Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (69/70/71)

2. September 2015, ein Mittwoch

Köstliche, trostreiche Wetteransage des Deutschen Alpenvereins: Über Nacht vom Sommer in den Herbst, die Wetterlage in Tirols Bergen stellt sich um. Eine Kaltfront bringt schlechte Sicht durch mehrschichtige Bewölkung und Nebel in den Gipfelbereichen. Dazu immer wieder Regen bis zum Abend, Schnee fällt im Hochgebirge ab knapp 3000m. An der Alpensüdseite sind die teils kräftigen Regenschauer auch von Gewittern begleitet. Temperatur in 2000m: 7 Grad. Temperatur in 3000m: 2 Grad. Höhenwind: meist schwacher bis mäßiger Wind aus West bis Südwest.

In Berlin: 20 Grad, windloser, sternloser Stadtnachthimmel. Eben saß ich unten vor dem Haus Sredzki 44 neben die Nachbarn H. und B., die wie immer einvernehmlich monologisierten. Sehr lauschig, geradezu ein Henscheid-Abend. Doch das täuscht, denn B. ist bekennend jähzornig und H. jederzeit bereit, zum Zweck der wohnlichen Eigennutzes mir eine Keule in den Kopf zu rammen. Ich spendiere ihnen Lebkuchen, der ist zur Zeit gerade frisch.

3. September, ein Donnerstag

Das erste Training mit Schwarzgurt bei sendatsu T.B. Die Muskulatur steht noch völlig im Bann der Wanderung, ich bin kaum kontakt-kompatibel. Hinterher ins Tire Bouchon mit T.B. und J.K. sowie als Damen K. und Frau S., mit der ich mich für Samstag ins Kino verabrede, ohne zu wissen, in welche Film es denn gehen soll. Nun, nun, was geschieht denn da? Jedenfalls ein barbarisch lustiger Abend, in dem – eine Novität – drei Runden Zwetschgen-Schnaps kreisten und jede Menge lästerlicher Maliziosen ausgetauscht wurden – so ausgelassen waren wir lange nicht. Und so auf unser Profil bedacht.

Schon zuvor die Wohnungsbesichtigung war gut: die Pistoriusstraße 147 sieht hübsch aus, auch wenn sie nach vorn raus etwas laut sein wird. Aber ich werde mich bewerben. Und dann mal sehen.

4. September, ein Freitag

Ein Glückstag. Er beginnt mit einem argen Kopfweh nach dem gestrigen Zwetschgenschnaps. Kaum war an Aufstehen zu denken. Doch dann erledigte sich tatsächlich die zügige Abgabe der Bewerbung auf die Wohnung in der Pistoriusstraße, auf die ich einige Hoffnungen setze, nachdem die Mieterberatung ihre Finger ins Spiel bringt und sich geltend macht gegen die beharrlichen Widerstände und Blockaden der mir abspenstigen Baugenossenschaft … dann ein recht munteres Ausräumen des Kellers und der Verklappung des Zeugs in den Container, wobei sogar nachbarschaftliche Hilfe mit den sosehrgeliebten Nachbarn D. und H. praktiziert wird … dann erfreuliches Allerlei am Computer …

… und schließlich der Augenblick beim ersten Training, als der sensei auf mich zeigt: „Ich habe einen Hakama für dich, brauchst du einen?“ Ein Hakama vom sensei, das ist hübsch, so eine Ehrung sitzt.

4. Oktober 2016 13:10










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (68)

1. September 2015, ein Dienstag

Abbruch.

3. Oktober 2016 18:26










Andreas H. Drescher

HYPOKRITISCHE AKADEMIE

So bedank ich mich denn un
artig bei UNICEF auch PLAN
bei VERDI und AMNESTY pp
dass sie mir noch am letzten
Sommertag Hallo Huuhuuuh
Gutmenschen – Koberer auf
den Hals schickten ganz doll
liebe versteht sich mit Mooo
mentchen nur immer neu auf
gestellter Begeisterung mich
mich und Oh ja gerade mich
hier anzutr – effen schiefgel
egter Kopf Hai Gib doch erst
mal die Hand – um mich in
dieses konvexe Strahlen ein
zufassen wenn ich sie bloß
weiterreden lasse und selbst
verständlich hinter einfarbig
familiären T – Shirts diesen
Dauerauftrag unterschreibe

Einmal Mäuschen sein in ih
rer hypokritischen Akademie

1. Oktober 2016 08:39










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (66/67)

30. August 2015, ein Sonntag

Anonymes rotgeflügeltes Insekt. Anonymes Gehölz, frisch geschlagen und verzapft. Anonymes Gestein und Gebüsch, vielfach gefärbt, vor allem violett. Anonyme Blüten, in denen der Berg badet. Unwohl dem, der die Natur beim Namen nennen kann. Wen anrufen, wenn der Berg aus seinem Schlaf erwacht, wenn er Steine spuckt und sich Wunden reißt in seinen Wettern?

An einer Gabelung gehe ich fehl und hinab zum Not-Abstieg Vergötzschen. Trotz massiven Abstiegs weigere ich mich eine Stunde lang, den Fehler einzusehen. Eineinhalb Stunden lang wieder rauf. An der verflixten Gabelung lege ich mich ins Gras, die Zunge klebt im Mund, zwei Stunden später Ankunft in der Verpeilhütte, innerlich ausgekühlt nach heute 12 Stunden. 5 Liter Wasser getrunken.

31. August, ein Montag

Auf der Falkansalm zieht ein Mann im Karohemd einen funkelnden, blitzenden Stein aus dem Hosenbund und zeigt ihn einem feisten Kerl. Der untersucht ihn: „Katzengold“, sagt er verächtlich, lässt den Stein indes in der Brusttasche seines Hemdes verschwinden.

Der Kaunergrat will festgehalten sein. Hinterher funkeln die Hände silbrig vom vielen Abrieb. Ich hatte eine kleine Wunde am Ballen und leckte sie sauber. So also schmeckt Silber.

Rifflseehütte. Ausblick von Liegestühlen auf Berge ringsherum mit ihren Gletschern und Hängen, aus tiefem Grün steigend in schütteres Grau und Braun. Einige Wölkchen in der Ferne. Ein Schaf irrt umher und blökt akzentfrei „Mäh!“

Nachricht am Abend: Morgen schlägt das Wetter um, gegen Mittag, danach Regen bis nächsten Montag. Das wirft alles um. Abbruch. Haselnussschnaps.

1. Oktober 2016 07:36










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (65)

29. August 2015, ein Sonnabend

Wandrers Nachtbrut. Sieden auf Rache an Allen, die da Übel mitspielen noch und noch. Und wer da baut auf Vergebung in seinen letzten brechenden Augenblicken, dem bescheide trocken dein „Nein!“ und presse ihm die Daumen auf die Lider, auf dass er einen Vorgeschmack bekomme auf seine Höllenfahrt.

Wandrers Taglied. Latschen durch Kiefern. Ach, ein Eichhörnchen! Nach drei Stunden in Zams. Dort auf die Vernetbahn verzichtet und zu Fuß den Hang hinauf, also statt zehn Minuten Gondelei nun vier Stunden lustloses Ansteigen. Ein Schindertag mit 1.800 m Auf- und 2.200 m Abstieg.

Abends Einkehr auf der Galflunalm. Dort residiert ein Lama. Es weidet würdig und mit Diskretionsabstand zum sonstigen Almgeviech. Außer mir: drei Herren aus der Eiffel, drei Damen aus Krefeld. Lauschige Terrassennacht. Über uns der Mond. Seiner angesichtig stimmen die Herren fein leise ein Lied an, während die Damen zu Bette giggeln.

30. September 2016 16:01










Andreas H. Drescher

FACHSPRACHE GENEALOGIE

Aus Posen also und dem großen
Deutsch ist also dieser erste Ur
hier damals also zweigewandert

Ohne so und Sohn und alles dies
er Sohn ritt sich im Terracotta s
einen Hirschen vor den Nierenstein

Bis diesem nicht mehr Groß und
nicht mehr Ur nur Granulat blieb
positivistisches Dental-Granulat

Und statt des Hirschen dieser im
ponierportierte Jaguar samt s
einem Gefäßverschluss in Basel

Die Kraft der Lenden patri
linear verschwendet an dies
großegroße MOI im Souterrain

(Für Ulf Stolterfoht )

30. September 2016 07:48










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (62/63/64)

26. August 2015, ein Mittwoch

Über die Nagelflughkette vom Staufner-Haus nach Gunzesried. Das klänge im Norden nicht so malerisch. Obwohl … in den Hüttener Bergen von Harzhof über Hohenlieth, Hohenholm und Harfe nach Holtsee – das ginge auch. Dort gibt’s auch viel Käse, aber weniger Silberdisteln. Auch Kühe, aber weniger Glocken. Was für einen Krach die machen! Als Kuh würde ich wahnsinnig: Kaum senkt man das Maul zur Erde, wirft sich der Glöckner in die Seile.

Ein Filzhutträger mit wüllenem Backenbart wickelt einen Stacheldrahtzaun auf. „Das ist ja eine kratzige Sache“, sage ich. Darauf er: „Da hilft nur einsch: nit verkrampfe!“ Anheimelndes Allgäu. Oben am Gipfel, im Hochgenuss des Rundumblicks, erwischt mich ein anonymer Telefonanruf, der Vorstand der Genossenschaft: eine 65qm-Wohnung zur Umsetzung sei schwierig, aber es gäbe eine 40qm-Wohnung, das würde gehen.

27. August, ein Donnerstag

Dauerndes Verlaufen. Hänge hinauf und Hänge hernieder, Querfeldeinschlurfen über triefende Wiesen und unter siebenden Tannen. Dann hurtig nach Oberstdorf, von dort noch hurtiger fort. Gäbe es nicht den Edeka-Supermarkt, gäbe es für Oberstdorf keinerlei Rechtfertigung. Außer jenen Butter-/Milch-/Buttermilch-Verkäufer, der bestens Kühe kennt und daher weiß (und mir nachweist), wie glücklich sie mit ihren Glocken sind. Übernachtung „Beim Beck“, wo ich auf der Terrasse mit Fridolin Beck plaudere. Im Januar 1939 hat er zwei Skisprung-Meisterschaften gewonnen. Er ist 96.

Dann endlich hinauf in die Alpen und oben unter die Dusche. Davon hat die Kemptener Hütte 2. Für 300 stinkschweißige Wanderer. Befindlichkeit zwischen Sonnenstich und Ekel. Schlafen im sogenannten Lager, also eingezwängt zwischen lauter Männern mit Duschproblem: links der weißbärtige 60er schnarcht natürlich und verpustet würzigen Altmänner-Atem, der Typ auf der rechten Seite furzt. Toiletten befinden sich zwei Treppen abwärts.

28. August, ein Freitag

Am Leiterjöchl rasten Vater und Sohn. Sie schwärmen von Steinböcken, Gemsen, Murmeltieren – nichts davon habe ich gesehen. Einkehr im Württemberger Haus. Ein Paradies abseits der Haupt-Route, umgeben von Wasserfall, Naturdusche, Sonnenterrasse. Nuss-Schnaps bestellt, allein für mich. Nun also fängt das Alter an.

29. September 2016 08:48










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (59/60/61)

23. August 2015, ein Sonntag

Lehrgang vorüber, fünf Jahre Training, seit gestern shodan. Heute in die Alpen, noch ganz gerührt von Ukes und ukemi. Auch gerührt von Frau S., gegen die ich mich sträube, aber nicht so sehr, als dass ich nicht nachts mit ihr äußerst eingehend die Sterne studierte, als gäbe es dort Künftiges zu erspähen, obwohl das Gegenteil der Fall ist, denn jeder Blick in die Sterne greift tief ins Urvergangene. Ich bin da widersprüchlich. Aber bitte nicht Frau S. kompromittieren! So denke ich in Siebratsgfäll.

24. August, ein Montag

Allgäu. Auf den ersten Höhen „Klemens!!!“ ins Tal gebrüllt. Schnell hinauf in almiges Kuhglöckeln. Kommt man auf den Kamm, wogt das Kuhkonzert heran. Beschirmt der Kamm, bricht es abrupt ab.

Die Landschaft sieht nach Märklin aus. Tagsüber gleiten Gondeln, allseits wellt sich Weiches, Grünes. Nachmittags Tiefgrauwolkenu, um 19 Uhr ist alles zugezogen, den Zaun umzäunt der Nebel. Lese „Also sprach Zarathustra“, diese kalte Ode gegen alles Laue, Liebe, Dünkelnde, Übliche – eine letztlich doch peinliche Selbst-Inthronisierung. Schrei-Gesang.

25. August, ein Dienstag

Die ganze Nacht Regen. Ich bleibe auf der Hütte, ich tappe nicht durch Schlick und Suppe. Außerdem: der Kalkstein wird schmierig. Langeweile des Hüttenausharrens. An den Tisch gesellt sich ein Alemanne. Er erzählt von einem Freund, ein Hobbyfotograf, der im Eiffeler Moor auf Motivsuche ging. Nach Tag 4 fand man ihn, stakend bis zur Brust aufrecht. Seither, sagt der Alemanne, wisse er, was zu tun sei, wenn man feststeckt: nicht strampeln, nein, sich sanft nach vorn fallen lassen.

28. September 2016 23:06










Tobias Schoofs

KLINGT WIE…

im dunkeln wusst ich immer
ist es weniger gefährlich denn
in dem was ich am besten
kann bin ich um ehrlich zu

sein miserabel aber nachdem
wir einmal da sind unterhaltet
uns doch das hilft weg über
verlegenheit mein gott warum

hast du mir das alles hier bloß
mitgegeben dieses körperzeug
etc. es stört doch nur ich

wollte nie was anderes sein
als eine verweigerung warum
missgönnt ihr mir das alle

22. September 2016 21:09










Hendrik Rost

„Gorillas in unserer Mitte“

Die Elbe schaukelt langsam den Tag
in den Schlaf oder sie wägt eine Idee
ab, die ihr eben auf der Welle lag
und in den Sand fiel: endlos viele
Universen aus Körnern, ein Gries
aus Plastik, allmählich zerschliffen.
Im Abenddämmern der Containerriese,
sprengt die Vorstellung von Schiffen;
wie ein Opernhaus an der Skelettküste.
Noch nicht im Bild sind tanzende Affen,
als erwarteten die Sinne einen Test:
Aufmerksamkeit ist nach oben offen.
Da, Klaus’ Kopf, maskiert als Kiesel.
Einst wogten hier Seegraswiesen.

21. September 2016 13:34