Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (42/43/44)

28. Juli 2015, ein Dienstag

Juckende Stellen schon seit Tagen. Wahrscheinlich Ungezieferbisse. Flöhe? Mein Bett ist ein sozialer Ort.

Heute abend kommen drei Aikidoka zum Essen, ich koche – wie fremd schon allein der Gedanke! – ein Drei-Gänge-Menü mit Tomatensuppe, Bratkartoffeln, Eis-Himbeer-Baiser. Dessert ist einfach. Schwieriger ist die Tomatensuppe. Schon das Wort „Dünsten“ muss ich googeln. Nicht eben haute cuisine, die Tomatensuppe in der Schüssel zu lagern, in der sonst der Putzlappen liegt …
… Nach Mitternacht: glücklich abgespeist. Durch den Schleier möglichst lässiger Geschäftigkeit sah ich die Ströme der Gespräche fließen und dachte: Ja, so muss Leben sein.

29. Juli, ein Mittwoch

Auf einem Bahnsteig telefoniert eine kleine junge Frau. Sie trägt Jogginghosen und sagt sehr energisch, sie sei „zunächst einmal sauer auf die … Jenny Fotzenschön …“

Vierter und bitte vorerst letzter Termin bei Heilpraktikerin H. (die sich selbst lieber als Seelenheilerin bezeichnen würde). Sie begegnet meiner Skepsis an der Methode mit Hinweis auf naturwissenschaftlich belegbare Erkenntnisse über morphogenetische Felder (ererbtes Wissen innerhalb genetisch verbundener Gemeinschaften) und verweist auf Rupert Sheldrake als wissenschaftliche Referenz. (Das recherchiere ich später und sehe: Laut Wikipedia sind Sheldrakes Hypothesen über das „Gedächtnis der Natur“ von der etablierten Wissenschaft als pseudowissenschaftlich abgelehnt worden; zu den wenigen Befürwortern zählt Bernd Hellinger, der die Familienaufstellung als psychotherapeutische Methode prägte und seinerseits umstritten ist.) Meine Einwände gegen die jüngste Auswahl der während unserer Behandlung heranzitierten Engel entkräftet Frau H. mit souveräner Leichtigkeit: Dies alles seien eigentlich lediglich Energiekörper, die ins Totenreich begleiten, je nach Kultur unterschiedlich ausgestaltet. Es hätte auch ein Bär oder ein halb-skelettiertes Wesen sein können, aber solche Wesen seien eben eher in anderen Kulturen tätig, hier nähme man Engel. Frau H. kann auch mit gänzlich nicht-scharlatanischer Nüchterneheit von ihrer Erleuchtung und ihren Erleuchtungsmomenten sprechen, inklusive ihrer großen Skepsis an den Mitteln der Sprache, die an solchen Bereichen (im Jenseitigen) nichts mehr greifen könne. Überdies gelte es auch in meinem Fall, das dauernde Festhalten und Kontrollieren aufzugeben. Es würden noch härtere Kämpfe auf mich zu kommen als bisher: eine noch ärgere Gegenwehr von Ego und Persönlichkeit. Da würde ich durch müssen.
Im nächsten, kinesiologischen Behandlungsschritt hält Frau H., wohl mit Rücksicht auf meine methodischen Zweifel, den „heiligen Raum“ sehr abstrakt: Er ist nicht bewohnt von Engeln, sondern von Lichtkörpern. Mir ist, als wäre der heilige Raum gerade saniert worden.

30. Juli, ein Donnerstag

Wie mich das drängt, diesen Tag nach dem H.-Tag Revue zu passieren. Morgens eine Mail vom Sensei, einsetzend mit „Lieber Gerald, ich liebe dich, danke für deine Mail“ – wann hat es so etwas schon gegeben? Dazu ein überaus milder Email-Verkehr mit Kitty, der dann einvernehmlich ermüdet und einschläft. Zur Eiche. Die war warm.

Lade J., den wilden Siegfried, zum Besuch des Jüdischen Museums und der Ausstellung „Gehorsam“ ein, siehe: Er willigt ein und hält es aus. Was für ein therapeutischer Tag. Welche Droge hat Frau H. da eingeträufelt? Und wann werden die Mühlsteine wieder ihr Mahlwerk aufnehmen?

7. August 2016 10:52










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (39/40/41)

25. Juli 2015, ein Sonnabend

Der schönste Tag der Woche: morgens freies Training. Viel ushiro-ryote-dori. Wenn keine Verletzungen auftreten, dürfte alles geschmeidig ablaufen bei der Prüfung.

Danach mit dem Fahrrad zum sogenannten Berliner Fotomarathon; mit dem Übertreten der Schwelle flutet mich das Gefühl, kaum eines der Fotos könne mich interessieren und ich sei lediglich dort, um ein selbstgestecktes kulturelles Wochen-Soll zu erfüllen. Speditives Checkern, frühe Flucht.

Wylers Sackgasse (USA 1939) – Humphrey Bogart vor seinem großen Ruhm. Anrührend: Er gibt dem Gangster Seele, und Wyler dreht ein wirkliches Sozialdrama mit einer Prise Gangstertum. Eine hübsche Entdeckung, auch wenn Gram und Grübeln nur für Momente verschwinden.

26. Juli, ein Sonntag

Das allsonntagliche Telefonat mit den Eltern. Vati kündigt an, er werde mir seine Familienchronik noch mal zur Durchsicht zusenden (wie oft denn noch?), aber es habe keine Eile, ich möge danach gehen, „wie es meine Geschäfte zulassen“. Innerlich sofort aufgebracht. Ich bin Wunde. Man hört: Schwester U. verzeichnet Arthrose-Befund in den Knien. Man weiß: Schwester S. mit rheumatischen Beschwerden. Man ahnt: marodes Erbmaterial, demnächst verschrottet durch die familiale Lust an Hoch-und Überdruck.

Tee-Treffen zur Dojo-Sache bzw. zu J. und seinen Entgleisungen: Ein Aikidoka-Zirkel findet sich ein im Garten des Sensei, debattiert mit dem Störenfried und über ihn. Auf dem Heimweg Unbehagen trotz Einsichten des Friedlosen über seinen Tunnelblick. Unbehagen über Debattierverhalten, über Diplomaten, die ihre Verständnissinnigkeit demonstrieren mit Einleitungssätzen wie „Mich hat sehr berührt, wie …“, was mich sehr unangenehm berührt. Aber letztlich: die Arbeit ist getan. Ab jetzt: Urlaub davon. Was J. damit anfängt, ist seine Sache.

27. Juli, ein Montag

Frühstück mit Verleger Z., „meinem“ Verleger (haha: ein Buch!). Der ist ja nun charmant und beredt und lustig gesegnet mit vielerlei Wissen und Interessen. Vielleicht aber werde ich langsam blöde. Ich vermisse eine gedankliche Schärfe bei mir, ein pointiertes Denken. Ich tappe recht oft im Nebel halber Gedanken und hoffe auf halber Strecke, irgendwo heil herauszukommen. Auch verhehle ich ihm gar nicht, dass im Augenblick nicht viel los ist mit mir. Das könnte man noch als Klarsichtigkeit verbuchen, bringt aber natürlich nicht viel.

6. August 2016 17:10










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (37/38)

23. Juli 2015, ein Donnerstag

Ruheloses Gehen im Kiez-Karree. Spazieren sollte ich, Glück tanken und mit scharfen Blicken den Passanten ihre Gesichter ablösen, um sie einzukleben ins Album daheim, doch ich erledige lediglich das Pensum, als habe man mir das Gehen verschrieben.

SMS-Verkehr mit Exfreundin M. – wie viele Jahre haben wir uns nicht gesehen – wirklich acht? Wie die wohl aussieht?

Post vom Amt: Verlangt werden Nachreichungen, die meinen Mehrraumbedarf belegen. Erneut unliebsame Befriedigung über behördliche Zumutung, über die ich mich empören könnte und meine Zeit in einen staatsbehördlichen Dienst stellt.

Zahnarzt: Krone zum Dritten. Beim Einsetzen empfindlich. Hoffentlich werden die nächsten Tage gut, sonst sofort wieder hin, bevor man’s nicht wieder loskriegt.

Auf der Rückfahrt vom Aikido erhebt sich dringlich der Wunsch, auf der Jannowitzbrücke in den Sonnenuntergang zu schauen. So tu ich denn, nüchtere aber sofort aus und fahre eilig weiter.

24. Juli, ein Freitag

Gott als blinder Fleck in der Wahrnehmung. Dieser Gedanke erschien mir beim Aufwachen so niederschrifttauglich, während der Niederschrift bereits nicht mehr.

Filmabend der „Japanischen Filmreihe“ mit den Aikidoka: Seom – Die Insel – der schmerzerfüllte Film von Kim Ki Duk. Kaum jemand hält ihn aus, viele machen dem Innendruck Luft und lachen und geben Kommentare, um sich diesen Angriff vom Leib zu halten. Neben mir sitzt Frau S. auf Tuchfühlung, was ich einerseits reizend finde, was ich andererseits aber gar nicht reizend finde. Es wäre absolut idiotisch, in diese Richtung zu liebäugeln.

5. August 2016 14:51










Sylvia Geist

Floralsatire

Hinterher fanden sie mich halb versunken neben einer
Parkbank, Dreck im Pelz und zwei rote Nelken in den Augen.

Der andere kannte mich nicht, aber morgen beweisen sie,
ich war Spielmann, Wolfsbändiger, bockböser Nachtschaden,

am Ende hungernder Eintänzer. Doch selbst versetzt mit Alkohol
und Salz bin ich ein Brutkörper, voller Leben. Es hängt an mir.

Mädesüß sprießt es in den Hotspots der inneren Besichtigung,
blüht im Thorax auf, sprengt das Cranium, es wimmelt

wie von Sommerschnee in meiner aufgesägten Laube, wie früher,
als ich noch mit Löwenzahn eroberte. Eine Menge habe ich

auch mit Blumensträußen erreicht, die ich irgendwohin warf,
und Juli kam mit Rose, dann Iris, Jasmin, Erika usw.

Von meiner Art sind nicht mehr viele. Hundeplätze grassieren und
Inkasso. Und die Besserungsphrasen an kranken Betten, Nelken –

im Ernst, meine Jagd ist heut ein Comicstrip auf altmodischen Vasen,
denen sie die Mäuler mit Nelken stopfen. Für mich keine.

noch mal für Arne, nach dem Gedicht „Der Nelkenherr“ von Rautenberg

5. August 2016 10:47










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (34/35/36)

20. Juli 2015, ein Montag

Das zwickende rechte Knie mit seinem Haarriss im Miniskus. Nach Aikido-Lehrgang und Wanderung sollte ich ran, so kann das ja nicht bleiben.

Beiße mich durch Wittgensteins Tractatus logico philosophicus, seine sprachkritische Grundlagenarbeit, die die Grenzen des Diskutablen definieren möchte, so weit ich verstehe. Aber ich verstehe nur manches. Mir scheint, hier werde Metasprachliches und Meta-Denkliches ausgeklammert, was immerhin schützt vor haltlosen Spekulationen, aber eigentlich weiß ich, dass ich zu wenig davon verstehe, um mit diesem logischen Geist zu reden.
So viel meine ich zu verstehen: dass Wittgenstein in seinem Rigorismus stur gegen Psychologie und Philosophie und deren Aus- und Höhenflüge angeht, indem er sagt, dass „Werte“ und „Ethik“ und „höherer Sinn“ nicht beantwortet werden können, weil sie nicht Teil der Welt (der Welt der Logik und Elemente, zu der eben auch Sprache und Denken gehören) sind. Damit verbietet sich auch die Frage danach (denn die Frage selbst ist ja Teil der Welt und der Logik und der Elemente). Und das wiederum führt natürlich zu einer gewissermaßen resignativen Begrenzung unserer Zweifel, der ja immer etwas Anmaßend-Höhenfliegerisches hat.
Und leider muss ich dabei abermals bekennen, dass schon die hiesigen und diesseitigen Fragen/Antworten der Logik zu hoch für mich sind. Ich überfliege all die Logarithmen, eigentlich untergrabe ich sie eher, schließe die Augen davor, um sie beim nächstverständlichen Satzes wieder zu öffnen.

All die Bücher, die ich irgendwann einmal unbedingt gelesen haben wollte … Ich lese zu viel. Ein passives Lesen ohne eigenen Schreibimpuls. Bestenfalls wird diese Zeit später als verplemperte Zeit verklärt. Ich hätte Zeit für soziale Arbeiten, aber ich nutze sie nicht. Begonnen mit Dickens‘ Bleak House – sehr vielversprechend.

21. Juli, ein Dienstag

Unterlagen scannen, zur Mieterberatung – ein lähmender Zeitaufwand, und doch: fast befriedigend, aktiv und im Sinne von Zukunft tätig zu sein.

Nach Aikido (übrigens sehr schöne Einheiten mit C.) noch einen William Wyler (Die besten Jahre unseres Lebens) und einen Preminger (Laura) gesehen. Sucht nach Serie und Struktur.

Kitty will und will nicht aus meinem Kopf. Was sie wohl macht ??? Na, was wohl! Bitter, bitter.

22. Juli, ein Mittwoch

Weiter mit Behördenkram: scannen, nochmal scannen, dreimal scannen, von morgens bis zur Mietbewerbung um 15:30 Uhr, weil Fehler unterlaufen und alles fünfmal länger dauert als geplant und nötig. Glück für diejenigen (wie mich), die ja auch sonst nichts Besseres zu tun haben.

Zwischendurch mit Aikidoka R., der hier im Kiez seine exquisiten Scheren feilbietet, einen Kaffee getrunken und gemerkt, dass man mit allen Aikidoka nach kürzester Frist nur über Aikido sprechen kann.

Ex-Freundin M. erscheint nach Jahren (?) auf der Bildfläche, zumindest per sms und am Telefon. Erotische Erinnerungs-Reflexe, gefolgt von ebenso reflexhafter rationaler Zügelung.

Die Ungetreue von Preston Sturges (1948) – der erste wirklich langweilig-blöde Film meiner 40er-Serie, eine Komödie um einen eifersüchtigen Dirigenten mit einem chargierenden Rex Harrison.

4. August 2016 10:28










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (32/33)

18. Juli 2015, ein Samstag

T+N laden mich für den Abend zum Spaghetti-Essen ein. Zuvor hatte ich T. auf Nachfrage gesteckt, dass es mit Kitty vorbei sei. Ich sage ab, denn es zöge mich recht sehr ins Kino … haha! Es zieht mich nirgends hin. Es zieht mich, als hätte ich eine dringende Verabredung, in meine grämige Grübelei.

Die zwei Mrs. Carrols gesehen – typischer film noir meiner Bogart-Reihe. Letztlich ein recht simples Theaterstück, aber die Stilisierung hat natürlich etwas sehr Feines an sich.

19. Juli, ein Sonntag

Zwei Träume nach 6 Uhr und erfolgter Morgenbettlektüre, also fast schon keine richtigen Träume mehr, sondern Halbwachträume.

Im ersten gehe ich in die Küche, die etwas anders aussieht als meine. Die Gardine weht. Dahinter ahne ich, ohne dass ein Schatten erkennbar wäre, einen Mann: Inio Asano, der Mangaka (dessen neuen Manga ich ja auch zuvor gerade in der Wachphase gegen 6 Uhr gelesen hatte). Und ich denke: Boah, Inio Asano in meiner Wohnung! Und ich spreche ihn an.

„Asano?“

„No.“

„Inio?“

„No.“

Es stellt sich heraus, dass es gar nicht Inio Asano ist, oder der Mann zumindest nicht zugibt, Inio Asano zu sein, aber auf jeden Fall aus seiner Wohnung musste und nun hier ist. Das ist dann ein wenig enttäuschend.

Zweiter Traum: bei Heilpraktikerin H. Die sieht im Traum etwas besser aus als im Original: jünger, blond, eigentlich völlig anders. Worüber wir reden, ist mir gar nicht so klar, außer, dass sie mir verrät, dass Freund J. neben L. auch eine andere Frau habe („sie hätte kommen lassen“) und sich dabei eins gelacht habe … Zwischendurch gehe ich in H.s. Küche und schmiere mir ein Nutella-Brot (was natürlich eigentlich nicht infrage käme, jedenfalls nicht in der Praxis von Frau H.), und als ich zurückkehre, sehe ich, dass die blonde jüngere Frau tatsächlich gar nicht Frau H. ist, sondern jemand anders. Und diese Frau möchte einige Fragen klären, zum Beispiel, wann ich wiederkäme (einen neuen Termin lehne ich ab), und dass ich für die Behandlung meine Hose ausziehen müsste. Wieso denn plötzlich die Hose?, frage ich. Aber ihre Antwort kann ich nicht verstehen, denn der Staubsauger ist furchtbar laut (wahrscheinlich außerhalb des Traums die Entlüftungen im Hinterhof). Jedenfalls lege ich mich halb über den Tisch und bitte die Blondine, lauter zu sprechen. Sie lässt ihre Kollegin kommen, um nachzuweisen, dass sie sich in ihrer Lautstärke gut verständigen können, aber ich sehe der Kollegin an, dass sie die Blondine auch nicht versteht. Sie geht hinaus, und mir kommt mir die Blondine immer verdächtiger vor. Ich folge ihr, sie ist aber schon im Mantel und im Begriff zu gehen. Ich bitte sie, sich künftig bitte höflicher zu verhalten und packe sie am Arm. Darauf kehre ich zurück, doch diesmal ist sie es, die mir folgt. Vor der Tür zum Behandlungszimmer drehe ich mich um, sie lächelt mich an, und wie als Retourkutsche packt sie mich nun an den Ellenbogen, doch ich winde meine Arme heraus, als handle es sich um eine Aikido-Technik.

3. August 2016 08:25










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (30/31)

16. Juli 2015, ein Donnerstag

Wie sehr ich inzwischen dieses Tagebuch liebe. Es protokolliert meinen Niedergang. Vielleicht heroisiert es ihn bzw. schreibt vor, was ich hier zu beschreiben glaube. Jeder richtet sich nach dem Wort, das er über sich abgibt.

Auffällig, wie selten es mir derzeit gelingt, die richtigen Worte zu finden. Sie schüren Unmut und verderben die Absicht. Heute, beim Bäcker, stellte eine Verkäuferin zwei Löffel in meinen Kaffee und rieb sich den Bauch, als ob er krampfe. So warm wie möglich sagte ich amüsiert: „Jetzt haben Sie mir sogar zwei Löffel in den Kaffee gestellt“, worauf die arme Frau eine Entschuldigung dahinstotterte, worauf ich wiederum in hocheilendster Beschwichtigung sorglich mich erkundigte: „Ist Ihnen nicht wohl?“ Sofort erstarb alle Unterhaltung in der Bäckerei, als wittere man den grämigen Kunden, der wegen eines überschüssigen Löffels persönlich beleidigt. Nun stammelte die Verkäuferin erst recht und alles war nur noch peinlich.

Nietzsche lässt Zarathustra predigen: „Ihr haltet es mit euch selber nicht aus und liebt euch nicht genug: nun wollt ihr den Nächsten zur Liebe verführen und euch mit seinem Irrtum vergolden.“ (S. 147)

Im Nebenan im Hause fächelt man gnadenreiche Güte über meine ungebilligten offenen Briefe: Es werde Zeit vergehen, man werde vergessen. Was sie keineswegs vergessen wird, wird sein, dass sie vergessen wollte. Sie wird im Gedächtnis verwahren, dass sie es war, die verzeiht.

17. Juli, ein Freitag

Um 8:15 beim Zahnarzt. Kronen-Einsatz, 2. Versuch. Empfang mit der Mitteilung, das Labor habe mit dem letzten Abdruck nicht arbeiten können. Daher werde nun ein neuer angefertigt. In einer Woche folgt der 3. Termin.

Beim Amt reiche ich Unterlagen auf Erteilung eines Künstler-Wohnberechtigungsscheins nach. Die Frau am Schalter ruft ihrer Kollegin vis-à-vis zu: „Künstler-WBS? Noch nie gehört! Du?!“ „Nee!“ Sie prüft die Unterlagen: Der zuständige Sachbearbeiter hatte, obwohl er das richtige Formular von mir ausgehändigt bekommen hat, das Falsche angekreuzt, nämlich: Antrag auf Wohngeld. Ich ahne Böses. Auch, weil ich irgendeinen Mietvertrag vorweisen muss, aber mein Hauptmieter sich drückt, mir den erbetenen Mietvertrag zu schicken. Leider. Da hätte ich in der Vergangenheit mehr hinterher sein müssen, statt naiv auf Vertrauen zu setzen.

Beim Aikido hat Gerd Sensei mich zum ersten Mal nach vorn geholt – es war keiner der Stamm-Ukes da, so dass die zweite Garde zum Zuge kam. Und sofort: Gerd karikiert Gerald als Stein. Dennoch genossen.

Sehr schön: Der Schatz der Sierra Madre (USA 1947) mit Humphrey Bogart als Bettler in Mexiko, den die Goldsuche zum gierigen Knilch verwandelt – eine unübliche Rolle, die Bogart mit Lust am Ekel füllt.

2. August 2016 11:25










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (27/28/29)

13. Juli 2015, ein Montag

Gestern Abend legte ich noch eine der alten VHS-Kassetten ein: Der versteinerte Wald, ein Film von 1935 mit Humphrey Bogart. Die Hauptrollen spielen Bette Davis und Leslie Howard: sie als Tochter eines Tankstellenbesitzers in der Wüste Arizonas mit Vorliebe für Francois Villon; er als desillusionierter Tramp und verkrachter Schriftsteller. Zusammen sind sie Geiseln eines ausgebrochenen Sträflings (Bogart). Eigentlich ein Kammerspiel, das sehr selten draußen ein paar Pappkulissen bemüht. Sonst lässt es die Menschen reden: über Poesie, Weltentwürfe, über Träume und Visionen und deren Verlust, über das Dasein nach dem großen Krieg. Man redet über Weltentwürfe. Ein sehr seltsamer und schöner Film von Archie Mayo. Und allein der Titel!

Was mir gestern beim Rasieren auffiel: Jetzt ist die Zeit gekommen, in der ich mir nicht mehr gefalle. Lange Zeit hing ich dem Traum an, dass die Zeit meinem Äußeren zuspiele: Gesicht markanter, Körper kräftiger. Jetzt wird die Fontanelleninsel größer, ein Streifen geweißter Haare liniert den Hinterkopf, die Frustration gräbt sich in die Gesichtszüge. Ich werde verbittert, und das sieht man. Wie gut ich mich erinnere an jenen Morgen vor einigen Wochen beim ersten Augenaufschlag im Bett: mit was für einem angewiderten Seufzen Kitty sich wegdrehte. Erwachen.

14. Juli, ein Dienstag

Gestern Abend legte ich wieder eine der alten VHS-Kassetten ein: wieder mit Humphrey Bogart, diesmal Gangster in Key Largo, ich könnte mich daran gewöhnen.

Mutti lädt ein zum Kurzurlaub in Ahrenshoop. Schrecklich, wie ich ihnen jetzt auch noch Kummer bereite. Ich wäre gern derjenige, der den lieben Alten unter die Arme greift. Mist.

Beim Zahnarzt. Die Krone – – – passt nicht. Sie wurde offenbar schlecht geschliffen. Der einzige Trost für diesen Termin bestand darin, dass es danach vorbei sein würde …

15.7.2015, ein Mittwoch

Gestern Abend legte ich wieder eine der alten VHS-Kassetten ein: wieder mit Humphrey Bogart, diesmal Abenteuer in Panama – Detektiv-Spionage um den Angriff auf Pearl Harbour mit Bogart als eine Figur namens Rick, verliebt in eine Frau namens Marlowe – da kommt einiges zusammen. Plötzlich haben mich diese 40er Jahre wieder. Heilfroh, meine VHS-Sammlung nicht verschrottet zu haben.

Schweigetag. Bis zum Nachmittagstelefonat mit der Mieterberatung bestanden meine Wortmeldungen aus „Gern“ (auf die Frage beim Bäcker, ob es ein Latte Macchiato sein darf), dazu „… und ein Laugen-Croissant“, beim Herausgehen ein „Hey“ (an C., der dort saß), dann mittags „eine Hühner-Crème, kleine Portion, bitte“ (in der Suppenküche), und im Park ein gesummtes „Slow down, you move too fast“, versehen mit einigen unscharfen Gedanken an verflossene Aussichten mit Meg und Amerika.

Ja, im Park. An „meinem Baum“ gelehnt, eher wohl ein Gefallen für Frau H. Die Energie-Verschmelzung halte ich für Firlefanz, der die Intelligenz beleidigt und überdies meine mühsam erarbeitete Emanzipation von den Ansprüchen religiöser Doktrinen.

Im Park die „Ballade der Typhoid Mary“ gelesen. Anrührend. Ich kann mich gut identifizieren mit diesem Mädchen, das ungewollt eine Typhus-Epidemie nach New York einschleppte: ob man will oder nicht, für die Anderen ist man eine Pestratte.

Nach dem Training zufällig D. getroffen und spontan auf 1 1/2 Bier in ein Gartenlokal spaziert. Das war nett.

1. August 2016 10:44










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (25/26)

10. Juli 2015, ein Freitag

Vatis Familienchronik zum 952. mal korrekturgelesen, diesmal nur noch auf Rechtschreib-Fehler, nachdem wir inhaltlich ja irgendwann an einen toten Punkt gerieten. Er nimmt lediglich meine Kritik zur Kenntnis, dass er bzgl. der NS-Vergangenheit seines Vaters eine fragwürdige Entschuldigungsstrategie betreibt. Immerhin schön, dass wir darüber den Dialog aufrechthielten.

12. Juli, ein Sonntag

Gestern das Aikido vorverlegt, dann schnell nach Weddelbrook zum Firmenjubiläum von Schwager W. bzw. zum Familientreffen und im Anschluss zu Mutti und Vati nach G. Die ganze Zeit innere Beklommenheit. Ich bin der steinerne Gast, der tote Gast, der abwehrend auf Fragen nach seinem Befinden reagiert. Der herzlich willkommen ist, aber mit dem niemand etwas rechtes anzufangen weiß, weil er nicht richtig dazugehört. Jeder weiß oder ahnt: keine Partnerschaft, kein Job, gefährdete Wohnung, keine Perspektive. Ein zerstobener Traum von eigener Familie und eigenen Kindern, eine in Stücke gerissene und zerfetzte Zukunft. So jemand ist sozial kaum noch unter den Lebenden. So jemand ist da, obwohl er nicht da sein sollte.

So jemand geht mit seinen Eltern am Kanal entlang und spielt mit ihnen Canasta (und verliert). So jemand fährt im Auto zurück nach Berlin und würde gern weinen, kann es aber nicht. Und er denkt die ganze Zeit an eine Niederlage nach der anderen. So jemand denkt an K. und wie er sein Liebesreservoir ausschöpfte, an A. und ihren Erdgeruch. Und an Meg und an Kitty. Und er denkt an Revanchen bei jenen, die ihm schaden. Und denkt daran, dass das Darandenken schädlich ist und ihn kaputt machen wird, aber die Gedanken prasseln stärker als der Regen, und das Hirn hat keinen Scheibenwischer.

31. Juli 2016 20:07










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (22/23/24)

7. Juli 2015, ein Dienstag

Verstohlen klicke ich auf facebook, um zu sehen, ob Kitty etwas schreibt. Ich Idiot. Vielleicht noch idiotischer: Nach dem Sterbe-Kapitel im „Tibetanischen Buch vom Leben und Sterben“, in dem die „bedingungslose Liebe“ eingefordert wird, schreibe ich Kitty eine sms so ganz im Stil des „Loslassen-Könnens“ mit allen beschämenden Nebeneffekten verhohlener Hoffnung. Völlig heillos.

8. Juli, ein Mittwoch

Auf Seite 634 des Prometheus-Buches über die Entwicklung der Menschheit wird mir erstmals klar, dass das Wort „protourban“ nichts mit Turban zu tun hat, sondern mit proto-urban. Oh Mann!

Um 14:30 Uhr Zahnarzttermin anlässlich der Vorbereitung einer Krone. Eine Stunde im Stuhl. Schöne Spritzen heutzutage: mit kleinen zielgenauen Stichen wird das aktuelle Umfeld betäubt, ohne dass man sich hinterher dauernd auf die Lippe beißt und sabbert, ohne es zu merken. Zahnarzt Schneider schrubbt aber doch recht schmerzhaft, denn es sei Karies vorhanden, der, sagt er, seine Gifte manchmal sehr dauerhaft in den Nerv entsende, selbst wenn der Karies selbst schon nicht mehr da sei. In einem solchen Fall stünde eine Wurzelbehandlung an, die Chance stünde 70:30 (wirklich so herum? Ich hätte nachfragen sollen), aber wir sollten guter Dinge sein, dass es dazu nicht kommen müsse. Das wird sich in den nächsten Tagen zeigen. (Gerade jetzt ziept es wieder!)

Nachricht von Kitty, gegen 16 Uhr: „Wir können ja Freunde bleiben, wenn du willst“ Auch das noch!

Nach Aikido in die Mieterversammlung. Und tatsächlich kommt es wie geahnt: Der Vorstand bietet mir eine 40-qm-Whg im Erdgeschoss an, die ich ablehne. Er bietet eine 48 qm-Whg in der Immanuel-Kirch-Str. an, worauf ich einwende, dass ich, wie gesagt, bislang in meiner 65-qm-Wohnung lebe und arbeite, und schwerlich den ganzen Kram in 48 qm unterbringen könne. Daraufhin wird umgehend meine Position als Untermieter und insofern gar nicht Berechtigter irgendeiner Umsetzwohnung ins Feld geführt. Diese Wendung hielte ich, sage ich, für schäbig, worauf der Vorstand darauf hinweist, dass die Genossenschaft zwar alles dafür täte, um mir Wohnen zu ermöglichen, ich aber auch meinen Beitrag dazu leisten müsse, zum Beispiel, indem ich mir bitte selbst eine Umsetzwohnung besorge. Die anderen Mietparteien, ihrerseits glücklich versorgt mit Umsetzwohnungen, verstehen den Vorstand.

In solchen Konfliktphasen stresse ich. Künftig wird alles vermutlich schwieriger, denn der Vorstand beteuert zwar auf Nachfrage, er würde mich bei der Wohnungsvergabe nicht auf eine schwarze Liste setzen, aber bei dem Gesicht, das er dazu machte, ist das nicht sehr glaubhaft. Ich schreibe einen offenen Brief, um meine Argumente besser zu ordnen. Geht trotzdem wahrscheinlich nach hinten los.

9. Juli, ein Donnerstag

Eine kurze Nacht zwischen 1 und 6 Uhr. Aber recht schön verregnet. Nur prasseln beim Einschlafen und Aufwachen auch die Gedanken an die ganze Malaise auf mich ein.

Auf meinen offenen Brief kamen postwendend Antworten, rabiate Schützenhilfe mit gebleckten Zähnen für den Vorstand von Seiten jener Nachbarn, bei denen ich noch im Frühjahr Feuer löschte. Herzhafter Tipp, doch bitte zu schweigen, „sonst würde ich mir selbst die Karten legen“ … Das war absehbar. Sie müssen verteidigen, was sie sich ergattert haben, da störe ich nur. Am besten wäre es wirklich, es täte sich woanders eine Wohnung auf. Allein das Maskeradenspiel des falschen Lächelns im Treppenhaus, huiii.

Ich verderb’s mir gerade mit Allen. Sie wollen mich aus dem Haus raus, im Dojo ist immer noch Stress, mit dem Arbeitgeber geht es vor’s Gericht und meiner Familie bin ich peinlich. Super-Phase.

Aber: Ich habe im behandelten Zahn wirklich keine Schmerzen. Dieses Aber ist kein kleines Aber.

30. Juli 2016 20:21