Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (4/5)

4. Juni 2015, ein Donnerstag

Aktionismus: Aikido-Sesshin am Wochenende buchen. Bewerbungen schreiben. Mit dem Fotoapparat ausziehen, mit der S-Bahn rausfahren, irgendwohin, zum Ostkreuz. Dort eine verfallene Jugendherberge fotografieren. Leider nicht besonders gut. Plansoll-Erfüllung und heimwärts.

5. Juni, ein Freitag

Arbeit und Struktur: Meditation, Bewerbung, Foto-Ausflug. Mal bei Dr. Weiglein vorfühlen, ob eine Reise nach Papua-Neuguinea zu den kannibalistischen Baumhausbewohnern denkbar sei. Nachmittags Tempelhofer Feld, das ja im Moment die große Freiwiese Berlins ist. Die Fotos teilen sehr gut mit, dass ich überhaupt nicht weiß, was ich dort wollte.

Im Zug zurück in die falsche Richtung gestiegen. Schnell raus und gegenüber wieder rein, und da kamen sie auch schon, die getarnten Kontrolleure, kamen auch sehr direkt auf mich zu. Da sagte mein Sitznachbarin sehr forsch: ‚Mich brauchen Sie gar nicht zu fragen, ich habe nämlich keine Fahrkarte, weil der Automat nicht funktionierte.‘ Darauf musste sich der Kontrolleur natürlich erst einmal einlassen, musste gleichzeitig aber auch mich kontrollieren, der ich scheinbar höchst fahrig – weil in meiner emsigen Lektüre aufgestört – meinen ungültigen Fahrschein hochhielt. Und siehe: Es hat funktioniert.

15. Juli 2016 15:19










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (3)

2. Juni, ein Dienstag

Dass der 2.6.2015 ist, ist mir keine Selbstverständlichkeit. Ich habe kalendarisch die Orientierung verloren. Geografisch nicht. Aber ich bin auch die ganze Zeit zuhause. Außer heute morgen. Da war ich beim Bäcker, beim Kiosk mit Post-Shop und auf dem Spielplatz, um zu lesen. Las und schlief. Das leblose Arbeitslosenleben. Ist man offiziell arbeitslos, verkörpert man einen sozialen Mangelzustand. Ein Mensch, dem ein Arm fehlt, ist immerhin ein Einarmiger. Das ist mehr als ein Keinarmiger. Niemand nennt ihn einen Zweiarmlosen.

So eine Zeit verführt dazu, mit dosierter Selbstironie das Dasein als prekärer Geisteswissenschaftler zu beschreiben. Narzisstisches Klagebuchschreiben und dabei Henscheids „Vollidioten“ lesen. Aber da sind ja auch vertretbarere Pläne: in Nordkorea rumwandern; Baumbewohner auf Papua-Neuguinea besuchen, hin zum Titicacasee oder entlang dem Pacific Crest Trail. Läse sich gut in einer Biografie.

Kitty. Wenn ich sie ansimse, was sie so mache, kommt umgehend „Kuscheln“ zurück. Klar geht das – beim Aufwachen liegt oft ihr Smartphone noch in der Hand.

14. Juli 2016 07:56










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (2)

1. Juni, ein Montag

Dies ist also nach unzähligen Jahren der erste normale Montag ohne Arbeit, ohne die Filmübersicht, ohne die Ordnung der Papiere, die Anrufe beim Cinemaxx, das Warten auf die Programme und das Erstellen der Einträge. Nicht, dass ich es geliebt hätte. Aber ich habe mich daran gewöhnt. Es gab doch das Gefühl einer bezahlten Arbeit, also eines Wochenbeginns, der leidlich die Woche finanzieren würde. Das ist nun vorbei, da die Seite zum 1.6. eingestellt wurde, wie mir Ressortleiter Bockemühl Ende April telefonisch mitteilte.

Immerhin aufgewacht neben Kitty. Aber kein Sex. Sehr seltsam. Zunächst bekam Kitty ja gar nicht genug davon. Es wurde ja schon lästig. Immerzu Sex. Wie eine Prüfung. Nun, sehr plötzlich, ist dieser Quell versiegt, und Kitty möchte zunächst ihr Vater-Projektions-Problem lösen. Da findet nun seit Wochen, bestimmt zwei Wochen, nun rein gar nichts mehr statt. Erst zu viel, jetzt zu wenig – und das ist untertrieben. Außerdem ist da dieser erklärte „Kuschel-Freund Armin“, der sie dauernd anklingelt und auf dem Kitty besteht, und ich weiß absolut nicht, ob ich vor diesem Herrn irgendeinen Vorsprung habe und wohin das führen soll, wenn nicht in die allersinnloseste Irre.

Schnell die Hausaufgaben erledigen: Reserviert und klargemacht werden soll die anstehende Juni-Wanderung in der Sächsischen Schweiz mit Klemens, die die gescheiterte Mai-Wanderung mit Kitty kompensieren soll. Ochelbaude reservieren, Villa Anna reservieren. Außerdem: Zahnarzttermin, nachdem ich ja die kürzlichen Termine habe sausen lassen, weil der infragestehende Zahn partout schmerzfrei blieb – eben bis ich den Termin platzen ließ. Am 26.5. wäre der Termin gewesen, am 29.5. meldete sich der Zahn zurück. Nun muss ich bis Juli warten, denn vorher sind keine Termine frei.

Holte Kitty also Frühstück, und sehr artig strichen wir die von Doris zum Geburtstag übereignete Erdbeer-Rhabarber-Marmelade auf die frische Schrippe. Dann ein Paket abholen, ein Geburtstagspaket, das der faule Postbote, statt es im Hause abzuliefern, ins Postzentrum in die Schönhauser Allee spediert hat, was doppelt dumm ist, denn der Weg ist weit, und im Paket ist das Parzinger-Buch von Susanne, das ich mir ja auch gewünscht hatte, allerdings ohne zu wissen, dass Rainer mir es auch schenken würde. Nun brauche ich es nicht mehr, aber ich kann’s nicht zurückgehen lassen, denn im Geschenk steckt auch ein Brief von Susanne. Ich hab’s also doppelt. Und es regnet.

Weil es regnet, fahren wir in den Park und stellen uns unter den Baum, die Eiche, die ich ja in der Geburtstagsnacht auf Anraten Frau Hoppes umarmt hatte – als ich das  am Sonnabend Abend Irina erzählte, bog sie sich krumm vor Lachen. Unter der Eiche wich die etwas gereizte Stimmung zwischen Kitty und mir (sie fragt mich andauernd, was ich denke, und meistens denke ich höchstens Gedankensplitter; aber kaum, dass ich sie dann ausplaudere, macht sich Kitty den allerblödesten Reim darauf und versaut die Stimmung), man lehnte sehr schmieglich traulich, man ging sogar noch ein Eis essen, aber dann ging Kitty doch.

Deshalb dann ja auch kleinlaut in die Wohnung, dumme Emails checken und jene Emails, die die normale montägliche Arbeit betreffen, zuckend weglöschen. Dann zu Bette, gegen 13 Uhr. Schlechte Träume: von einem Räucherstäbchen, das abbricht und von dem ich argwöhne, es werde das Bett entzünden.

13. Juli 2016 13:23










Thorsten Krämer

Ein Sommerabend:
das Aufflattern der Motten
aus dem Biomüll.

13. Juli 2016 11:11










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (1)

29. Mai 2015, ein Freitag.

In einigermaßen gedämpfter Stimmung startete ich in diesen Geburtstag, obwohl ich immerhin neben Kitty erwachte. Aber was sollte er bringen in dieser allzu dummen Zeit, in der soeben die Einnahmequelle versiegte, die Zukunft offen bis leer, die Projekte ohne Zahl (nämlich null) und die Wohnsituation nur leidlich (Fortsetzung der Untermiete) gelöst ist? Nichts ist vorbereitet, keine Party, keine Einladung.

Kitty sagte: Lass uns laufen. Also gingen wir laufen. Ein guter Start, obwohl wir ja den Baum, den wir – eine dringende Empfehlung Frau Hoppes bei der vortägigen Sitzung bei Behandlung nach kinesiologischer und familienaufstellungstechnischer Methode – zu Mitternacht gemeinsam sehr inniglich und lange umarmt hatten, partout nicht wiederfinden wollten. Wohl eine halbe Stunde irrten wir dort im Volkspark Friedrichshain umher, bis wir ihn doch noch fanden, eine Eiche – einen Zweig nahm ich mir gleich mit nach Hause.

Dort wieder angelangt, zogen wir zum Frühstück aus, in die „Bekarei“, diese ja sehr lustige portugiesische Lokalität mit ihren nussigen und eiigen Gebäcken. Mittags also entschieden, doch noch ein Dutzend zu einem Picknick in den Park am Weinbergplatz einzuladen. Aber dann …

Kitty ihrerseits ging backen, denn mein Wunsch, die Fassbinder-Ausstellung aufzusuchen, war nun allzuweit von ihren Interessen entfernt. Also allein zum Gropius-Bau. Geradezu hindurchgerannt, denn nur eine Stunde war Zeit, um anschließend zu einer Lesung zu kommen. Im Schnelldurchlauf war klar: Vieles interessiert mich nicht, schon gar nicht die Fassbinder-Impulse im Werk der Nachgeborenen. Aber die Manuskriptseiten von eigener Hand, die Tonbandprotokolle für „Berlin Alexanderplatz“ (78 Stunden am Stück eingesprochen!), die Monitorwand mit dem früh gealterten – ja eher unappetitlichen Rossbärtigen -, dazu die frühen Bewerbungsschreiben beim dffb, seine Lederjacke, sein Breitner-Trikot, die Set-Fotos, all das warf mich doch sehr zurück in die längst verblichen geglaubte Faszination für diesen Energiemenschen, diesen unbedingten Mann.

Dann aber los zur Lesung des Herrn Jang, eines Nordkoreaners, der einstmals Hofpoet und wichtiger Mann im Propagandaministerium des Geliebten Führers war, bis er immer näher an diesen Geliebten Führer kam, sogar mit ihm die Gläser klingen ließ und dabei aber merkte, dass zwischen hochtoupierter Frisur und Plateausohlen ein sehr kleiner, ein sehr flacher Mensch übrig blieb, der Subjekt mit Prädikat verwechselte und gar nicht so charismatisch war, wie es die Doktrin vorschrieb. Da floh Herr Jang über einen Fluss und sah, dass in Südkorea die Vögel freier zwitscherten und der Himmel blauer war. Ob er, aus Nordkoreas Sicht ein Verräter, denn nun in Gefahr sei, wollte ich wissen. Er habe durch Südkorea Personenschutz, ließ mich Herr Jang wissen.

Fraglich, ob es gut ist, in ein Land zu reisen, dessen emotionale Kraft und Psyche darauf geeicht ist, entweder zu bewundern (den Geliebten Führer) oder zu hassen (den westlichen Gast). Wie soll da Begegnung funktionieren, nur weil man selbst die Ideologie außen vor lässt?

Dann also in den Park, bestückt mit vier Flaschen Sekt. Dort zunächst allein. Mit Rainer telefoniert, dessen Gratulation nach einigen Informationen über die letzten Ereignisse eher zu einer Kondolation wurde. Etwas traurig in den Himmel geschaut. Dann Ablenkung: Jascha und Luis waren schon da. Dazu kam Lucile. Später Klemens. Sektlaune. Sehr aufgeräumt. Ich als Zeitzeuge, der Fahrt aufnahm, um über Fassbinder und Schlingensief auszukünftlen. Was da alles hoch kam! Meine Zeiten mit Schlingensief, diesem Menschen zwischen Genie, Herz, Provokation. Sekt regt ja entschieden an. Regen schien zu kommen, kam aber nicht. Nur einige Tropfen. Man holte Döner. Man aß und spaßte sehr unverdrossen in die Dunkelheit hinein. Und dort, im Dunkel, bewegte sich ein Kerzenschein. Mein Verdacht – Das musste Kitty sein – erwies sich als richtig. Flankiert von Diesem und Jenem bahnte sie sich ihren Weg durch den Park, hin zu uns, zu mir, mit einer entzückenden Mandarinentorte, verziert mit Grün und Fußballtoren und Fußballspielern. Dazu ein Plakat mit ihrem legendären Hintern. Dazu einen silbrigen Abguss ihrer Büste! Wie nett das alles war, bis wir uns sehr glücklich gegen Mitternacht voneinander, und Kitty & ich gingen nach Hause, schliefen bald.

Einziger Nachteil: Irgendwann meldete sich unten rechts ein Zahnweh. Dort, wo er sich die ganze Zeit, als der Termin bevorstand, nicht gemeldet hatte. Jetzt ist der Termin verstrichen, und der Zahnweh ist wieder da. Hält sich zudem irgendwie bis zum Zeitpunkt der Niederschrift (30.5.2015, 20 Uhr), und das ist nun ein wirklich unfassbarer psychosomatischer Unfug. Aber sei’s drum.

12. Juli 2016 11:40










Hendrik Rost

Die Luft entweicht

Das Halbfinale der EM sehe ich mir allein an, die Kinder schlafen ermattet nebenan, ihre Mutter liegt fiebernd ebenfalls im Bett, Kimmich steht ganz weit außen und ich spüre meinen Herzschlag im Hals, auch ein Kratzen im Rachen, Salbeitee. Den Tag über hat es nicht geregnet, um heute wieder zu schütten. Mir fehlt noch Teil VI der Sonette aus der Reihe „Fahrradcharismatiker“, mit denen ich die Eindrücke aus drei strammen Jahren des Fahrradpendelns in Hamburg verarbeite. Da, wieder eine sehenswerte Ballstafette. Ich bleibe zuhause und kümmere mich. Ein Tag im Home Office, merke ich, ist wie eine Woche im Büro: Kinder zur Schule begleiten, einkaufen, kochen, arbeiten, Kleinkind trösten, arbeiten, Kleinkind füttern, Kimmich auf Özil, Kinder von der Schule holen, Fragen beantworten (wenn findest du besser, Matthäus oder Messi?), essen, arbeiten, sich reinsteigern wegen Schweinsteiger, Dateien retten, die Kleinkind mit einem Patschen auf die Tastatur in den Orbit gejagt hat, Teil VI planen im Hinterkopf („dies sind keine Klagen, sondern das Glück, in der Ewigkeit nur eine kurze Strecke ableisten zu müssen“) … Irgendwann halte ich es nicht mehr aus, stelle den Fernseher auf leise und bereite Frikadellen in der Küche für den nächsten Tag. Sie simmern herrlich im heißen Fett, plötzlich steht es still und leise 0:2 und mir fällt ein, dass Teil VI aus jeweils zwei Zeilen der ersten Teile bestehen wird plus zwei zusätzlichen Zeilen, dem schließenden Couplet. Kleinkind stolpert, Boateng patzt. Mit dem Ausscheiden der Mannschaft sind die Halsschmerzen verschwunden. Ach übrigens, wer nicht findet, dass es vermessen ist, immer nur auf Leistung und Größe zu schielen, der leiste sich was und werde groß. Kinder wachen auf, das Fieber sinkt. Und dann fängt die Arbeit wieder, endlich an.

8. Juli 2016 19:50










Andreas H. Drescher

Chitin

Hier
Genau hier
Springt dir der Grashüpfer
ein Luftloch hin

Versuch es einmal
Sprich das mit
Jede Silbe die das aus
Lässt

Vierfach massierte Wände
Bis sich die Stille als
Chitin um d
Ich versammelt

4. Juli 2016 22:17










Mirko Bonné

Einhelligkeit der Dohlen

Fast haben wir es gesehen, das Licht,
ein Licht, wie es den Blitzen vorausgeht,
fast war es ein leuchtendes Stocken, oben
am Himmel, über den es da so zuckte,
mit seinem magnetischen Laub
fast ein elektrisches Geäst.
Als die Stille und die Ruhe dann
fast wiedergekehrt waren, haben wir sie
gehört, nahezu alle, die Vögel, die Dohlen,
fast glaubte ich, es werden Krähen sein,
nur wenn, dann wie zersprengte, denn
fast wirkten sie einzelgängerisch,
wie sie in Pulks, so als wäre
oben in kühler Luft ihr Schwarm
fast zerrieben worden, herabtrudelten
ins Tal mit dem Gasthof zum grünen Baum,
fast als hofften sie bei uns Zuflucht zu finden,
ja als meinten sie uns! Wir blickten einander
wie Liebende in die Augen. Ergreifend war,
fast zu schön, die Innigkeit mit den Dohlen,
Einhelligkeit mit ihrem schwarzen Blitzen,
das zerplatzt war jenseits der Blicke,
fast aber war es Reden mit uns,
das Licht, die Stille, der lange Tag.
Fast war er zu Ende, und es war gut,
zum Schluss beinahe glücklich,
fast ein glücklicher Tag.

*

1. Juli 2016 12:42










Hans Thill

Stein in Etenkoben

30. Juni 2016 14:03










Hans Thill

Der tätowierte Tisch

die beschriebene Apfelhaut. Ich träume den Windungen
der Algen hinterher, gekentertes Pferd  mit Schwertern,
wo andere Flügel tragen. Ich arbeite mit dem Fleiss
 
der Sonne, die im Garten untergeht, ich bin ein Nudist,
mit seiner Gabel aus Sand und Silber, Taucher im
flüssigen Meer! Jetzt kommen die hyperaktiven
 
Mungos, dann die furchtsamen Zitterwale, dann die
Kamikazekarpfen. Einst sprach ein Brite in Brocken
zu den Troerinnen vom Ursprung der Stille,
 
es war die Rede vom Dosenöffner an der Schläfe.
Ein Gebüsch fiel um und der Rost schlief nicht
und die Grammatik
 
schlief nicht. Ich schichte Backstein aus Sprachmehl
auf Backstein aus Silber und Sand. Das Geld
gefriert in der Hose des Eremiten
 
der Bernstein auf Bernstein baut, oh ihr lauten Lebenslehrer,
zeigt mir den Kern in der Tischplatte des Apfels, ich
bin ein gebissenes O-Wort mit Sehnsucht
 
nach Gebäck

Edenkoben 29.6.2016: Poesie der Nachbarn: Serbien
 

Begrüssungsgedicht für
Predrag Bogdanovic Ci, Vojislav Karanovic, Ivana Milankov, Ana Ristovic, Miljurko Vukadinovic, Jovan Zivlak, Jan Krasni, Marcel Beyer, Nadja Küchenmeister, Kerstin Preiwuß, Ilma Rakusa, Marcus Roloff, Michael Speier

30. Juni 2016 13:37