Gerald Koll
Das fünfzigste Jahr (27/28/29)
13. Juli 2015, ein Montag
Gestern Abend legte ich noch eine der alten VHS-Kassetten ein: Der versteinerte Wald, ein Film von 1935 mit Humphrey Bogart. Die Hauptrollen spielen Bette Davis und Leslie Howard: sie als Tochter eines Tankstellenbesitzers in der Wüste Arizonas mit Vorliebe für Francois Villon; er als desillusionierter Tramp und verkrachter Schriftsteller. Zusammen sind sie Geiseln eines ausgebrochenen Sträflings (Bogart). Eigentlich ein Kammerspiel, das sehr selten draußen ein paar Pappkulissen bemüht. Sonst lässt es die Menschen reden: über Poesie, Weltentwürfe, über Träume und Visionen und deren Verlust, über das Dasein nach dem großen Krieg. Man redet über Weltentwürfe. Ein sehr seltsamer und schöner Film von Archie Mayo. Und allein der Titel!
Was mir gestern beim Rasieren auffiel: Jetzt ist die Zeit gekommen, in der ich mir nicht mehr gefalle. Lange Zeit hing ich dem Traum an, dass die Zeit meinem Äußeren zuspiele: Gesicht markanter, Körper kräftiger. Jetzt wird die Fontanelleninsel größer, ein Streifen geweißter Haare liniert den Hinterkopf, die Frustration gräbt sich in die Gesichtszüge. Ich werde verbittert, und das sieht man. Wie gut ich mich erinnere an jenen Morgen vor einigen Wochen beim ersten Augenaufschlag im Bett: mit was für einem angewiderten Seufzen Kitty sich wegdrehte. Erwachen.
14. Juli, ein Dienstag
Gestern Abend legte ich wieder eine der alten VHS-Kassetten ein: wieder mit Humphrey Bogart, diesmal Gangster in Key Largo, ich könnte mich daran gewöhnen.
Mutti lädt ein zum Kurzurlaub in Ahrenshoop. Schrecklich, wie ich ihnen jetzt auch noch Kummer bereite. Ich wäre gern derjenige, der den lieben Alten unter die Arme greift. Mist.
Beim Zahnarzt. Die Krone – – – passt nicht. Sie wurde offenbar schlecht geschliffen. Der einzige Trost für diesen Termin bestand darin, dass es danach vorbei sein würde …
15.7.2015, ein Mittwoch
Gestern Abend legte ich wieder eine der alten VHS-Kassetten ein: wieder mit Humphrey Bogart, diesmal Abenteuer in Panama – Detektiv-Spionage um den Angriff auf Pearl Harbour mit Bogart als eine Figur namens Rick, verliebt in eine Frau namens Marlowe – da kommt einiges zusammen. Plötzlich haben mich diese 40er Jahre wieder. Heilfroh, meine VHS-Sammlung nicht verschrottet zu haben.
Schweigetag. Bis zum Nachmittagstelefonat mit der Mieterberatung bestanden meine Wortmeldungen aus „Gern“ (auf die Frage beim Bäcker, ob es ein Latte Macchiato sein darf), dazu „… und ein Laugen-Croissant“, beim Herausgehen ein „Hey“ (an C., der dort saß), dann mittags „eine Hühner-Crème, kleine Portion, bitte“ (in der Suppenküche), und im Park ein gesummtes „Slow down, you move too fast“, versehen mit einigen unscharfen Gedanken an verflossene Aussichten mit Meg und Amerika.
Ja, im Park. An „meinem Baum“ gelehnt, eher wohl ein Gefallen für Frau H. Die Energie-Verschmelzung halte ich für Firlefanz, der die Intelligenz beleidigt und überdies meine mühsam erarbeitete Emanzipation von den Ansprüchen religiöser Doktrinen.
Im Park die „Ballade der Typhoid Mary“ gelesen. Anrührend. Ich kann mich gut identifizieren mit diesem Mädchen, das ungewollt eine Typhus-Epidemie nach New York einschleppte: ob man will oder nicht, für die Anderen ist man eine Pestratte.
Nach dem Training zufällig D. getroffen und spontan auf 1 1/2 Bier in ein Gartenlokal spaziert. Das war nett.
1. August 2016 10:44