Christian Lorenz Müller

HASSAN AL-ALMANI PREDIGT

Dies Tuch, O Schwestern,
wimpelt schön im Wind:
Signal für eure Zucht.
Wer Schwarzes, wer Brünettes flaggt
reizt mit seinem Stolz.
Holt eure roten, eure blonden
Fahnen ein, versteht:
Blicke sind wie Wind,
sie rupfen, zerren, reißen,
sind unbezähmbar wild.

Nur am Wimpel
ist ein zahmes Zupfen,
der Wimpel ist es
der die Richtung zeigt.

21. September 2016 10:57










Christine Kappe

Bei den Enten ists so

Bei den Enten ists so:
Sie muss getarnt sein
Im „Unterdrückungskleid“
soll sie in Ruhe die Kinder aufziehen

(Die Männer haben nicht die Strapazen mit den Kindern
und pflegen ihre Schönheit!)

Gut oder schlecht?:
Durch Verstädterung und Wohlstand
überlebt die Ente
ihr gebärfähiges Alter
und wird „hahnenfiedrig“

Nun ist sie kaum vom Männchen
zu unterscheiden
Nur an der Farbe des Schnabels

19. September 2016 05:19










Markus Stegmann

Frau Atnan sagt

Frau Atnan sagt
sie habe genug gesagt
habe endlich genug gesagt
sagt
es sei alles gesagt
was hätte gesagt werden sollen
hätte gesagt werden müssen
nur eines noch
sagt sie
glücklich
sagt Frau Atnan
sie sei
glücklich
nach allem
was war
was habe schmerzlich
durchlitten
bis zum äussersten habe
durchgestanden
werden müssen
doch nun
seien wir beide
heimgekehrt
heimgekehrt
nach allen Wirrungen
Irrungen
heimgekehrt zueinander
wer wisse
wie viel
Lebenszeit
noch bliebe

18. September 2016 20:39










Christian Lorenz Müller

BURKA

Dieses komplett verhüllte Gedicht
gestattet allein einen Blick auf die Form,
auf das Alliterationsgitter
vor seinem Antlitz. Ob die Sprache
grob oder fein gewebt ist,
lässt sich auf diese Entfernung
nicht wirklich erkennen.

Dieses Gedicht huscht nur kurz vorbei,
es lässt sich bloß vermuten
ob es drunter enge Hotpants
oder romantische Spitze trägt,
und vielleicht ist es ja auch keine Frau,
vielleicht gehört es ja verboten
weil es möglicherweise sehr bald schon
eine Bombe hochgehen lässt,
die den ganzen Betrieb erschüttert.

15. September 2016 09:23










Andreas H. Drescher

Der Altruismus auf Tuch
Fühlung mit dem Schützen

Ein See verschwunden
Ein See aus Federn in

Die niemand mehr bläst
Die niemand mehr braucht

Verdunstet in der Nacht des
Schützen auch die Taschen

LAMPE

(Antwort 4 auf Mathias
Jeschkes „Luftstudien“)

15. September 2016 08:58










Mirko Bonné

Bojendorf

Das Dreieck Garten,
Bug im knisternden Laub,
ein Erlenschoner vorm Wind.
Halt Kurs, auf die Inselränder!
Dein Schiff, die alte Trübsal,
hat fünfzig Birnenkanonen,
Mauersegler folgen ihr,
Seemöwen melden: Herz!
Land! Schwalben schießen
durch die Scheune aus Bläue,
in der nachts die Fehmarner
die Sonne wegsperren.

Ein blasser Klüver
wächst aus dem Rasen:
die Stockrose. Wer meutert?
Lass die Korsarenerinnerungen.
Wieso will keiner tanzen?
Es gibt Wogen, die
sind tiefer und wilder
als alles zu Beweinende.
Vorm Gartenbug eine Stoppeldünung,
Füchse und einundfünfzig Sommer. Schau,
die Pracht, das Silber, das Schäumen
auf dem himmelgrünen Gras.

Für Hendrik Rost

*

14. September 2016 12:04










Andreas H. Drescher

In winzigen in immer winzigeren Näpfen geht es berg
an In Näpfen voll von Wladimirs zerstampftem Fahrrad
helm Im Anflug eines Sonnenbrandes über die über die
Grenze soll das Was Nur noch die schwarzbraunen Auf
drucke fehlen Die Aufdrucke sind doch das Wichtigste

Dein Helm aber ist auch nicht anderes als einer dieser

NÄPFE

(Antwort 3 auf Mathias
Jeschkes „Luftstudien“)

10. September 2016 09:11










Hendrik Rost

Mandelstam

Ich wende den Stamm des Baums, der letztes
Jahr im Garten stürzte. Unten fällt eine Schicht
Asseln von dem Holz, das sich schon zersetzt.
Alles Winzige flieht schnell aus dem Licht,
langsame Würmer, flinkere Tausendfüßler
und Sammetmilben, die wie eine Markierung
durch das Gemenge sputen. Der Künstler
wollte Älteres anders äußern. Verwandlung
beginnt mit dem Fallen und das Entstehen
neuer schwarzer Erde ist Spuk von Fressen
und Ausscheiden und wieder Verzehren …
Und dazwischen wie von der Leine gelassen
die roten Milben. Der Baum ist für die Viecher.
Sturz wird zu Boden, Blätter werden Bücher.

Für Mirko

9. September 2016 12:53










Martin Zingg

Gelbe Nachmittage

Seine Zeit ist knapp, sie ist es immer, aber unterwegs nach Hause oder zurück
Zur Arbeit bei Hartford Accident and Indemnity Co. fällt ihm doch einiges ein,
Le monde de mon oncle, es reicht eine gestohlene Minute,
Oder nach dem Abendessen, wenn er die Zeitung liest, the never-resting mind.

Sentimentalität, notiert er, ist ein Versagen des Gefühls. Ist er in Dreizehn Arten
eine Amsel zu betrachten
nicht sehr genau? Und sehr witzig?
Man möchte ihm alles glauben, was er noch sagen wird,
Ohne den Rest zu kennen, a child asleep in ist own life.

Gelbe Nachmittage besingt er, besingt würde er streichen, im Rücken
Die Akten eines Falles, der noch immer ein Fall ist,
Er wird heute länger im Büro bleiben,
Und weiss von keinem Wort so recht, wie es in seine Verse kommt
then there is nothing to think of. It comes of itself

7. September 2016 17:31










Christian Lorenz Müller

DAS GELÄUT DER VERZINKTEN EIMER

In der Nähe von Abakan in Südsibirien leben viertausend Menschen mitten in der Taiga.
Als Anhänger eines ehemaligen Ikonenmalers, der sich als Reinkarnation Jesu Christi sieht, sind sie dazu angehalten, ein möglichst autarkes Gemeinschaftsleben zu führen.

I

Das Haus: Vier zum Rechteck gefügte Flöße.
Durch die Fenster wogt der Wald herein
wie durch Lecks.
Winters gischtet der Schnee durch den Garten,
der Rauch aus dem Schornstein
lotet den Himmel aus.

Und immer inselt der Glaube.

II

Täglich hinunter zum Fluss,
das Geläut der verzinkten Eimer
in den Fäusten, und jetzt, im Sommer
die Sonne als Klöppel.
Die Eimer glucksen, ihr Schwanken
an den ausgestreckten Armen
als es das steile Ufer hinaufgeht:
Der Mensch als ein Turm
an dem die Glocken hängen
die ihn zu sich rufen
oder auch nur zu dem Vordach
unter dem der Waschzuber steht.

Vielleicht verklingt die Klarheit
schon beim Gebrauch der Kernseife,
verklingt, wenn der Rücken schmerzt
und die Hände brennen.

III

Jeden Morgen, wenn du anspannst:
Dieses Zaumzeug der Autarkie,
diese Fahrt in die Freiheit
auf einem Wagen
der durch Schlaglöcher bockt.

Deine Lichtung in der dunklen Taiga,
das Heu, das so duftig-leicht auf der Wiese liegt,
das so drückend schwer wird
wenn es sich auf deiner Gabel bauscht.

Abends kein Trab mehr, Schritt
und unter dem Hintern
federt das Heu eine Müdigkeit herbei
die dich einnicken lässt.

Du weißt, wovon du träumst.

IV

Sonntags blendet das heiße Wasser
der Banja deine Haut.
Eine halbe Stunde lang
bist du blind für das Gemüse, das geerntet,
den Schuppen, der gebaut werden muss.
Die Seife erhellt deine Glieder
und dunkel verrinnt mit dem Schweiß, dem Staub
auch die Angst zwischen den Dielen.

Dein Erlöser ist aus rostigem Blech,
er verlangt nur ein paar Scheiter,
und du sagst, dass du danach
immer hinunter zum Fluss gehst, auch winters,
wenn dich der Dampf gen Himmel entrückt
und dein Haar zu Reif wird.
Du sagst, dass du trotzdem niemals zögerst
wenn du am Ufer stehst,
dass du es fast schon genießt
wenn die Kälte dich umkrampft.

7. September 2016 10:27