Gerald Koll
Erinnerung an Christoph Hochhäuslers Film UNTER DIR DIE STADT
Ich erhebe mich, stütze meinen Körper auf sich selbst und trete ans Fenster, höher als die umliegenden Dächer, und unter mir die Stadt, die in der langsam beginnenden Stille schlafen geht. Der große, weißweiße Mond erhellt traurig das vielfältig terrassierte Häusermeer. Es ist, als beleuchte sein Licht eisig das Geheimnis der Welt. Es scheint alles zu zeigen: und alles ist Schatten, hie und da ein Einsprengsel von Licht, falsche, uneben absurde Zwischenräume, Ungereimtheiten des Sichtbaren. Nicht ein Windhauch, und das Geheimnis scheint größer.
(Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe, Eintrag 149, 3. März 1931)
Andreas H. Drescher
Februar-Falter
Im Garten der Februar
Falter Zitronen
Falter Jetzt sind
es …… schon …… zwei
29. Februar 2012 19:11Gerald Koll
Zazen-Sesshin (8)
Eine Sitzeinheit von vierzig Minuten lässt sich verkürzen, indem man sie als Berganstieg vorstellt, der in achtzig Minuten zurückzulegen sei. Das Ziel könnte ein Tempel sein, wie bei einer Pilgerreise. Die Sitzzeit verginge im Zeitraffer, und die Tätigkeit erschiene bequem, sofern man dem Irrglauben anhängt, Sitzen wäre bequemer als Gehen. Eben noch, vor der 16. Einheit, ging ich, eben noch ging ich auf belaubten Wegen unter Ästen, eben war Samu, die vormittägliche Gartenarbeit.
Während des Samu trug der namenlose Meister eine Jakobinermütze. Nur die rote Farbe fehlte. Auch die Kokarde. Sonst aber nichts.
Das hingegebene Lächeln des Schülers während des Samu ist frei von Ironie. So stumpfsinnig kann die stumpfsinnigste Arbeit nicht sein, als dass sie nicht befreiender wäre, als still zu sitzen. Glücklich bürstete der Schüler nasses Laub zwischen Moosen heraus. Schob eine Karre den Abhang hinauf zu den Haufen und Wurfhügeln. Auch ließ sich das allgemeine Schweigegebot unterlaufen, denn zu fragen ist erlaubt, wo Gerät zu finden sei. Wo ist Schaufel, wo ist Besen? Dort im Schuppen neben dem Kompostklo, in dem du deine Exkremente mit Sägespänen bestreust!
Dann ist sie da, die 16. Einheit. Während des Starrens wellt sich der Dielenboden zur Wüstendüne. Vier Astlöcher verbinden sich zu einem Löwenkopf. Nur die Mähne fehlt. Auch die Zähne. Sonst aber nichts. Der dürre Löwe starrt ungläubig, die Knie starren zurück.
27. Februar 2012 08:59Andreas Louis Seyerlein
~
0.08 – 0.08 – Eine kleine Geschichte habe ich rasch noch zu erzählen. Sie verfügt über kaum Handlung, eine Geschichte, die sich im Grunde Tag für Tag auf einem Fährschiff der Staten Island Fährenflotte wiederholen könnte. Auf diesem Schiff, das den Namen John F. Kennedys trägt, befindet sich in der Mitte des Bridgedecks hinter einem Tresen ein kleines Ladengeschäft, das der Versorgung der Reisenden dient, ein Ort, der leuchtet und blinkt, ein Ort, der nach Popcorn duftet, nach Kaffee, nach gebratenem Schinken und nach weiteren Substanzen, die ich bislang nicht identifizieren konnte. Obst, Schokolade, Cookies, Bonbons, auch Straßenpläne Manhattans, Feuerzeuge, Coca Cola, Zuckerwasser in verschiedensten Farben, Nüsse, geröstete Mandeln, was ich wähle, was ich wünsche bekomme ich von einem Mann ausgehändigt, der seiner Erscheinung nach in Mexico oder Nicaragua geboren worden sein könnte. Sein stoischer Ausdruck ist mir sofort aufgefallen, lange Zeit habe ich ihn beobachtet, dieses Gesicht, das wirkte, als würde es eine aus Tropenholz geschnitzte, eine auf das Sorgfältigste bemalte Maske tragen, darin Augen, dunkle, schimmernde Knöpfe. Die Stimme des Mannes, die sich dort irgendwo befinden muss, habe ich bisher nie gehört. Und ich habe nie gesehen, dass er sich von seinem Platz fortbewegte, er steht senkrecht hinter seiner Ware, ein Monument, das über sehr schnelle, sehr lange Arme verfügt, ja, es sind die Arme, das einzige was sich an diesem Mann bewegt sind seine Arme, diese Arme sind Handlung, sie sind eine Geschichte, sie sind erstaunlich, weil sie in der Geschwindigkeit der Chamäleonzungen nach Waren greifen. Einmal habe ich einen der Fotoapparat gekauft, die der Mann in seinem Sortiment für Touristen bereithält. Der Apparat kostete sechs Dollar und der Film 8 Dollar. Das ist ein wirklich altmodischer Film, einer, den man, um seine Bilder betrachten zu können, entwickeln muss. Ich habe den Mann nun mit genau diesem Fotoapparat fotografiert. Ich glaube, der Mann freute sich über meine Geste. Er schien unter der Maske seines Gesichtes zu lächeln. Vielleicht ahnte er zu diesem Zeitpunkt, dass ich einmal nachsehen werde, ob er lächelte, ein Geschenk für die Zukunft. Ende der Geschichte. – stop
20.25 – Es ist jedes Mal ein aufregender Moment, wenn sich die Kabine des Aufzuges vom 22. Stockwerk aus nach unten zu bewegen beginnt. Ich werde etwas größer für ein oder zwei Sekunden, ich kann das im Spiegel, der die Rückwand meines Reisebehälters vollständig bedeckt, genau erkennen, ich werde etwas größer, oder ich verliere den Boden unter den Füßen, es ist ein wirklicher Moment des Fallens, ein Raum der Zeit, der bereits vorüber ist, ehe man ihn mit Wortbedeutung ausgesprochen haben mag: Sekunde. Aber dann steh ich schon wieder fest auf dem Boden, bin so groß wie zuvor, ein Irrtum natürlich, nicht die Größe, aber dass ich sicheren Boden unter meinen Schuhen haben würde, weil ich doch abwärts rase, was ich am wandernden Licht der Zahlenreihe, die sich neben der Kabinentüre befindet, erkenne. Außerdem knistern meine Ohren und ich habe den Eindruck, dass auch mit meinen Augen etwas anders geworden sein könnte, ein Drama vielleicht, das sich hier gerade zu entfalten beginnt. Vor vier Wochen noch hatte ich einmal im Aufzug einen Spaziergang unternommen, rasch, wie ein Tier in seinem Käfig hin und her, ich wollte mich sehen, wie ich im Fallen zu gehen vermag, ein lustiger Anblick, nehme ich an, weil ich kurz darauf den Eindruck hatte, der kleine Wächter im Foyer habe ein ironisches Lächeln im Gesicht getragen, vielleicht weil er mich beobachtet hatte mittels einer Kamera, die sich in einer der oberen Winkel der Kabine befindet. Seltsam ist, man wird scheinbar nicht kleiner, wenn man das Erdgeschoss erreicht, obwohl man doch sehr schnell langsamer wird, gestaucht, meine ich, gepresst und diese Dinge. Ich habe weiterhin beobachtet, dass ich, indem ich den Aufzug verlasse, je eine leichte Linkskurve nehme, die so nicht geplant ist. Meine Schneckengänge, meine Labyrinthe im Kopf, daran könnte es liegen. – stop
22. Februar 2012 17:58Gerald Koll
Kramers Kuss
Herr Kramer durchquert am letzten Freitagnachmittag vor Weihnachten das Großraumbüro einer ihm unbekannten Firma. Die Herrn Kramer unbekannten Angestellten beenden ihren letzten Arbeitstag des Jahres mit einer Betriebsfeier. Herr Kramer küsst in der dicht gedrängten Menge eine ihm unbekannte Frau auf den Mund, und sie lässt es sich gefallen, überrumpelt von seinem Glück, das sie nicht kennt.
(Kramer gegen Kramer mit Dustin Hoffman, gestern im Kino)
Gerald Koll
Zazen-Sesshin (7)
Es gibt eine übermannende Müdigkeit, die mit Pranken in den Leib greift wie in einen Teig oder in schmutzige Wäsche. Das Walken dieser Müdigkeit im Zuber des Zazen setzt mit dem dritten, die Sitzung einläutenden Gongschlag ein und dauert fort bis zum nächsten Schlag. Er fällt vierzig Minuten später, um sechs Uhr und vierzig Minuten.
Erfahrungsgemäß kann eine Bomberstaffel innerhalb von vierzig Minuten eine Hauptstadt von der Größe Hamburgs oder Danzigs in Schutt und Asche legen. Gestern noch stieg Rauch aus den Kaminen der Stadt, heute ist die Stadt selbst ein Kamin mit zerrissenem Schamott. Die einzelnen Kamine sind nicht mehr zählbar, sie liegen am Boden übereinander. Schlafend rauchende Städte.
Zu zählen ist von eins bis zehn, wie ich erinnere. Beginne ich zu zählen, zähle ich zu lange, weit bis über zehn hinaus, ich müsste wieder bei null beginnen, ich müsste den Schlitten der inneren Zählmaschine mit Schwung und Schnarren nach links setzen. Doch dazu fehlt die Kraft, und dumpf zählt es sich weiter, manchmal bis achtundvierzig, und erschreckt rechne ich aus, dass von achtundvierzig Zähleinheiten mindestens achtunddreißig einem Wachschlaf zuzurechnen sind. Wahrscheinlich mehr. Vielleicht sechsundvierzig. Vielleicht mehr. Zählte ich aber nicht, schliefe ich unverzüglich.
So also schläft es sich mit offenen Augen, denn offen sind die Augen und nicht zu, sie sind auf Weisung des namenlosen Meisters viertel offen und in einem Winkel von 45 Grad auf den Boden gerichtet, auf die geschliffenen Holzdielen mit ihren Maserungen und Astlöchern. Wolkenbänder erstrecken sich dort, mit Fallschirmen dazwischen, Truppen von Fallschirmjägern …
19. Februar 2012 13:19Thorsten Krämer
Zazen in der Metro
Seit dem Morgen drehst du die Runden. Die Fahrer
kommen und gehen, und die Körper der Nachbarn
halten hinter deiner Stirn das Wärmebild
in Bewegung.
Das Öffnen und Schließen der Türen
wäre dein Mantra, bräuchtest du eines. Kein
Schweiß, kein Parfüm kann deine Aufmerksamkeit
halten. Der Abstand zur nächsten Station ist stets nur
ein Atemzug.
Das sind die Sätze, die später
das Unfassbare zu fassen versuchen.
Aber jetzt
ist da dieses Mädchen, das sagt: Du sitzt und
sitzt und sitzt, das ist alles was du kannst.
Ja, sagst du und öffnest die Augen.
*
für Gerald Koll
13. Februar 2012 15:46