Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (88)

2. November 2015, ein Montag

Heute war es das zweite Mal (nach dem 17. Juli, damals noch mit Weißgurt), dass Sensei mich nach vorn rief, um als Uke herzuhalten. Erwartungsgemäß war meine Vorstellung einigermaßen peinlich, weil ich beim Kaiten-Nage sofort den Kontakt verlor. Eine seltsame Gemengelage zwischen Stolz und Scham. Öffentliches Scheitern. Aber zu scheitern ist besser, als nicht scheitern zu dürfen. Immer wieder scheitern, wieder und wieder. Und wieder. Und dann noch mal. Aikido ist Kalligrafie. Ueshiba ist Hokusai.

2. November 2016 00:35










Hendrik Rost

Nuss

Vor dreißig Jahren habe ich zum ersten Mal ein Gedicht geschrieben; im Bus auf dem Weg zur Schule. Aufgehoben habe ich es nicht, aber es war wohl wie alles, was ich bis vor zehn Jahren geschrieben habe, im Wesentlichen Mumpitz. Mit nichts habe ich mich so ausgiebig und lange beschäftigt wie mit fremden und eigenen Gedichten. Und trotzdem könnte ich kaum etwas dazu darlegen. Außer: Relative Erfolglosigkeit und die Scham über den ständigen Verrat der allgemeinen Geheimnisse ergeben einen seltsamen kreativen Schub. In einer Welt, in der es entweder Wackelpeter und Konzinnität gibt oder kluge Stacheldrahtgeflechte suche ich nach Gedichten, die aus der Zeit in die Zeit gefallen sind.
„Es ist das Gegenwort, es ist das Wort, das den Draht zerreißt …“ Ihr wisst schon. Dreißig Jahre eine Kladde auf den Knien, irgendetwas kritzelnd – so gesehen ist es eine lange Zeit. Andererseits reicht sie für die Vorbereitung auf das Unheimliche kaum aus. Aber da will ich hin: jwd.

Für Sylvia Geist

2. November 2016 09:01










Hendrik Rost

Trampeltier

Jetzt kurz vor der US-Wahl schrieb ich meiner Gastmutter von 1987/88, dass ich mich noch gut erinnere an mein Jahr in Washington, D.C., wo ich im Schatten des Kapitols in einem alten, halb fertigen Haus zweier Regierungsangestellter lebte. Nachts flackerten die Suchscheinwerfer der Helikopter durch die Gassen auf der Suche nach Einbrechern. Bush Senior löste Reagan ab. Ich spielte abends auf dem Asphalthof einer Schule in der Nachbarschaft Basketball mit denen, die gerade da waren, bis meine Gasteltern es mir verboten, wegen der offensichtlichen Gefahr, als einziger Weißer da rumzulungern. Also lag ich auf dem Bett in meinem Zimmer und lauschte die Grillen, die seit 17 Jahren zum ersten Mal wieder aus der Erde gestiegen waren. Pausenlos zirpten sie lauthals in den Wipfeln der Alleebäume, im Fensterrahmen rotierte ein Ventilator. Ich schrieb ihr, wie es ihr damit ginge, dass ein Hallodri (a rogue) Präsident werden könne. Sie antwortete postwendend, berichtete, schon vorab gewählt zu haben, und hoffte, ebenfalls einmal in einem progressiven Land (wie Deutschland) leben zu können, in dem eine Frau die Regierung führe. Sie lebt allein mit ihrer Tochter im jetzt fertigen Haus. Zwei Ehen mit Alkoholikern sind Geschichte. Mein Gastvater seinerzeit war glühender Anhänger der Todestrafe, sein Sohn, mit dem ich das Zimmer geteilt habe, war tiefgehend verunsichert, antwortete auf Fragen immer mit Minuten Verzögerung und hatte mir zu Ehren vor meiner Ankunft den Münsteraner Dom aus Streichhölzern in beachtlicher Größe nachgebaut. Sein bester und einziger Freund war Manni, ein Vietnamveteran, der in einer Vorort-Mall einen Laden für Militärmodelle betrieb. Meine Gastschwester hatte sich in einem kunstvoll vermüllten Zimmer verschanzt; in der Mitte ein Plattenspieler, auf dem immer wieder Fugazi rotierte. Im Stockwerk darunter schrien sich meine Gasteltern an, der Fernseher lief, eine amerikanische Debatte.

4. November 2016 12:55










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (89)

4. November 2015, ein Mittwoch

Direkt nach dem Training: ein Abend mit Frau S., der kessen und cleveren Frau S., in die ich mich recht gern verlieben würde. Ich bin nur zu sehr in den Kitty-Körper vernarrt, als dass ich mich ohne weiteres umstellen mag auf den S-Körper, der völlig anders ist. Ein Graus ist das. Frau S. macht wenig Hehl aus ihrer Neigung. Im Gegenzug lasse ich’s mir gefallen und kann doch nicht recht einschwenken. Dabei könnte alles so nett sein: Frau S. holt fix vom Asiaten allerlei Lukullisches, es ist Sekt im Haus, die Kerzen brennen, und Frau S. hat Lust auf meine geliebte Serie Extras, sieht Folge für Folge, neun Folgen lang bis weit, sehr weit nach Mitternacht. Geht es denn paradiesischer? Es wird so spät, dass Frau S. glaubhaft macht, bei mir übernachten zu müssen – die Kulturtasche hat sie bereits mitgebracht. Ich richte das Sofa her und denke: flexibel ist sie und immer wieder imposant souverän.

Obwohl: Sie beendet Sätze erschreckend oft mit dem ins Ungefähre zielenden „also“. Als müsse man sich Ungesagtes – ja: Weiterführendes – noch dazudenken. Und überhaupt: Nicht auszudenken, bei der nächsten Gelegenheit die Zügel schießen zu lassen. Dass da bloß nichts Schlimmes geschieht.

Heute morgen: doch recht müde. Mein privates Familienalbum ergänzt um die Jahrgänge 1990 bis 2000. Bilder von abgeliebten Lieben. Melancholie auch angesichts eigener Alterungsspuren, die in den letzten Jahren besonders deutlich sind – totale Ergrauung, Aushärtung des Gesichts, Verlust alles Weichen und Vollen, nicht zu vergessen die rapide zunehmende Abhängigkeit von der Sehhilfe, die mich inzwischen, ohne dass ich es zugegeben hätte, zum Brillenträger gemacht hat, obwohl ich mich seit jeher als Nicht-Brillenträger verstehe – so wie jemand, der sich den Titel des Rauchers verbittet, obwohl er täglich raucht. Es setzt schon verstärkt 2007 ein, ungefähr mit Berlin, dieser Stadt des sichtbaren Siechtums.

4. November 2016 13:53










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (90)

5. November 2015, ein Donnerstag

Wie sehr ich sie doch mag, diese neue Wohnung mit ihren Seltsamkeiten. Im Bad ein Waschbeckchen, das eigentlich zu einer Puppenstube gehört; hingegen ein Balkon von kapitalen Maßen. Dazu eine perfekte Aussicht vom Schreibtisch: direkt durch zwei eingelassene Türfenster in die wohnliche Küche mit Truffaut in Goldrahmen.

Neu und anders als im Prenzlauer Berg, nämlich ungewöhnlich berlinerisch, lebt es sich in Weissensee am Weissensee. Man trifft hier zum Beispiel auf die unfreundlichsten Fleischfachverkäuferinnen der Welt. Sie haben Format. Was Fleischnichtesser da versäumen! Gleich daneben lokalisieren „Woolworth“, „Ein-Euro-Shop“ und „McGeiz“. Kürzlich erstand ich dort einen Eiskratzer mit vorzüglich gummiertem Griff für 10 Cent. Hingegen rar sind Hutgeschäfte.

Weissensee ist nicht ganz ungefährlich. In der Mitte der hauptsträßlichen Berliner Allee verläuft der Schienenstrang der Tram. Wer glaubt, schnell die Straßenseite wechseln und auf die Ampel verzichten zu können, unterschätzt, wie rege, rasant und rabiat Autos und Schienenfahrzeuge verkehren und wie eng der  Zwischenraum zwischen Straße und Schiene ist. Schnell ist man eingekeilt zwischen Tram und Laster. Dann wird’s eng, gebremst wird nicht. Weissenseer mit Lebenswille verzichten daher oft ein Leben lang auf das Wechseln der Straßenseite. Man lebt hüben oder drüben. Der Bau der Schiene hat manche Familie zerrissen. Manchmal winkt man einander zu. Man tauscht Grüße. Es gibt ja auch Briefverkehr. Die Wirtschaft hat sich entsprechend eingerichtet. Geschäfte ähnlichen Sortiments sind spiegelbildlich angeordnet: zwei Apotheken, zwei Nagelstudios, zwei Friseure. Sogar Polstermöbelläden sind doppelt vorhanden. Zunächst hielt ich es für Konkurrenzdenken, doch die Duplizität entspringt stadtplanerischer Vor- und Umsicht. Indes scheint es nicht immer geholfen zu haben, manche Weissenseer scheinen die Teilung noch immer nicht begreifen zu können oder zu wollen. Konjunktur haben Bestattungsinstitute. Seit 1887 floriert das Bestattungsinstitut Kadach, und gleich nebenan – nein, nicht gegenüber, sondern auf dergleichen Straßenseite – wirbt Konkurrenz mit farbenfrohen Schaufenstern.

5. November 2016 09:35










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (91)

6. November 2015, ein Freitag

Gestern Abend vertrat ich im Aikido T.B. als Lehrer, die Stunde war alles andere als ein Glanzstück. Ich ging zu schnell durch suwari waza und shomen uchi, führte einige Techniken präzise aus und ließ sie nicht lang genug studieren.

Heute wieder als Schüler auf der Matte. Völlige Erschöpfung während der ersten Stunde. Geradenach übel wurde mir, als ich mich Ja sagen hörte, meine Reflexantwort auf senseis Frage, ob ich zur zweiten Stunde bliebe. Das hieß: zwischen der ersten und zweiten Trainingseinheit zunächst eine halbe Stunde meditieren, in einem klatschnassen, auskühlenden Anzug. Die zweite Stunde wurde recht gemächlich, aber ich bekam Krämpfe.

6. November 2016 09:45










Christian Lorenz Müller

WENN DIE SCHATTEN

Wo die Straße endet
rupfen Schafe die Schatten.
Unzählige Nächte
haben das Holz der Höfe
schwarz gewittert.
In der öligen Dämmernis
eines Schuppens stehen Traktoren,
das dunkle Rund eines Reifens,
und dann geht ganz in der Nähe
eine Kreissäge auf,
ihr kaltes Grellen
blendet das Ohr.
Tausende von Umdrehungen
pro Minute und der Bauer,
der, ungeschnittenes Holz in Händen,
unablässig um sie kreist.

Noch immer existieren
die Gravitationskräfte der Kindheit,
immer wieder dieses Verharren
im Herbst, wenn die Wege enden,
wenn die Schatten vor die Mäuler
der Schafe fallen.

6. November 2016 11:47










Hendrik Rost

Kaltes Amen

Die Sowjetunion gab es noch damals und die Sorgen der weißen Mittelschicht in der Hauptstadt, soweit ich für ein Jahr eingeladen war, sie zu teilen, kreisten um die Frage, wer in dieser Woche wann zum Psychiater geht. Jeder für sich. Mein Vorschlag, einmal miteinander zu reden oder gemeinsam zu demselben Therapeuten zu gehen, fiel auf vollkommenes Unverständnis, nein, wurde eher als ein Angriff auf die Hoheitsgewalt des Einzelnen über seinen Kummer (den immer andere verursachen) angesehen.

Jeden Abend gab es Salat, der einzeln in kleinen Schüsselchen für jeden vorbereitet wurde. Meine Gastmutter entdeckte an einer ihrer Tomaten während des Essens dann einen Stielansatz, den ich in meiner ganzen Unbekümmertheit beim Zubereiten übersehen hatte – ihr Gesicht entgleiste. Als ihr Mann versuchte, sie zu beschwichtigen, warf sie die Tomate quer über den Tisch in seine Richtung. Sie klatschte an die Wand, und wir Kinder aßen still, wie betend vorübergebeugt weiter, während die Eltern sich enthemmt anbrüllten. Auch an diesem Tag beendeten wir das Abendessen mit wild schlagendem Herz, dröhnenden Ohren und der Gewissheit, dass wir uns von Gewalt ernähren.

An Thanksgiving kamen Verwandte vom Land. Virginia war ein anderer Planet, südlich der Hauptstadt. Der Mann trug ein Truckercap und Dickies Arbeitshosen. Er sagte Sätze wie: He don’t care, und brachte Steaks von selbst erlegtem Wild als Gastgeschenk. In der Mitte des Tisches thronte ein Truthahn, groß wie ein dreijähriges Kind, und wartete geduldig darauf, dass wir unser Gebet, das einzige des gesamten Jahres, zu Ende gesprochen hatten, um ihn zu zerlegen.

Mein Gastvater präsentierte mich, den deutschen Gast, irgendwie als Beleg seiner heldenhaften Vergangenheit in der Armee. Er hatte sein Dienst während des Koreakriegs mit einer Blinddarmentzündung in einem Heidelberger Militärhospital verbracht. Den Schneid hatte er sich äußerlich bewahrt und wenn er abends zunehmend betrunken seinen immer gleichen Crooner-Songs lauschte, glich er dem Reagan aus Der Tod eines Killers. Und so wie Reagan diese Rolle später bereute, so würde dieser Mann, der schon zwei Familien zerstört hatte, morgen für wieder vom ersten Moment an versuchen, jeden von uns so lange zu erniedrigen, bis er gestärkt für einen Tag im Büro das Haus verlassen konnte.

Der Mann aus Virginia sprach mit später beim Digestif, Bier, an: Er komme eigentlich nur in die Hauptstadt, wenn es sich nicht vermeiden ließe. Zum Essen etwa, als wäre dies ein Ersatz für einen Jagdausflug. „Junge“, sagte er, „das ist nicht Amerika hier.“ Und fügte hinzu: „Die Leute leben in ihrer eigenen Welt: fancy houses, fancy problems.“

Meine Gasteltern sprachen dann doch noch mit einem Therapeuten: Sie brüllten von verschiedenen Stockwerken per Konferenz in die Hörer und baten den zugeschalteten Shrink, dem jeweils anderen auszurichten, wie nasty, also gemein er wäre.

Ich blieb in diesem Haus zu Gast, statt auszubrechen, vielleicht nach Virginia oder Amerika, weil ich den anderen Kindern nicht zeigen wollte, dass man hier nicht leben kann. In so einem kapitalen Luxusproblem.

7. November 2016 12:00










Andreas Louis Seyerlein

~

MELDUNG. Erfolg­reich aus 33000 Fuß Höhe über dem pazi­fi­schen Oze­an kurz vor Mon­te­rey abge­wor­fen: Bono­bo­da­me Judy, 8 Jah­re, ers­te Über­le­ben­de der Test­se­rie Tef­lon-F87 {Haut­we­sen}. Man ist, der Schre­cken, noch voll­stän­dig ohne Bewusst­sein. – stop

> particles

8. November 2016 13:09










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (92)

8. November 2015, ein Sonntag

Gestern Abend bei Frau S. in die Katzbachstraße: ein Dinner! Die Arme hatte sich allerdings einen Virus eingefangen und daran wellenweise zu leiden. Zunächst tausenderlei Gespräche über Beziehungen und Amouren, sozusagen ein gemeinsames Kreisen um unseren heißen Brei. Ich stellte mich in ein seltsames Licht: offen, bekennend bis zur törichten Selbstanklage; dann wieder verhehlend.
Schwierig genug, mich in meinem sozialen Paarverhalten verbindlich einzuordnen. Noch schwieriger in dieser Paarwerdungskonstellation. Die Zeitebenen schieben sich ineinander. Wovon ich in der Vergangenheit spreche, wird zur Zukunftsoption. Unmöglich auch, von Absichten guter und unguter Art abzusehen und die Dinge selbst zu Wort kommen zu lassen.
Zu späterer Stunde überfiel Frau S. schwallartiges Erbrechen. Mein Mitleid war sofort sabotiert von der Sorge, ob der Virus übergesprungen sei. Stak da im Topf noch der Löffel, mit dem sie abgeschmeckt hat? Heute in Lauerstellung. Zupfen im Magen sofort als Symptom verdächtigt – hat’s mich erwischt?

8. November 2016 13:16










Hendrik Rost

Tweet

Der Polit-Pirol zieht ein in die Hauptstadt
der Abenddämmerung, alles ist wieder aus
für immer. Er zwitschert auf dem Schwert
des Washington Monuments, in den Ort
gerammt wie die Nadel eines Sammlers
in ein seltenes Exemplar, halb verheert
von den Rassenriots der 60er. Der Himmel
überm Kapitol ist immer wolkenlos klar,
ein Hologramm von infinitem Format.
Auf der National Mall stehen greise Vietnam-
veteranen, beten: MIA – Prisoner of War.
Bleibst du etwas zu lange stehen und schaust,
huscht ein Cop an und fragt, was du willst.
Schütze deinen Trotz, wäg ab, was du singst.

9. November 2016 09:26










Konstantin Ames

es gibt keine Postpoesie, gab’s nie; gibt’ eigen Fleisch, Messer
im Qualitätsradio «Singnale», das «Progrom»
vor achtundsiebzig Jahren.
I’m Jahr. 1931 (nach Nero) wär das nicht passiert, klar
ihr hättet ihm das Toupet vom Kopf gekifft
und sagt uns jetzt: wir habm’s euch ja gesagt
sagt mir, warum er eine Faust macht, der andern

Schaufeln in die Hände drückt der Satz A millionaire’s hairstyle
is trapped in the era that they first made their money.

Durch die Innenhöfe donnern heute Knallfroschknalle vermehrt

(Die Schwanzlosigkeit von Donald Duck« 09.11.2016a)

9. November 2016 16:19










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (93)

10. November 2015, ein Dienstag

Ich sah aus dem Fenster. Da gingen etwa eine Handvoll Polizisten in englischen Uniformen und Helmen. Sie hatte die Stöcke gezogen. Nun sah ich auch ihren Bestimmungsort: ein Pub. Er hatte trotz Sperrstunde noch geöffnet. Davor stand ein massiver Rover, dessen Windschutzscheibe die Polizisten nun einschlugen, dann auch die Scheinwerfer und Rückspiegel. Sofort rannten die Gäste des Pubs auf die Straße und lieferten sich ein Handgemenge, bei dem die Polizisten sich mit ihren Stöcken wehrten, aber in die Defensive gerieten und ihre Stöcke schließlich nach den Angreifern warfen; allerdings liefen sie den Stöcken hinterdrein, um sie nicht ganz zu verlieren, gerieten aber dadurch noch mehr in Gefahr.
Einer der Polizisten fiel mir besonders auf. Er hatte seinen Helm verloren, trug kurzes blondes Haar und wirkte schwerfällig. Zudem krümmte er sich immer wieder und hielt eine Hand vor den Mund, als müsse er erbrechen. Gegen die Meute konnte er wenig ausrichten, aber auch seine Gegner waren nicht mehr gut auf den Beinen. Sie torkelten vorüber, während der Polizist einige von ihnen verfolgte, aber eben immer wieder unter Brechreiz leidend. Er wird sich, dachte ich, seinen Alltag in der englischen Provinz idyllischer vorgestellt haben.

So viel zu dem Geträume heute morgen. Jetzt ist es 9:20 Uhr. Heute morgen las ich „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit – Band 4“, aber die Lektüre fiel mir schwer.

10. November 2016 11:59










Christian Lorenz Müller

GREAT AGAIN

Immer das bläuliche Schimmern
der Bildschirme, die Bytes
zucken unterm Glas wie Forellen
und wir, über unsere eigenen Einträge,
Tweets, Kommentare gebeugt,
fallen nicht. Wir versinken nur
in dem Buchstaben gewordenen Bild
unserer gerechten Empörung.

Unsere Finger huschen,
Wasserläufer auf Flüssigkristall,
über unsere gegoogelten Gesichter,
unsere Biographien, Preise, Buchtitel,
über den Wikipedia-Eintrag,
der aus digitalen Tiefen auftaucht,
leuchtender Krill in der Finsternis,
und wir lächeln uns an,
irgendwo auf einer Kreuzung,
auf einem Bahnhof, eine armselige
Pfütze in der Hand.

11. November 2016 09:57










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (94)

11. November 2015, ein Mittwoch

Erwacht – und wach gelegen – in jener dumpf infantilen Verzweiflung, keinen Daseinszweck zu erfüllen. Gefühl völliger Verzichtbarkeit. Aussicht auf Ideen-Brache. Die letzte Idee, eben die Hexenfilmidee, mit der ich die letzten Jahre mit Sinn füllte, ist versickert und steht in der Welt wie ein Gespenst, das niemand kennt. Es ist, als wäre ich in den Jahren der Filmherstellung selbst nicht vorhanden gewesen. Ich denke da nichts Neues. Ich denke immer dasselbe.

Marcel Proust schreibt über Leute, die das, was sie zu sagen haben, dauernd wiederholen und sich dabei nicht unterbrechen lassen: Sie reden „mit der unerschütterlichen Solidität einer Bachschen Fuge“.

Gestern ist Helmut Schmidt gestorben. Abends sah ich es in den Nachrichten und folgte der Sondersendung (Maischberger, Nowottny, Steinbrück). So einer war schon früh ein Fels im Geschehen, immer gerüstet, gewappnet mit Leitideen. Aber: Ohnmachtsanfälle, schwaches Herz, Herzschrittmacher. Dennoch nicht gezaudert.

11. November 2016 13:18










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (95)

14. November 2015, ein Sonnabend

Die soziale Jahresbilanz: Im März das Zerwürfnis mit Meg, nachdem wir die Trennung im November eigentlich gut hinbekommen hatten; im Mai die Trennung von Kitty; zeitgleich die Kontaktlösung von Jugendfreund H.; im Juli Freundschaftsende mit Kollege J.; im August die Gewahrwerdung der Feindseligkeit von Aikidoka A. – dazu die Bewusstwerdung der limitierten Solidarität der Aikido-Freunde (T., I.); im Oktober der überfällige Kontaktabbruch mit D.; ganzjährige Kontaktarmut mit dem einst so innig angebundenen Neffen M. Insgesamt desolat.

Desolat auch das Spiegelbild: Jahre unwirtlichen Wohnens und sozialer Erosion machen die Augen glasig und das Kinn flüchtig, schieben das Bild in die Gespenstergalerie.

(Die Einträge schreibe ich unter dem Eindruck der IS-Anschläge in Paris am Freitag dem 13. Seltsam war das: zunächst zwei Explosionen in der ersten Halbzeit des Länderspiels, die man am Fernseher nicht zuordnen und einschätzen konnte, weil der Moderator selbst nichts wusste. In der Halbzeitpause googelte ich gleich, aber im Netz war noch keine Information erhältlich. Bis im Zuge der zweiten Halbzeit dann Informationen durchsickerten, sich verdichteten und langsam das Ausmaß des Anschlags ahnen ließen.)

14. November 2016 13:45










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (96)

16. November 2015, ein Montag

Die Grenzen verwischen: Am Sonnabend kam Frau S. nach ihrer Generalprobe vorbei und verbrachte nicht nur den Abend mit Freund K. und mir, sondern folgte auch freudig der Einladung, hier zu bleiben, folgte nicht weniger zustimmend der Einladung, ihre Bettstatt nicht notwendig im Wohnzimmer aufzuschlagen, sondern sich neben mich zu betten. Und obwohl das alles höchlich sittsam verlief und trotz Prosecco-Laune und einigen Lauerns auf Lüsternes denn doch kein wirklicher Handlungsanlass gegeben war, sind das Gebietsbetretungen, die ein neues Kapitel einleiten.

Sonntag den Tag mit Frau S. vorwiegend im Bett verbracht. Wie sehr seltsam, wenn das Bett ein Gammelplatz diskreten Miteinanders ist. Wir aßen zusammen, hörten „Unter dem Milchwald“, sie massierte mich geduldig, was ich nur zu gern duldete, trotz punktueller Gewissensbisse, welche Verbindlichkeiten das nun wieder mit sich brächte. Dann Aikido, dann Kino, ein sehr fragwürdiger Kinobesuch im neuen James Bond, dessen Tempi kaum überspielen, dass der Film so statisch ist wie die Mimik von Daniel Craig. Insgesamt der lustloseste Bond seit langem.

Heute Morgen in trüber Stimmung erwacht. Vermutlich keine guten Träume. Sehr milchglasig, die Aussichten. Nachmittags umschlang mich langer Schlaf, Gefühl wie auf schlingerndem Meer, gewälzt als Treibgut seiner Strömungen.

Montag, Mitternacht: Eben bei T. gewesen! Da lud also T. mich als einzigen aus dem Aikido-Kreis ein, das Doppelfest seines Geburtstags und seiner Verlobung mit N. zu feiern. Mit N., die mir seit dem Tag, als ich ihre Abendgarderobe als „putzig“ bezeichnete, sichtlich abhold ist. Ein Abend mit Damen, die einander beipflichten, Nähkurse zu nehmen, weil man „so ungern etwas wegwirft“. Eine habe daher sogar T-Shirts mit „Löchern im Ellbogen“ – was für T-Shirts sind das?! Anlässlich des Anlasses bitte ich um Details des Verlobungsantrags, doch da schweigen sich N+T zierlich aus, worauf ich gar nicht anders kann, als nachzuhaken, während Freundinnen beispringen und ihre Freundin gegen zudringliche Nachfragen in Schutz nehmen. Wie respektlos der eigenen Lebenszeit gegenüber ist sie doch, die Anwesenheit im Miteinander gegenseitiger Bestätigung, des wohlmeinenden Halb-Charmes und der Langeweile. Halb zwölf Aufbruch als erster Gast.

16. November 2016 11:58










Tobias Schoofs

GEMÜSE

hundert sätze die aussehen wie fake aber
echt sind und zu euch wollen auf tomaten

dosen und die tomaten machen das bunt
nein nicht die tomaten sondern die farbe
der gemalten tomaten auf der dose unter

der schrift dieses rot wie auch das grün
der gurken im glas das aussieht wie fake
aber echt ist dem gemüse hört zu wenn ihr

zeit habt es hat hundert sätze die aussehen
wie fake aber zu euch wollen in echt

17. November 2016 16:29










Mirko Bonné

Umzug mit Apollinaire

1
Annie

Im Grau der Westküste des Finistère,
zwischen Brest und Le Trez-Hir, gibt es
einen Palmengarten mit einer alten Rose,
ja dort wächst etwas völlig Ausgeflipptes,
Apollinaires Gehstock, lebendige Rose.

Annie ging in ihrem kleinen Vorortpark
gedankenversunken täglich spazieren,
und folgte ihr einer beim Promenieren,
dann fuhr es ihm durch Bein und Mark.

Was, wenn wir alle nicht wirklich glauben,
blüht dann etwas, ist ein Knopf Verschluss?
Wenn einer wie ich alles neu erleben muss,
würde mir Annie sie zu küssen erlauben?

2
Umzug mit Apollinaire

Den Rosenstock, den die Tochter von Annie
im Morgendunkel in dem Garten bei Brest
ausgrub, fuhren sie und ich mit dem Rest
Möbel ihrer toten Eltern durch Normandie,

Picardie und Wallonie nordwärts. Dinge,
die wir nicht vergessen können, sind die,
welche uns verloren erscheinen lassen, sie
bleiben, sind ungerührt. Sie gräbt, ich singe,

stehe in der Küche ihrer Kindheit, koche Tee
und versuche, mir sie auszumalen in dem Haus,
ein Kind in einem Garten. Bloß weg, Rose, raus,
ins weite Licht! Ferne. Autoroute! Himmel. See.

*

17. November 2016 21:30










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (97)

18. November 2015, ein Mittwoch

Ich habe mir zwei Domains gesichert, um Erinnerungsfilme für Hinterbliebene anzubieten. Kunden könnten den Fundus aus Fotos und Filmchen der Verstorbenen bei mir abgeben, und mit einigem Digitalisierungsaufwand, Gespür und Geschick bekämen sie ein handliches Format zurück. Das ist womöglich kreativer und lukrativer als die Sachbearbeitung beim Referat IIA / Zentrale Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber. Dort hatte ich mich morgens beworben, zwecks sozialer Teilhabe, doch die Vorstellung, dort Akten zu bearbeiten, war so grotesk, dass nach dem Posteinwurf die Schrulle mit den Erinnerungsfilmen Auftrieb bekam. Auf der homepage des fußläufig erreichbaren Bestattungsinstituts Kadach schaute ich in den Leistungskatalog. Erinnerungsfilme waren nicht darunter. Nun sind Bestattungen ein heikles Gewerbe. Je mehr ich mich in die Idee vertiefte, desto mehr wurde ich gewiss, dass ein solches Geschäft meinem Charakter zuwider wäre.

18. November 2016 14:52










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (98)

19. November 2015, ein Donnerstag

In dieser letzten Nacht schliefen also Frau S. und ich miteinander, und nun ist man dort, wo man ist, wenn man mit einem Menschen schlief und mit ihm „der Liebe pflegte“. Es ist fraglos schön, denn Frau S. liebt gut und gern und verliert ihren Humor nicht dabei. Sex unter Aikidoka hat Potenzial. Und doch bin ich besorgt, wie gütlich alles weitergeht.

Ich war womöglich befeuert vom Höhentraining. In einem Studio mit Laufband konnte eine Höhe von 4.500-5.000 Meter Höhe simuliert werden. Vorausgesagt wurden Tunnelblick, blaue Lippen, Schwellungen. Gerechnet habe ich mit Allem und mehr, nachdem ich ja bei jedem zweiten Landeanflug kotzend kollabiere. Bescheinigt wurden leichte rote Flecken und Lippenverfärbung. Zu spüren war lediglich ein leiser Druck im Kopf, als der Hebel am Anschlag war. Nun kann ich getrost die Anden-Wanderung ins Auge fassen.

Frau S. verfügt übrigens über ein prächtiges Naturell.

19. November 2016 13:10










Björn Kiehne

Die Bucht

Ein müder Streifen Sand,
an beiden Seiten kriechen
Hügel ins Meer, der Campingplatz
mit Pizzabude, eine Margherita
bröckelt von ihrer Wand.

Im Schlafsack heimlich noch Schokolade,
Mist, erwischt! Jetzt zum Zähneputzen
in den Sanitärblock, allein unter den
Flüsterpinien hindurch, die den Geruch
der Macchia zwischen ihren Nadeln zerreiben.

Vor dem Spiegel, die Zahnpasta ist scharf,
man muss sie gut verteilen, immer von
Rot nach Weiß putzen, bis die Zähne strahlen,
zu Elfenbeinheiligen werden im Minzdom.

Über die Bucht spannt sich die Nacht,
ein schwarzes Trommelfell,
auf das die Zikaden einschlagen
erst leise, dann lauter, immer lauter.

Auf dem Heimweg, der Kies
knirscht, etwas pirscht sich heran,
greift aus der Nacht nach mir,
zerrt an mir, zieht mich ans Meer.

Er riecht nach Tang und Salz, er streichelt
die Dunkelheit frei, lässt die Fische springen,
auf ihren Silberrücken nehmen sie mich mit.

Dorthin wo der Sand, im siedend heißen Wasser
aus den Tiefen, tanzt, dorthin, wo sie beginnt, die,
die nicht aufhören will sich immer neu zu erzählen.

Die Hügel kriechen voran, treffen sich im Rund,
bilden den Saum, die Bucht schließt sich, ein Schlafsack,
in dem das Meer wogt, das weite, das ewige Meer.

21. November 2016 08:07










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (99)

21. November 2015, ein Sonnabend

Frau S. ist heute Morgen nach Mallorca abgereist. Seltsam, mit welcher Selbverständlichkeit sich alles schon vollzog: Abholen mit Kuss, Abendbrot mit Kerze, Hörspiel mit Kontakt, Bett mit Sex – als wäre das alles nichts und alles schon erledigt. Als würde ich nicht innerlich zucken beim Anblick des Weihnachtsmarkts, auf dem Kitty und ich letzten Winter Riesenrad fuhren. Und als würde ich den Gegenwartszustand nicht bis vor einer Woche – bis vor wenigen Tagen! – ausgeschlossen haben. Wie schnell die Gewöhnung einzieht durch die Praxis.

21. November 2016 09:53










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (100)

22. November 2015, ein Sonntag

23 Uhr. Soeben heimgefahren durch die Stadt und im Auto das seltsame Gefühl gehabt, ich müsse sehr aufpassen, denn sonst geschähe ein Unfall. Vielleicht vor Glück. Vielleicht wegen des Gefühls, der Tag sei zu gut gelaufen.

Dabei war es vorderhand kein besonderer Tag, denn auf dem Aikido-Prüfungslehrgang bin ich ja nicht geprüft worden. Aber ich durfte angreifen, gehörte also zu den Ukes für E. und M., die den 1. Dan machten. Das ist großer Spaß und genau das, was ich mir erträumte, als ich vor fünf Jahren begonnen habe. Dass mein rechtes Knie an seinen Haarriss erinnert, nehme ich hin, solange es nicht bricht. („Wenn es sich biegt, ist es komisch; wenn es bricht, nicht.“ Verbrechen und andere Kleinigkeiten, Woody Allen) Nach dem Lehrgang blieb ich im Dojo, pflegte den Hakama, das kostbare Stück. Entfusselt, geglättet, gefaltet. Las Proust. Wartete auf das Training am gleichen Abend.

Dann in Woody Allens Irrational Man, das war recht hübsch. Es ist kein Großwerk, eine vielleicht sogar etwas boulevardeske Mördergeschichte, aber nett anphilosophiert (Kant gegen Sartre, Rationalismus gegen Existenzialismus, Ethik gegen Ästhetik), mit einem guten Joaquin Phoenix und einer leicht dahinspielenden Musikalität, die mich diese Idee mitdurchspielen ließ – seine Meisterschaft im Kleinen.

Frau S. (…) Es liegt Ironie darin, dass ich mich am attraktivsten derjenigen darstellen kann, auf die ich es nicht angelegt habe. Psychologisch kein Riesenrätsel.

22. November 2016 10:44










Nikolai Vogel

Große ungeordnete Aufzählung (Detail)

das dunkle Wasser der Isar im Herbstlicht eines sich zuziehenden Spätnachmittags,

22. November 2016 18:18










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (101)

23. November 2016, ein Montag

Morgens sehr kalt, der Winter ist da. Trotzdem auf das Fahrrad, um zum Prenzlauer Berg zu radeln und das Zipperlein-Knie in Bewegung zu bringen. Dort, in der Bäckerei, wo ich wieder mal gern lesen würde, sitzt R. Kein Entrinnen. Es ist schwer, gute öffentliche Plätze zum Lesen zu finden.

Dank Kytta-Salbe ins Aikido gegangen. Verhohlener Ärger gegen J., die dauernd in ihre Partner hineinlief. Also ein Test in Demut, Toleranz und mildem Gutsein, und so lächle ich und bitte im Anschluss um ihren Rat … und wieder wird das Tagebuch zum Gulli, zum Abfluss des Ungesagten, dessen, was vor der Welt nicht zur  Sprache kommt. Daher wohl auch das unproportionale Ausmaß des Selbstmitleids. Mein Tagebuch ist kein Spiegel, keine Chronik, es ist die Tonne meiner Abwässer.

Und wieder am Riesenrad vorbeigefahren, durchzuckt von der Erinnerung an Kitty, die dort in der Gondel auf Sex drang – trotz/wegen der Zuschauer der Nachbar-Gondel. Das Tagebuch-Schreiben hämmert die Erinnerung fest – auf diese Weise wird sie erst recht fixiert und zur fixen Idee. Das Tagebuch wirkt präskriptiv, das Erinnern stellt Weichen für die Zukunft.

Allein ins Kino, in Ewige Jugend von dem italienischen La Grande Bellezza-Regisseur Paolo Sorrentino, der seine Zuschauer mit einem wirklich gemeinen Köder lockt, nämlich mit einer Miss Universe, die nackt zu alten Männern in den Pool steigt. Oft wirkt diese Zauberberg-Variante mit seinen vielen Stillleben und Ruhebildern recht kunstliebhaberisch, aber immer noch fällt genug ab, um eindringliches, intellektuelles und sinnliches Arthouse zu sein.

Seltsamer Schriftverkehr mit einer Regensburger Choreografin, die mein Japan-Buch zu einem Tanzstück transformiert hat. Ich hege gelindes Desinteresse, wahrscheinlich snobistisch geworden durch die Arbeiten von Meg. Gleichzeitig aber reagiere ich empfindlich darauf, dass im Programm mein Name zu „Kroll“ verschrieben wurde. Ja, was denn nun?

23. November 2016 10:09










Nikolai Vogel

Große ungeordnete Aufzählung (Detail)

Flusslandschaften,

23. November 2016 23:05










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (102)

24. November 2015, ein Dienstag

Aus einem Traum geschüttelt worden. Geschüttelt von Ärger und Zorn. Zorn über den Vater, über den Beamten, dessen patriarchale Pedanterie so weit ging, dass meine Behördenschreiben, sofern sie Fehler aufwiesen, bitte noch einmal – damals noch auf der Schreibmaschine! – abzutippen seien. Heute sind seine Briefe Kauderwelsch. Proust schreibt, wir gingen innerhalb eines Lebens von einem Leben zum nächsten. Ich weiß nicht. Ich glaube, mein Vater wäre noch ebenso wie einst, er kann es nur nicht. Es ist der gleiche Mann mit Versehrungen, der gleiche Rechthaber ohne Recht zu haben. Und ich, der nachtragende, unerbittliche, rechthaberische Sohn bringe dafür kein Erbarmen auf.

Frau S. behält, was ich wunderbar finde, den Kopf oben. Heute Nachmittag beglückwünschte ich sie, dass sie beim Vorstoß auf der Party bei K. den Rückschlag wegsteckte und dennoch nicht aufgab. Sie aber bestand sie darauf, dass auf diese Weise die Geschichte bitte nicht geschrieben werde. Denn schließlich habe sie mir bereits bei jener Abfuhr bedeutet, in meinen Gesten und Handlungen läge eine unabweisbare Ambivalenz, die auch nach meiner Zurückweisung erhalten blieb, und ich sei es gewesen, der ihren Knöchel zuerst berührt habe. Darin liegt Großartigkeit.

24. November 2016 11:45










Hans Thill

tzox

Birke

24. November 2016 15:33










Nikolai Vogel

Große ungeordnete Aufzählung (Detail)

Geschiebe, Geröll,

24. November 2016 19:43










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (103)

25. November 2015, ein Mittwoch

Gestern noch erreichte die Gruppenmitglieder der Genossenschaft die rätselhaft-unrätselhafte Nachricht, man würde sich gern auf einen Glühwein treffen, bei dem Gerald eine Runde auszugeben habe – „aus einem guten Grund“. Hat mein schäbiger Hauptmieter sich nun doch entschlossen, mir das Feld zu räumen? Das wäre eine gute Nachricht: die Aussicht auf eine Wohnung in einer Genossenschaft mit Aussichten auf Dauer, Mietpreis, Zugriff auf vielleicht andere Wohnungen etc.; andererseits auf neuerliche Nachbarschaft mit „diesen Leuten“, von denen ich so erleichert schied. Das nicht vergessen und verhehlen! Proust in einem Klammerzusatz: „Denn nicht nur dadurch, dass man andere, sondern, dass man sich selbst belügt, verliert man schließlich das Gefühl dafür, wann man eigentlich lügt.“

Terminabsprachen zum Geschwistertreffen. Sie verlaufen zäh. Im Computer abgelagert sind Kindheitsfotos selbstverständlicher Geschwisterschaft. Damals war klar, dass das ewig dauern würde, aber ungleich länger dauert inzwischen jene Zeitspanne, in der wir nur noch einander zuwinken, jeder mühsam sein Gleichgewicht haltend auf auseinandertreibenden Schollen.

Flug nach Lima gebucht: zum Wandern in Anden. Lange genug habe ich Signale in die Umwelt abgesetzt, um den Druck zu schaffen, unter dem eine ungefähre Idee eine konkrete Form annimmt. Das 30. Jahr mit etwas Verspätung. Wer ist mein Moll?

Beim Bäcker gesessen und gelesen. Neben mir: ein stinkender Mann. Wahrscheinlich ohne Kindheit.

25. November 2016 15:25










Konstantin Ames

weiteres aus: Müdich Buntstift´s Landschaften

Jauchztest: «Ich bin müde wie eine alte Trompete!»
Würde schreiben: Müdich, eine alte Trompete
Ich, ein erwachsener Dichter (bloß). Du, ein Dichter (5)
Schriebich verbrühten Fingers. Deine Wärmflasche

Gefüllt. I must vomit. Ichmast, womit?
Ab ins Fieber. Das ist kein Sentiment; Neid
Jetzt aber tagts! (Ich harrt und sah es [km]« 21.11.2016)

25. November 2016 17:23










Nikolai Vogel

Große ungeordnete Aufzählung (Detail)

die Biografie eines Kiesels,

25. November 2016 19:05










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (104)

26. November 2015, ein Donnerstag

Vormittags hat der Klempner einen neuen Spülkasten installiert. Schön, einen Mann bei sich zu haben, der seinen Beruf liebt. Nicht, dass er sang. Er schnaufte durchaus, und ich hörte ihn, während ich im Arbeitszimmer am Schreibtisch saß, des öfteren schnaufen. Doch dann rief er mich und demonstrierte den Erfolg. Er drückte die Spülung. Sie lief. Er horchte an der Kachelverschalung, um zu hören, wie das Wasser den Spülkasten füllte. „Los, komm schon“, raunzte der Liebende leise, und alles vollzog sich nach seinem Willen.

Glühweintreffen auf dem Weihnachtsmarkt der Kulturbrauerei mit der Hausgruppe der Nichtsehrvielgeliebten. Dort wird verkündet, dass mein Hauptmieter tatsächlich gekündigt hat und ich nun dessen Stelle übernehmen könne. Na hoppla! Und siehe: freudig erregtes Hyperventilieren seitens der in tristen Zeiten lieber in Deckung befindlichen Nachbarinnen. Pfui, denke ich und spendiere Glühwein, spendiere um so lieber, als das dauernde Pendeln zwischen Runde und Glühweinstand mich von der Runde fernhält. Zügiges Verabschieden zum Aikido, leicht angesäuselt auf die Matte.

26. November 2016 09:32










Nikolai Vogel

Große ungeordnete Aufzählung (Detail)

die Unlust unter der Eisenbahnbrücke durchzugehen, wenn ein Zug darüber rollt,

26. November 2016 19:11










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (105)

27. November 2015, ein Freitag

Nicht, dass ich nicht schlief heute Nacht. Nur eben, dass mich morgens das Gefühl überlief, schon sehr lange wach zu liegen in Gedanken. Trübem Gedenke an das Glühweintreffen mit den gewesenen und künftigen Nachbarn, an die zwanghaften Halbscherze, die soziales Miteinander vorgaukeln. Bilder wie Stricke, die sich morgens, wenn ich nicht aufpasse, im Kopf winden und verknoten, es sei denn, dass ich sofort loslasse, das Denken einstelle und damit den Schmerz lindere.

27. November 2016 08:46










Markus Stegmann

im wald

warum
bin ich
ich

bin ich
ich
nicht mehr

27. November 2016 22:58










Nikolai Vogel

Große ungeordnete Aufzählung (Detail)

Überseecontainer,

28. November 2016 21:38










Nikolai Vogel

Große ungeordnete Aufzählung (Detail)

Waren aus aller Welt,

29. November 2016 21:54










Konstantin Ames

du, der beste mittelmäßige kopf mensch al forno

du, der plural dieser stadt pinkfarbenen gestanks (erst
ist das zweite, dann war das erste …,« hätte A
zum – zu wem auch immer – zum
B zum beispiel beim souper gesagt haben
können, ernsthaft) du einziges saartier ohne fanschal
bedarfst zweier dinge: der haftbeschichteten pfanne
unter dir, des morgensterschen monds in dir
dieser dinge nur dieser
tage du, ach was sag ich Ich, feuhernde kühe.

A = Adorno
B = Luhmann

(das sag haben« 18.10.2013)

30. November 2016 12:47










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (106)

30. November 2015, ein Montag

Eigentlich ist noch Sonntag, es ist kurz nach Mitternacht, nun ja, 00:45 Uhr, und ich komme aus dem Adventswochenende im norddeutschen Elternhaus. Es ist offenkundig, dass die Familie kein Zufluchtsort mehr ist. Mich ereilen dort mehr Panikattacken als anderswo. Fragt mich die Schwester, was ich derzeit arbeite (mit Betonung auf „arbeite“), flüchte ich schwitzend ins Wohnzimmer mit der für alle erkennbaren Ausrede, dort die Digitalisierung der Märchenplatten besorgen zu müssen. Vom Prinzregenten bin ich zum Patienten geworden, behütet von Mitleid und anderen Formen der Herablassung, und so ist die Familie ein Kampfgebiet geworden, in dem jedes Mal unter Aufbietung aller Kräfte und Duldung neuer Verluste ein Waffenstillstand verteidigt werden muss.

In diesem Alter noch Aufwallungen gegen den Vater, wer hätte das gedacht? Widerstände gegen Rechthaberei, Herausrederei, Angeberei … und wahrscheinlich deshalb, weil ich diese Tendenzen an mir selbst sehe. Könnte sie ihm als Gen-Erbe anlasten, gäb’s dafür nicht eine Ohrfeige der Existenzialisten. Tröstlich wiederum: Während wir drei Geschwister doch einige Neurosen aufzuweisen haben, ist die nachfolgende Generation erstaunlich cool und chillig geraten.

Kein Wunder, dass ich in die Anden reise. Ein neuer Fluchtpunkt desjenigen, der den Statthaltern der widrigen Zufluchtsstätte demonstriert, dass er gar nicht weit genug, hoch genug, riskant genug reisen kann, um seine Zuflucht in der Flucht zu suchen.

Zeitig zurück nach Berlin, um es in den kolumbianischen Film Embrace of the Serpent zu schaffen: über zwei Forscher im Amazonas-Urwald. Deutlich beeinflusst von Werner Herzog. Schönes Schwarzweiß. In den Passagen satirischer Darstellung christlicher Kolonisierung unangenehm theatralisch. Aber schön in den Bildern, in denen die Natur übermannt und die Regie übernimmt über das Geschehen (blöder Ausdruck). Ich schlief zwischendurch, vielleicht sickerten die Bilder durch die schläfrigen Lider noch besser ein. Zumindest fuhr ich heim mit dem mulmigen Gefühl, demnächst selbst in diese grünen Raubtierhölle, diesen menschenwehrenden Wahnsinn zu reisen.

30. November 2016 13:00