch Eis.

Die Morgenlektüre in Bleak House liest sich wie ein Kommentar auf meine Situation im Hause. Bei Dickens rankt sich das Geschehen um die unheilvolle Mühle der Justiz, namentlich im Fall Jarndyce contra Jarndyce, einer Mühle, in die sich der sonst arglose Richard ziehen lässt und in den Sog von Argwohn, Zweifel und sonstiger Zermürbung gerät.

10. August 2016 11:20










Tobias Schoofs

SIEBZEHN

was hier beschrieben steht ist
unsichtbar ein zeilengrab in dem
du weggekommen bist was hier

beschrieben steht besteht nicht
mehr ich hab dir doch gesagt
du sollst für nachwuchs sorgen

stattdessen bist du weg und alle
sagen was der hier beschreibt
ist ausgedacht als wirklichkeit

doch gar nicht möglich hättest
du dich rangehalten könnt ich
leicht auf deine brut und damit

auch auf dich verweisen und
du und das hier wären doppelt

9. August 2016 20:35










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (49/50)

4. August 2015, ein Dienstag

Ab morgen wird gefastet. Heilgefastet. Besorgung einer Unterkunft am ersten Tag der Wanderung, Schriftverkehr mit Genossenschaft, Ausfüllen der Krankenversicherungs-Anträge für den Wechsel in die Gesetzliche, Impfung (Zecken), und schon geht’s dahin.

Heute Abend wieder Mieterversammlung – die erste nach dem letzten Eklat …

5. August, ein Mittwoch

Die Mieterversammlung verlief glimpflich, zumal ich Frau H.s Rat befolgte, nicht die Laus im Pelz zu sein, sondern still den Dingen zu folgen. Es wird ziemlich resigniert geklungen haben, wie ich sagte, keine Einwände zu erheben. Dieses Resignative wird mir heute Morgen beim Frühstück sehr klar. Dabei dämmert die Vorstellung, mit so einer Resignation aus dem Leben zu scheiden, wenn die Hoffnungen aufgebraucht sind. Also auf eine Weise, dass die Umgebung mit der Schulter zuckt. Die Vorstellung, in dieser Verfassung über den fünfzigsten Geburtstag zu kriechen und mich mit irgendwelchen Fernreisen von einer Lebenswürdigkeit zu überzeugen, lässt draußen am Tisch beim Bäcker meine Augen feucht werden. Ich merke, wie sich der Gedanke einkrallt, dass es eine Option ist, aus dem Leben zu scheiden, und möglicherweise bezeichnet genau dieser Gedanke die Schwelle zur Krankheit und Krisis und das, was Frau H. mir für meine Zukunft prophezeite.

Bei Kafka wird es nachzulesen sein: dass die Macht des Opfers darin besteht, seine erlittenen Verletzungen zur Schau zu stellen und die Täter damit an ihre Taten zu erinnern. Und außerdem, dass diese Macht nur eingebildet ist und in der Fantasie des Opfers besteht, da die Täter tausend Strategien und Schlichen ersonnen haben, dieser Attacke auszuweichen. Haben die geschundenen Freaks auf Jahrmärkten jemals das Publikum zur Einkehr gebracht? Nein, sie haben gejohlt und gezahlt und damit ihr Recht auf Hohn und Verachtung erkaufen können. Und Schweinsteiger hat im WM-Finale seine Wunde nur deshalb so glorreich-heroisch präsentieren können, weil sein Täter in der Minderheit war und Schweinsteiger – als Sieger des Titels – im Gewand des Opfers der eigentliche Täter blieb.

Es bleibt erbärmlich zu glauben, jemanden damit beeindrucken zu können, indem man ihm sein „Das habt ihr aus mir gemacht“-Antlitz zeigt. Der Andere hat damit nichts zu tun. Er wird – mit Recht – entgegnen: Das hast du aus dir gemacht. Wie wirke ich auf Andere mit meinen Minirebellionsanflügen: wie all die Spinner, die ihre Frust-Weltsichten in die Gegend motzen und den Zeitungslesern der Bäckerei auf den Wecker fallen.

Dies ist der erste von vier Fasten-Tagen. Das Fasten lässt sich seltsam an: die mit Glauber-Salz angetriebene Entleerung erfolgt nicht, obwohl ich mittags eine Zusatzportion in mich hineinschütte. Erst gegen 18 Uhr entfaltet das Abführmittel seine Wirkung, dann allerdings mit Macht, leider gerade zum Zeitpunkt, als ich zum Aikido-Training will und als lauter Nachbarn im Treppenhaus herumgeistern. Das Klo auf halber Treppe ist in solchen Phasen sehr weit weg.

9. August 2016 10:57










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (45/46/47/48)

31. Juli 2015, ein Freitag

Jetzt, am Abend, lässt die Wirkung jener Tröpfchen nach, die mir auf der Zunge zergingen unter der heiligen Pipette von Frau H. und mich mit der Welt vereinten. Vielleicht diente auch Noah Baumbachs Gefühlt Mitte Zwanzig als Ausnüchterungszelle. Da lässt sich ein Paar von Mitte Vierzig auf ein junges Hipster-Paar ein und sieht sehr schnell sehr alt aus. Allerdings wirkt Er (Ben Stiller) vergleichsweise deutlich vitaler als ich: ein zwar gescheiterter Dokumentarfilmer, aber einer mit Ambitionen; ein zwar törichter Partner, aber einer mit Ehefrau (und zwar Naomi Watts); ein zwar verworrener Wohner, aber immerhin mit cooler Wohnung etc.

1. August, ein Sonnabend

Die Beschäftigung mit Vatis Familienchronik ist ein ewiges Stolpern. Mal überliest er meine Anmerkungen, dann missversteht er sie, dann misslingt das Versenden – ein ewiges Nachsetzen, Nachholen, Würgen, obwohl es im Grunde mein Wunsch ist, Vati im Produktivdasein zu begleiten. Wir schauen einander in die unendlich aufgefächerten Spiegel unserer Renitenzen und Erwartungen. Wenn er am Telefon fragt, was ich heute denn so machen würde, fühle ich mich sofort wie im Kreuzverhör.

2. August, ein Sonntag

Heute morgen sitzt beim Bäcker, wie jeden Morgen, der geistig etwas zurückgebliebene Mann mit dem vergreisten Kindsgesicht und plappert im Selbstgespräch. Es sind Wallungen. Mal kleinere und größere Blasen, die aus dem Morast unhörbaren Selbstgesprächs an die Oberfläche steigen. Er ist die Kehrseite all jener Leute, die über unsichtbare Anstecker telefonieren und anmuten wie Gestörte im Selbstgespräch. Im Gegensatz zu ihnen wirkt der Mann beim Bäcker wie jemand, der telefoniert. Aber eigentlich macht er das ja auch in seinen im Kreisverkehr verlaufenden Ich-Dialogen.

3. August, ein Montag

Täglich spüre ich das rechte Knie und weiß doch, dass es noch einen Monat durchhalten muss. Ich bin ziemlich sicher, dass dort eine Art Splint lose ist, der im besten Fall verleimt werden müsste.

Das Soll von drei Kapiteln in Dickens‘ Bleak House erfüllt. Was normalerweise die Belohnung vom Tagewerk sein sollte, ist mangels Tagewerk selbst zum Tagewerk erhoben. Das ist mittags erledigt, genauso, wie das Mittagessen um 12:15 Uhr erledigt ist. Was ich mir täglich abverlange, ist lächerlich wenig. Als wäre ich mein eigener Psychotherapeut, der seinem Patienten nur das mindeste zutraut.

8. August 2016 09:27