Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (27/28/29)

13. Juli 2015, ein Montag

Gestern Abend legte ich noch eine der alten VHS-Kassetten ein: Der versteinerte Wald, ein Film von 1935 mit Humphrey Bogart. Die Hauptrollen spielen Bette Davis und Leslie Howard: sie als Tochter eines Tankstellenbesitzers in der Wüste Arizonas mit Vorliebe für Francois Villon; er als desillusionierter Tramp und verkrachter Schriftsteller. Zusammen sind sie Geiseln eines ausgebrochenen Sträflings (Bogart). Eigentlich ein Kammerspiel, das sehr selten draußen ein paar Pappkulissen bemüht. Sonst lässt es die Menschen reden: über Poesie, Weltentwürfe, über Träume und Visionen und deren Verlust, über das Dasein nach dem großen Krieg. Man redet über Weltentwürfe. Ein sehr seltsamer und schöner Film von Archie Mayo. Und allein der Titel!

Was mir gestern beim Rasieren auffiel: Jetzt ist die Zeit gekommen, in der ich mir nicht mehr gefalle. Lange Zeit hing ich dem Traum an, dass die Zeit meinem Äußeren zuspiele: Gesicht markanter, Körper kräftiger. Jetzt wird die Fontanelleninsel größer, ein Streifen geweißter Haare liniert den Hinterkopf, die Frustration gräbt sich in die Gesichtszüge. Ich werde verbittert, und das sieht man. Wie gut ich mich erinnere an jenen Morgen vor einigen Wochen beim ersten Augenaufschlag im Bett: mit was für einem angewiderten Seufzen Kitty sich wegdrehte. Erwachen.

14. Juli, ein Dienstag

Gestern Abend legte ich wieder eine der alten VHS-Kassetten ein: wieder mit Humphrey Bogart, diesmal Gangster in Key Largo, ich könnte mich daran gewöhnen.

Mutti lädt ein zum Kurzurlaub in Ahrenshoop. Schrecklich, wie ich ihnen jetzt auch noch Kummer bereite. Ich wäre gern derjenige, der den lieben Alten unter die Arme greift. Mist.

Beim Zahnarzt. Die Krone – – – passt nicht. Sie wurde offenbar schlecht geschliffen. Der einzige Trost für diesen Termin bestand darin, dass es danach vorbei sein würde …

15.7.2015, ein Mittwoch

Gestern Abend legte ich wieder eine der alten VHS-Kassetten ein: wieder mit Humphrey Bogart, diesmal Abenteuer in Panama – Detektiv-Spionage um den Angriff auf Pearl Harbour mit Bogart als eine Figur namens Rick, verliebt in eine Frau namens Marlowe – da kommt einiges zusammen. Plötzlich haben mich diese 40er Jahre wieder. Heilfroh, meine VHS-Sammlung nicht verschrottet zu haben.

Schweigetag. Bis zum Nachmittagstelefonat mit der Mieterberatung bestanden meine Wortmeldungen aus „Gern“ (auf die Frage beim Bäcker, ob es ein Latte Macchiato sein darf), dazu „… und ein Laugen-Croissant“, beim Herausgehen ein „Hey“ (an C., der dort saß), dann mittags „eine Hühner-Crème, kleine Portion, bitte“ (in der Suppenküche), und im Park ein gesummtes „Slow down, you move too fast“, versehen mit einigen unscharfen Gedanken an verflossene Aussichten mit Meg und Amerika.

Ja, im Park. An „meinem Baum“ gelehnt, eher wohl ein Gefallen für Frau H. Die Energie-Verschmelzung halte ich für Firlefanz, der die Intelligenz beleidigt und überdies meine mühsam erarbeitete Emanzipation von den Ansprüchen religiöser Doktrinen.

Im Park die „Ballade der Typhoid Mary“ gelesen. Anrührend. Ich kann mich gut identifizieren mit diesem Mädchen, das ungewollt eine Typhus-Epidemie nach New York einschleppte: ob man will oder nicht, für die Anderen ist man eine Pestratte.

Nach dem Training zufällig D. getroffen und spontan auf 1 1/2 Bier in ein Gartenlokal spaziert. Das war nett.

1. August 2016 10:44










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (30/31)

16. Juli 2015, ein Donnerstag

Wie sehr ich inzwischen dieses Tagebuch liebe. Es protokolliert meinen Niedergang. Vielleicht heroisiert es ihn bzw. schreibt vor, was ich hier zu beschreiben glaube. Jeder richtet sich nach dem Wort, das er über sich abgibt.

Auffällig, wie selten es mir derzeit gelingt, die richtigen Worte zu finden. Sie schüren Unmut und verderben die Absicht. Heute, beim Bäcker, stellte eine Verkäuferin zwei Löffel in meinen Kaffee und rieb sich den Bauch, als ob er krampfe. So warm wie möglich sagte ich amüsiert: „Jetzt haben Sie mir sogar zwei Löffel in den Kaffee gestellt“, worauf die arme Frau eine Entschuldigung dahinstotterte, worauf ich wiederum in hocheilendster Beschwichtigung sorglich mich erkundigte: „Ist Ihnen nicht wohl?“ Sofort erstarb alle Unterhaltung in der Bäckerei, als wittere man den grämigen Kunden, der wegen eines überschüssigen Löffels persönlich beleidigt. Nun stammelte die Verkäuferin erst recht und alles war nur noch peinlich.

Nietzsche lässt Zarathustra predigen: „Ihr haltet es mit euch selber nicht aus und liebt euch nicht genug: nun wollt ihr den Nächsten zur Liebe verführen und euch mit seinem Irrtum vergolden.“ (S. 147)

Im Nebenan im Hause fächelt man gnadenreiche Güte über meine ungebilligten offenen Briefe: Es werde Zeit vergehen, man werde vergessen. Was sie keineswegs vergessen wird, wird sein, dass sie vergessen wollte. Sie wird im Gedächtnis verwahren, dass sie es war, die verzeiht.

17. Juli, ein Freitag

Um 8:15 beim Zahnarzt. Kronen-Einsatz, 2. Versuch. Empfang mit der Mitteilung, das Labor habe mit dem letzten Abdruck nicht arbeiten können. Daher werde nun ein neuer angefertigt. In einer Woche folgt der 3. Termin.

Beim Amt reiche ich Unterlagen auf Erteilung eines Künstler-Wohnberechtigungsscheins nach. Die Frau am Schalter ruft ihrer Kollegin vis-à-vis zu: „Künstler-WBS? Noch nie gehört! Du?!“ „Nee!“ Sie prüft die Unterlagen: Der zuständige Sachbearbeiter hatte, obwohl er das richtige Formular von mir ausgehändigt bekommen hat, das Falsche angekreuzt, nämlich: Antrag auf Wohngeld. Ich ahne Böses. Auch, weil ich irgendeinen Mietvertrag vorweisen muss, aber mein Hauptmieter sich drückt, mir den erbetenen Mietvertrag zu schicken. Leider. Da hätte ich in der Vergangenheit mehr hinterher sein müssen, statt naiv auf Vertrauen zu setzen.

Beim Aikido hat Gerd Sensei mich zum ersten Mal nach vorn geholt – es war keiner der Stamm-Ukes da, so dass die zweite Garde zum Zuge kam. Und sofort: Gerd karikiert Gerald als Stein. Dennoch genossen.

Sehr schön: Der Schatz der Sierra Madre (USA 1947) mit Humphrey Bogart als Bettler in Mexiko, den die Goldsuche zum gierigen Knilch verwandelt – eine unübliche Rolle, die Bogart mit Lust am Ekel füllt.

2. August 2016 11:25










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (32/33)

18. Juli 2015, ein Samstag

T+N laden mich für den Abend zum Spaghetti-Essen ein. Zuvor hatte ich T. auf Nachfrage gesteckt, dass es mit Kitty vorbei sei. Ich sage ab, denn es zöge mich recht sehr ins Kino … haha! Es zieht mich nirgends hin. Es zieht mich, als hätte ich eine dringende Verabredung, in meine grämige Grübelei.

Die zwei Mrs. Carrols gesehen – typischer film noir meiner Bogart-Reihe. Letztlich ein recht simples Theaterstück, aber die Stilisierung hat natürlich etwas sehr Feines an sich.

19. Juli, ein Sonntag

Zwei Träume nach 6 Uhr und erfolgter Morgenbettlektüre, also fast schon keine richtigen Träume mehr, sondern Halbwachträume.

Im ersten gehe ich in die Küche, die etwas anders aussieht als meine. Die Gardine weht. Dahinter ahne ich, ohne dass ein Schatten erkennbar wäre, einen Mann: Inio Asano, der Mangaka (dessen neuen Manga ich ja auch zuvor gerade in der Wachphase gegen 6 Uhr gelesen hatte). Und ich denke: Boah, Inio Asano in meiner Wohnung! Und ich spreche ihn an.

„Asano?“

„No.“

„Inio?“

„No.“

Es stellt sich heraus, dass es gar nicht Inio Asano ist, oder der Mann zumindest nicht zugibt, Inio Asano zu sein, aber auf jeden Fall aus seiner Wohnung musste und nun hier ist. Das ist dann ein wenig enttäuschend.

Zweiter Traum: bei Heilpraktikerin H. Die sieht im Traum etwas besser aus als im Original: jünger, blond, eigentlich völlig anders. Worüber wir reden, ist mir gar nicht so klar, außer, dass sie mir verrät, dass Freund J. neben L. auch eine andere Frau habe („sie hätte kommen lassen“) und sich dabei eins gelacht habe … Zwischendurch gehe ich in H.s. Küche und schmiere mir ein Nutella-Brot (was natürlich eigentlich nicht infrage käme, jedenfalls nicht in der Praxis von Frau H.), und als ich zurückkehre, sehe ich, dass die blonde jüngere Frau tatsächlich gar nicht Frau H. ist, sondern jemand anders. Und diese Frau möchte einige Fragen klären, zum Beispiel, wann ich wiederkäme (einen neuen Termin lehne ich ab), und dass ich für die Behandlung meine Hose ausziehen müsste. Wieso denn plötzlich die Hose?, frage ich. Aber ihre Antwort kann ich nicht verstehen, denn der Staubsauger ist furchtbar laut (wahrscheinlich außerhalb des Traums die Entlüftungen im Hinterhof). Jedenfalls lege ich mich halb über den Tisch und bitte die Blondine, lauter zu sprechen. Sie lässt ihre Kollegin kommen, um nachzuweisen, dass sie sich in ihrer Lautstärke gut verständigen können, aber ich sehe der Kollegin an, dass sie die Blondine auch nicht versteht. Sie geht hinaus, und mir kommt mir die Blondine immer verdächtiger vor. Ich folge ihr, sie ist aber schon im Mantel und im Begriff zu gehen. Ich bitte sie, sich künftig bitte höflicher zu verhalten und packe sie am Arm. Darauf kehre ich zurück, doch diesmal ist sie es, die mir folgt. Vor der Tür zum Behandlungszimmer drehe ich mich um, sie lächelt mich an, und wie als Retourkutsche packt sie mich nun an den Ellenbogen, doch ich winde meine Arme heraus, als handle es sich um eine Aikido-Technik.

3. August 2016 08:25










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (34/35/36)

20. Juli 2015, ein Montag

Das zwickende rechte Knie mit seinem Haarriss im Miniskus. Nach Aikido-Lehrgang und Wanderung sollte ich ran, so kann das ja nicht bleiben.

Beiße mich durch Wittgensteins Tractatus logico philosophicus, seine sprachkritische Grundlagenarbeit, die die Grenzen des Diskutablen definieren möchte, so weit ich verstehe. Aber ich verstehe nur manches. Mir scheint, hier werde Metasprachliches und Meta-Denkliches ausgeklammert, was immerhin schützt vor haltlosen Spekulationen, aber eigentlich weiß ich, dass ich zu wenig davon verstehe, um mit diesem logischen Geist zu reden.
So viel meine ich zu verstehen: dass Wittgenstein in seinem Rigorismus stur gegen Psychologie und Philosophie und deren Aus- und Höhenflüge angeht, indem er sagt, dass „Werte“ und „Ethik“ und „höherer Sinn“ nicht beantwortet werden können, weil sie nicht Teil der Welt (der Welt der Logik und Elemente, zu der eben auch Sprache und Denken gehören) sind. Damit verbietet sich auch die Frage danach (denn die Frage selbst ist ja Teil der Welt und der Logik und der Elemente). Und das wiederum führt natürlich zu einer gewissermaßen resignativen Begrenzung unserer Zweifel, der ja immer etwas Anmaßend-Höhenfliegerisches hat.
Und leider muss ich dabei abermals bekennen, dass schon die hiesigen und diesseitigen Fragen/Antworten der Logik zu hoch für mich sind. Ich überfliege all die Logarithmen, eigentlich untergrabe ich sie eher, schließe die Augen davor, um sie beim nächstverständlichen Satzes wieder zu öffnen.

All die Bücher, die ich irgendwann einmal unbedingt gelesen haben wollte … Ich lese zu viel. Ein passives Lesen ohne eigenen Schreibimpuls. Bestenfalls wird diese Zeit später als verplemperte Zeit verklärt. Ich hätte Zeit für soziale Arbeiten, aber ich nutze sie nicht. Begonnen mit Dickens‘ Bleak House – sehr vielversprechend.

21. Juli, ein Dienstag

Unterlagen scannen, zur Mieterberatung – ein lähmender Zeitaufwand, und doch: fast befriedigend, aktiv und im Sinne von Zukunft tätig zu sein.

Nach Aikido (übrigens sehr schöne Einheiten mit C.) noch einen William Wyler (Die besten Jahre unseres Lebens) und einen Preminger (Laura) gesehen. Sucht nach Serie und Struktur.

Kitty will und will nicht aus meinem Kopf. Was sie wohl macht ??? Na, was wohl! Bitter, bitter.

22. Juli, ein Mittwoch

Weiter mit Behördenkram: scannen, nochmal scannen, dreimal scannen, von morgens bis zur Mietbewerbung um 15:30 Uhr, weil Fehler unterlaufen und alles fünfmal länger dauert als geplant und nötig. Glück für diejenigen (wie mich), die ja auch sonst nichts Besseres zu tun haben.

Zwischendurch mit Aikidoka R., der hier im Kiez seine exquisiten Scheren feilbietet, einen Kaffee getrunken und gemerkt, dass man mit allen Aikidoka nach kürzester Frist nur über Aikido sprechen kann.

Ex-Freundin M. erscheint nach Jahren (?) auf der Bildfläche, zumindest per sms und am Telefon. Erotische Erinnerungs-Reflexe, gefolgt von ebenso reflexhafter rationaler Zügelung.

Die Ungetreue von Preston Sturges (1948) – der erste wirklich langweilig-blöde Film meiner 40er-Serie, eine Komödie um einen eifersüchtigen Dirigenten mit einem chargierenden Rex Harrison.

4. August 2016 10:28










Sylvia Geist

Floralsatire

Hinterher fanden sie mich halb versunken neben einer
Parkbank, Dreck im Pelz und zwei rote Nelken in den Augen.

Der andere kannte mich nicht, aber morgen beweisen sie,
ich war Spielmann, Wolfsbändiger, bockböser Nachtschaden,

am Ende hungernder Eintänzer. Doch selbst versetzt mit Alkohol
und Salz bin ich ein Brutkörper, voller Leben. Es hängt an mir.

Mädesüß sprießt es in den Hotspots der inneren Besichtigung,
blüht im Thorax auf, sprengt das Cranium, es wimmelt

wie von Sommerschnee in meiner aufgesägten Laube, wie früher,
als ich noch mit Löwenzahn eroberte. Eine Menge habe ich

auch mit Blumensträußen erreicht, die ich irgendwohin warf,
und Juli kam mit Rose, dann Iris, Jasmin, Erika usw.

Von meiner Art sind nicht mehr viele. Hundeplätze grassieren und
Inkasso. Und die Besserungsphrasen an kranken Betten, Nelken –

im Ernst, meine Jagd ist heut ein Comicstrip auf altmodischen Vasen,
denen sie die Mäuler mit Nelken stopfen. Für mich keine.

noch mal für Arne, nach dem Gedicht „Der Nelkenherr“ von Rautenberg

5. August 2016 10:47










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (37/38)

23. Juli 2015, ein Donnerstag

Ruheloses Gehen im Kiez-Karree. Spazieren sollte ich, Glück tanken und mit scharfen Blicken den Passanten ihre Gesichter ablösen, um sie einzukleben ins Album daheim, doch ich erledige lediglich das Pensum, als habe man mir das Gehen verschrieben.

SMS-Verkehr mit Exfreundin M. – wie viele Jahre haben wir uns nicht gesehen – wirklich acht? Wie die wohl aussieht?

Post vom Amt: Verlangt werden Nachreichungen, die meinen Mehrraumbedarf belegen. Erneut unliebsame Befriedigung über behördliche Zumutung, über die ich mich empören könnte und meine Zeit in einen staatsbehördlichen Dienst stellt.

Zahnarzt: Krone zum Dritten. Beim Einsetzen empfindlich. Hoffentlich werden die nächsten Tage gut, sonst sofort wieder hin, bevor man’s nicht wieder loskriegt.

Auf der Rückfahrt vom Aikido erhebt sich dringlich der Wunsch, auf der Jannowitzbrücke in den Sonnenuntergang zu schauen. So tu ich denn, nüchtere aber sofort aus und fahre eilig weiter.

24. Juli, ein Freitag

Gott als blinder Fleck in der Wahrnehmung. Dieser Gedanke erschien mir beim Aufwachen so niederschrifttauglich, während der Niederschrift bereits nicht mehr.

Filmabend der „Japanischen Filmreihe“ mit den Aikidoka: Seom – Die Insel – der schmerzerfüllte Film von Kim Ki Duk. Kaum jemand hält ihn aus, viele machen dem Innendruck Luft und lachen und geben Kommentare, um sich diesen Angriff vom Leib zu halten. Neben mir sitzt Frau S. auf Tuchfühlung, was ich einerseits reizend finde, was ich andererseits aber gar nicht reizend finde. Es wäre absolut idiotisch, in diese Richtung zu liebäugeln.

5. August 2016 14:51










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (39/40/41)

25. Juli 2015, ein Sonnabend

Der schönste Tag der Woche: morgens freies Training. Viel ushiro-ryote-dori. Wenn keine Verletzungen auftreten, dürfte alles geschmeidig ablaufen bei der Prüfung.

Danach mit dem Fahrrad zum sogenannten Berliner Fotomarathon; mit dem Übertreten der Schwelle flutet mich das Gefühl, kaum eines der Fotos könne mich interessieren und ich sei lediglich dort, um ein selbstgestecktes kulturelles Wochen-Soll zu erfüllen. Speditives Checkern, frühe Flucht.

Wylers Sackgasse (USA 1939) – Humphrey Bogart vor seinem großen Ruhm. Anrührend: Er gibt dem Gangster Seele, und Wyler dreht ein wirkliches Sozialdrama mit einer Prise Gangstertum. Eine hübsche Entdeckung, auch wenn Gram und Grübeln nur für Momente verschwinden.

26. Juli, ein Sonntag

Das allsonntagliche Telefonat mit den Eltern. Vati kündigt an, er werde mir seine Familienchronik noch mal zur Durchsicht zusenden (wie oft denn noch?), aber es habe keine Eile, ich möge danach gehen, „wie es meine Geschäfte zulassen“. Innerlich sofort aufgebracht. Ich bin Wunde. Man hört: Schwester U. verzeichnet Arthrose-Befund in den Knien. Man weiß: Schwester S. mit rheumatischen Beschwerden. Man ahnt: marodes Erbmaterial, demnächst verschrottet durch die familiale Lust an Hoch-und Überdruck.

Tee-Treffen zur Dojo-Sache bzw. zu J. und seinen Entgleisungen: Ein Aikidoka-Zirkel findet sich ein im Garten des Sensei, debattiert mit dem Störenfried und über ihn. Auf dem Heimweg Unbehagen trotz Einsichten des Friedlosen über seinen Tunnelblick. Unbehagen über Debattierverhalten, über Diplomaten, die ihre Verständnissinnigkeit demonstrieren mit Einleitungssätzen wie „Mich hat sehr berührt, wie …“, was mich sehr unangenehm berührt. Aber letztlich: die Arbeit ist getan. Ab jetzt: Urlaub davon. Was J. damit anfängt, ist seine Sache.

27. Juli, ein Montag

Frühstück mit Verleger Z., „meinem“ Verleger (haha: ein Buch!). Der ist ja nun charmant und beredt und lustig gesegnet mit vielerlei Wissen und Interessen. Vielleicht aber werde ich langsam blöde. Ich vermisse eine gedankliche Schärfe bei mir, ein pointiertes Denken. Ich tappe recht oft im Nebel halber Gedanken und hoffe auf halber Strecke, irgendwo heil herauszukommen. Auch verhehle ich ihm gar nicht, dass im Augenblick nicht viel los ist mit mir. Das könnte man noch als Klarsichtigkeit verbuchen, bringt aber natürlich nicht viel.

6. August 2016 17:10










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (42/43/44)

28. Juli 2015, ein Dienstag

Juckende Stellen schon seit Tagen. Wahrscheinlich Ungezieferbisse. Flöhe? Mein Bett ist ein sozialer Ort.

Heute abend kommen drei Aikidoka zum Essen, ich koche – wie fremd schon allein der Gedanke! – ein Drei-Gänge-Menü mit Tomatensuppe, Bratkartoffeln, Eis-Himbeer-Baiser. Dessert ist einfach. Schwieriger ist die Tomatensuppe. Schon das Wort „Dünsten“ muss ich googeln. Nicht eben haute cuisine, die Tomatensuppe in der Schüssel zu lagern, in der sonst der Putzlappen liegt …
… Nach Mitternacht: glücklich abgespeist. Durch den Schleier möglichst lässiger Geschäftigkeit sah ich die Ströme der Gespräche fließen und dachte: Ja, so muss Leben sein.

29. Juli, ein Mittwoch

Auf einem Bahnsteig telefoniert eine kleine junge Frau. Sie trägt Jogginghosen und sagt sehr energisch, sie sei „zunächst einmal sauer auf die … Jenny Fotzenschön …“

Vierter und bitte vorerst letzter Termin bei Heilpraktikerin H. (die sich selbst lieber als Seelenheilerin bezeichnen würde). Sie begegnet meiner Skepsis an der Methode mit Hinweis auf naturwissenschaftlich belegbare Erkenntnisse über morphogenetische Felder (ererbtes Wissen innerhalb genetisch verbundener Gemeinschaften) und verweist auf Rupert Sheldrake als wissenschaftliche Referenz. (Das recherchiere ich später und sehe: Laut Wikipedia sind Sheldrakes Hypothesen über das „Gedächtnis der Natur“ von der etablierten Wissenschaft als pseudowissenschaftlich abgelehnt worden; zu den wenigen Befürwortern zählt Bernd Hellinger, der die Familienaufstellung als psychotherapeutische Methode prägte und seinerseits umstritten ist.) Meine Einwände gegen die jüngste Auswahl der während unserer Behandlung heranzitierten Engel entkräftet Frau H. mit souveräner Leichtigkeit: Dies alles seien eigentlich lediglich Energiekörper, die ins Totenreich begleiten, je nach Kultur unterschiedlich ausgestaltet. Es hätte auch ein Bär oder ein halb-skelettiertes Wesen sein können, aber solche Wesen seien eben eher in anderen Kulturen tätig, hier nähme man Engel. Frau H. kann auch mit gänzlich nicht-scharlatanischer Nüchterneheit von ihrer Erleuchtung und ihren Erleuchtungsmomenten sprechen, inklusive ihrer großen Skepsis an den Mitteln der Sprache, die an solchen Bereichen (im Jenseitigen) nichts mehr greifen könne. Überdies gelte es auch in meinem Fall, das dauernde Festhalten und Kontrollieren aufzugeben. Es würden noch härtere Kämpfe auf mich zu kommen als bisher: eine noch ärgere Gegenwehr von Ego und Persönlichkeit. Da würde ich durch müssen.
Im nächsten, kinesiologischen Behandlungsschritt hält Frau H., wohl mit Rücksicht auf meine methodischen Zweifel, den „heiligen Raum“ sehr abstrakt: Er ist nicht bewohnt von Engeln, sondern von Lichtkörpern. Mir ist, als wäre der heilige Raum gerade saniert worden.

30. Juli, ein Donnerstag

Wie mich das drängt, diesen Tag nach dem H.-Tag Revue zu passieren. Morgens eine Mail vom Sensei, einsetzend mit „Lieber Gerald, ich liebe dich, danke für deine Mail“ – wann hat es so etwas schon gegeben? Dazu ein überaus milder Email-Verkehr mit Kitty, der dann einvernehmlich ermüdet und einschläft. Zur Eiche. Die war warm.

Lade J., den wilden Siegfried, zum Besuch des Jüdischen Museums und der Ausstellung „Gehorsam“ ein, siehe: Er willigt ein und hält es aus. Was für ein therapeutischer Tag. Welche Droge hat Frau H. da eingeträufelt? Und wann werden die Mühlsteine wieder ihr Mahlwerk aufnehmen?

7. August 2016 10:52










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (45/46/47/48)

31. Juli 2015, ein Freitag

Jetzt, am Abend, lässt die Wirkung jener Tröpfchen nach, die mir auf der Zunge zergingen unter der heiligen Pipette von Frau H. und mich mit der Welt vereinten. Vielleicht diente auch Noah Baumbachs Gefühlt Mitte Zwanzig als Ausnüchterungszelle. Da lässt sich ein Paar von Mitte Vierzig auf ein junges Hipster-Paar ein und sieht sehr schnell sehr alt aus. Allerdings wirkt Er (Ben Stiller) vergleichsweise deutlich vitaler als ich: ein zwar gescheiterter Dokumentarfilmer, aber einer mit Ambitionen; ein zwar törichter Partner, aber einer mit Ehefrau (und zwar Naomi Watts); ein zwar verworrener Wohner, aber immerhin mit cooler Wohnung etc.

1. August, ein Sonnabend

Die Beschäftigung mit Vatis Familienchronik ist ein ewiges Stolpern. Mal überliest er meine Anmerkungen, dann missversteht er sie, dann misslingt das Versenden – ein ewiges Nachsetzen, Nachholen, Würgen, obwohl es im Grunde mein Wunsch ist, Vati im Produktivdasein zu begleiten. Wir schauen einander in die unendlich aufgefächerten Spiegel unserer Renitenzen und Erwartungen. Wenn er am Telefon fragt, was ich heute denn so machen würde, fühle ich mich sofort wie im Kreuzverhör.

2. August, ein Sonntag

Heute morgen sitzt beim Bäcker, wie jeden Morgen, der geistig etwas zurückgebliebene Mann mit dem vergreisten Kindsgesicht und plappert im Selbstgespräch. Es sind Wallungen. Mal kleinere und größere Blasen, die aus dem Morast unhörbaren Selbstgesprächs an die Oberfläche steigen. Er ist die Kehrseite all jener Leute, die über unsichtbare Anstecker telefonieren und anmuten wie Gestörte im Selbstgespräch. Im Gegensatz zu ihnen wirkt der Mann beim Bäcker wie jemand, der telefoniert. Aber eigentlich macht er das ja auch in seinen im Kreisverkehr verlaufenden Ich-Dialogen.

3. August, ein Montag

Täglich spüre ich das rechte Knie und weiß doch, dass es noch einen Monat durchhalten muss. Ich bin ziemlich sicher, dass dort eine Art Splint lose ist, der im besten Fall verleimt werden müsste.

Das Soll von drei Kapiteln in Dickens‘ Bleak House erfüllt. Was normalerweise die Belohnung vom Tagewerk sein sollte, ist mangels Tagewerk selbst zum Tagewerk erhoben. Das ist mittags erledigt, genauso, wie das Mittagessen um 12:15 Uhr erledigt ist. Was ich mir täglich abverlange, ist lächerlich wenig. Als wäre ich mein eigener Psychotherapeut, der seinem Patienten nur das mindeste zutraut.

8. August 2016 09:27










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (49/50)

4. August 2015, ein Dienstag

Ab morgen wird gefastet. Heilgefastet. Besorgung einer Unterkunft am ersten Tag der Wanderung, Schriftverkehr mit Genossenschaft, Ausfüllen der Krankenversicherungs-Anträge für den Wechsel in die Gesetzliche, Impfung (Zecken), und schon geht’s dahin.

Heute Abend wieder Mieterversammlung – die erste nach dem letzten Eklat …

5. August, ein Mittwoch

Die Mieterversammlung verlief glimpflich, zumal ich Frau H.s Rat befolgte, nicht die Laus im Pelz zu sein, sondern still den Dingen zu folgen. Es wird ziemlich resigniert geklungen haben, wie ich sagte, keine Einwände zu erheben. Dieses Resignative wird mir heute Morgen beim Frühstück sehr klar. Dabei dämmert die Vorstellung, mit so einer Resignation aus dem Leben zu scheiden, wenn die Hoffnungen aufgebraucht sind. Also auf eine Weise, dass die Umgebung mit der Schulter zuckt. Die Vorstellung, in dieser Verfassung über den fünfzigsten Geburtstag zu kriechen und mich mit irgendwelchen Fernreisen von einer Lebenswürdigkeit zu überzeugen, lässt draußen am Tisch beim Bäcker meine Augen feucht werden. Ich merke, wie sich der Gedanke einkrallt, dass es eine Option ist, aus dem Leben zu scheiden, und möglicherweise bezeichnet genau dieser Gedanke die Schwelle zur Krankheit und Krisis und das, was Frau H. mir für meine Zukunft prophezeite.

Bei Kafka wird es nachzulesen sein: dass die Macht des Opfers darin besteht, seine erlittenen Verletzungen zur Schau zu stellen und die Täter damit an ihre Taten zu erinnern. Und außerdem, dass diese Macht nur eingebildet ist und in der Fantasie des Opfers besteht, da die Täter tausend Strategien und Schlichen ersonnen haben, dieser Attacke auszuweichen. Haben die geschundenen Freaks auf Jahrmärkten jemals das Publikum zur Einkehr gebracht? Nein, sie haben gejohlt und gezahlt und damit ihr Recht auf Hohn und Verachtung erkaufen können. Und Schweinsteiger hat im WM-Finale seine Wunde nur deshalb so glorreich-heroisch präsentieren können, weil sein Täter in der Minderheit war und Schweinsteiger – als Sieger des Titels – im Gewand des Opfers der eigentliche Täter blieb.

Es bleibt erbärmlich zu glauben, jemanden damit beeindrucken zu können, indem man ihm sein „Das habt ihr aus mir gemacht“-Antlitz zeigt. Der Andere hat damit nichts zu tun. Er wird – mit Recht – entgegnen: Das hast du aus dir gemacht. Wie wirke ich auf Andere mit meinen Minirebellionsanflügen: wie all die Spinner, die ihre Frust-Weltsichten in die Gegend motzen und den Zeitungslesern der Bäckerei auf den Wecker fallen.

Dies ist der erste von vier Fasten-Tagen. Das Fasten lässt sich seltsam an: die mit Glauber-Salz angetriebene Entleerung erfolgt nicht, obwohl ich mittags eine Zusatzportion in mich hineinschütte. Erst gegen 18 Uhr entfaltet das Abführmittel seine Wirkung, dann allerdings mit Macht, leider gerade zum Zeitpunkt, als ich zum Aikido-Training will und als lauter Nachbarn im Treppenhaus herumgeistern. Das Klo auf halber Treppe ist in solchen Phasen sehr weit weg.

9. August 2016 10:57










Tobias Schoofs

SIEBZEHN

was hier beschrieben steht ist
unsichtbar ein zeilengrab in dem
du weggekommen bist was hier

beschrieben steht besteht nicht
mehr ich hab dir doch gesagt
du sollst für nachwuchs sorgen

stattdessen bist du weg und alle
sagen was der hier beschreibt
ist ausgedacht als wirklichkeit

doch gar nicht möglich hättest
du dich rangehalten könnt ich
leicht auf deine brut und damit

auch auf dich verweisen und
du und das hier wären doppelt

9. August 2016 20:35










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (51/52/53)

6. August 2015, ein Donnerstag

Mit dem Gedanken ins Bett zu gehen, dass man Angst vor Angstträumen hat, ist eine ziemlich gute Garantie für eine schlechte Nacht. In den einen Träumen möchte ich nach Krumme Lanke, werde mit dem Auto an einer Gabelung rausgelassen und weiß nicht mehr, wohin. Außerdem kann ich mich nicht gut bewegen. Und wache ich aus dem Traum auf, spüre ich das rechte Knie.

Dieser zweite Fastentag setzt mich völlig matt. Ein hartnäckiger Kopfschmerz, der sich nachts zwischen Nasenwurzel und Stirnhöhle eingenistet hat, geht nicht weg. Erst gegen 17 Uhr wird er schwächer. Fasten versetzt mich spürbar in einen Mangel- und also Krankheitszustand. Das passt zu meiner Situation: Ich mache mich krank. Ich unterlaufe die Ernährungsvorgaben durch zwei Löffel Apfelmus und etwas Saft. Sonst würde ich völlig siechen. Ich werde Aikido schwänzen.

Nachmittags die ganze Zeit im Bett. Zwei Träume: Im ersten lebe ich in einer eher großzügigen Wohnung mit Balkon. Es klingelt. Kitty und – ach, was?! – ihr neuer Freund, der mir irgendwie aus Filmen bekannt vorkommt, stehen vor der Tür. Ich bewirte sie und spiele den Gastgeber, bis mir in einer ruhigen Minute einfällt, dass das dämlich ist und ich mich heimlich aus der Wohnung mache. Im zweiten Traum gerate ich trotz wartender Schlangen und uniformierten Wachdiensten durch einige Schliche in einen Lidl-Supermarkt und fische nach Bananen, die dort auf einem Bord über einem Bett liegen.

Hitzewelle über Berlin. Heute deutlich über 30°C, morgen werden 37°C erwartet. Das ist natürlich totaler Blödsinn, sich bei dieser Hitze auszumergeln.

7. August, ein Freitag

Recht angenehm erwacht. Zwar in einem Traum, in dem ich im Sehnen nach einer Frau das Nachsehen habe, aber das störte nicht allzu sehr.

Das Frühstück nach dem freien Training ist normalerweise ein Fest. Heute sitze ich mit meinem Wässerchen dabei. Für den Rest des Tages Darben und Trinken auf dem Sofa. Dieser dritte Fastentag sieht Darmentleerung vor. Bloß nicht noch einmal diese Entwässerung. Ich werde es mit Kaffee probieren.

Das hat nicht geklappt. Also noch eine Portion Glauber-Salz in banger Erwartung.

9. August, ein Sonntag

Gegen 3:30 Uhr erwacht in der Sommerhitze, schlaflos und müde. Nachgeschaut im Internet: Ricky Gervais hat sich aus seinem facebook-live-Blog verabschiedet, etwas rüde sogar.

Kittys Züge gehen langsam verloren. Die Projektionen, die ich auf sie lud – Kinder, Familie, Zukunft, Lebenssinn, Neuanfang, Allesgut – winden sich um einen Namen, nicht um ein Gesicht oder einen Menschen mit Kontur.

Im Morgenblau nach ersten Tagebucheinträgen friedlich entschlummert, sogar mit Traum von etwas Erotischem und vom Essen eines Brötchens mit belegtem Ei – zuletzt also ein erfüllbarer Traum.

(Fast erfüllbar: Beim Bäcker stellt sich heraus, dass Schnitt-Ei aus ist.) Fasten beendet. Sofort reingehauen. Alles, auch Eis.

Die Morgenlektüre in Bleak House liest sich wie ein Kommentar auf meine Situation im Hause. Bei Dickens rankt sich das Geschehen um die unheilvolle Mühle der Justiz, namentlich im Fall Jarndyce contra Jarndyce, einer Mühle, in die sich der sonst arglose Richard ziehen lässt und in den Sog von Argwohn, Zweifel und sonstiger Zermürbung gerät.

10. August 2016 11:20










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (54)

10. August 2015, ein Montag

Gestern Abend fuhren einige Aikidoka und ich nach dem Training zum Weißensee, badeten und gingen essen beim Asiaten. Hübsch. Und mir dämmerte, dass mein Zustand sich erst wirklich ändern könne, wenn ich lange wandere. Also nicht nur über die Alpen, sondern in Bolivien oder Peru am Titicacasee oder irgendwo anders. Nur dann würde sich der Blickwinkel im nötigen Maß verschieben. Natürlich ist das eine Flucht, aber aus Furcht vor Fluchtverhalten in Dauerschockstarre zu verharren, ist schließlich auch keine Lösung.

Heute Vormittag doch noch ein weiteres Rundschreiben an Genossenschaft und Mitbewohner – unter erhöhtem Schweißaufkommen. So nüchtern geblieben wie möglich, dennoch in Erwartung der wutschnaubenden Meute unter der Maske heiliger Entrüstung.

Halbherzige Bewerbungen meines Metjens nahmens Preetzen bei 3sat, ZDF Kultur und ORF III, den Sendern, die sich auch für 88 – pilgern auf japanisch erwärmt haben.

Herr S. von der FAZ schreibt, mein Expeditions-Vorschlag Richtung Papua-Neuguinea bzw. Kuruwai erübrige sich, weil Redakteur L. das Land im September bereise. Ist Papua-Neuginea gerade in Mode gekommen?

Planung für meine Anreise nach Siebratsgfäll, Ausgangspunkt der Alpenüberquerung. Braucht etwas lange, so eine Planung, aber irgendwie auch schön, so ein erster Schritt in Richtung Wanderreise.

11. August 2016 08:47










Christine Kappe

die Frauen ohne Köpfe, die Siegerkränze mit den abgehackten Händen, der gotische Durchbruch, dahinter zieht jemand die Landschaft weg, die nur auf Folie gemalt ist, bunte Lichterketten, zum besseren Verständnis.

als ich aufs Klo gehen, sehe ich die Kinder dort Frösche auf die Heizung legen, zum Trocknen, es gibt kaum Stühle, & alle essen mitgebrachte Sachen, nur wir haben nichts mitgebracht, außer unseren Texten, die keiner lesen will, die Kinder spielen ‚Mord im Dunkeln‘, im Hellen, im Ernst.

ich habe Bücher früher anders gelesen, ernsthafter & wie als Sport, ich meine, die Seiten richtig umgeblättert, & möglichst viele am Tag, & immer gegen die Welt, immer gegen die Welt.

12. August 2016 06:37










Mirko Bonné

Oboe

Schließ den Mund über der Oboe,
die weißen Töne strahlen
die Luftröhre hinunter
auf dein nacktes Herz.
Frühmorgens, am Tisch
die Milchjahre, eingetauscht
gegen die Angst der Hand vorm Papier,
Einen im Rücken, nah, dass er jede
Silbe zwischen den Zeilen errät.
Wortmulm, Eroberungen des Maulwurfs.
Wo denn ein Land finden, wie zwei Schritt weit
folgen einem Gedanken, da zurückmündet
in die Schuhspitzen der Meridian.
Schließ sie über der Oboe,
deine Lippen. Milch
fließt durch die Röhre, und
wir bilden einen Gesangkreis. Ich
tausche die Bissstellen
im Tisch gegen eine
geheime Musik ein, und du
komm, du komm einmal um die Welt.

*

12. August 2016 10:22










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (55)

12. August 2015, ein Mittwoch

Per Rundschreiben entgegnet der Genossenschafts-Vorstand, mein Brief sei „feige“ und findet: „Momentan denke ich, dass unser Projekt und die Forderungen und Vorstellungen von Gerald nicht kompatibel sind.“ Ich frage mich, ab welchem Punkt des Rauskegelns ich einen Rechtsbeistand hinzuziehen muss. Seitens der Hausgemeinschaft ist keine Solidarität zu erwarten, das ist klar.

Zum fünften Mal bat ich heute meinen Hauptmieter um schriftliche Ausstellung des vereinbarten Untermietvertrages. Er schweigt. Offenbar im Kalkül, die Zeitnot dränge zur Unterschrift seiner Vertragsversion, die mir nach diesen zehn Jahren keinerlei Mietdauergarantie gewährt.

12. August 2016 13:22










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (56)

13. August 2015, ein Donnerstag

Rechtsanwalt Dr. H. schreibt, der Gerichtstermin gegen die Zeitung, die mir kündigte und trotz 25 Jahren kontinuierlicher Mitarbeit keine Abfindung geben will, sei leider wenig günstig verlaufen. Umso ungünstiger, als die Richterin Dr. G.-D. hellauf empört gewesen sei, dass ich nicht persönlich erschienen sei und eine persönliche Entschuldigung dafür verlangt habe. Nun war ich in der Tat nicht erschienen, und zwar auf Anraten meines Rechtsanwalts Dr. H., der mir im Vorfeld erklärt hatte, das sei bei solchen Terminen weder üblich noch nötig. Tja, gestand nun Rechtsanwalt Dr. H. auf Nachfrage, das habe er wohl falsch eingeschätzt, wie die Kollegen in Kiel so drauf seien. Zwar könne ich, habe die Richterin Dr. G.-D. mitgeteilt, Widerspruch einlegen, aber der würde sowieso abgewiesen werden. Im Protokoll ist zudem erwähnt, es fehle „jeglicher substantiierter Vortrag, der erforderlich ist, um hier ein Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien festzustellen“. Und ich erinnere mich momenthaft sehr lebendig an den Vorbereitungs-Termin, als ich Rechtsanwalt Dr. H. das gewesene Arbeitsverhältnis unter Vorlage von Papieren konkret und en detail beschrieb, schriftlich substantiiert sozusagen, mit Substanzen allerdings, die er seinerseits aus- und in den Wind schlug mit dem Hinweis, solche Ausarbeitung sei Sache des Anwalts. Per Güteverhandlung wurde eine Abfindung von 2.500,- EUR vereinbart, davon geht die Hälfte an Rechtsanwalt Dr. H.

Im Aikido-Training zeigt sich Frau S. immer wieder von ihrer besten Seite, und es ist etwas unklar, wem genau sie sich so zeigen möchte.

13. August 2016 08:12










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (57)

14. August 2015, ein Freitag

Die Zwischenumsetzwohnungs-Vermittlung verlangt, um tätig zu werden, eine Bescheinigung der Genossenschaft, die belegt, dass ich bei ihr Mieter sei. Die Genossenschaft verweigert eine solche Bescheinigung mit dem Hinweis, dass zwischen Haupt- und Untermieter kein rechtsgültiger Mietvertrag vorläge. Der Hauptmieter meldet sich nicht.

Interessante Wiederholungsmuster vor dem Aikido-Sommer-Lehrgang. Morgen geht es los. Vor fünf Jahren, in der Nacht vor dem ersten Lehrgang, regnete es nachts durch das undichte Dach in meine Küche, der ganze Boden war Pfütze. Die Wohnung entgleitet meinen Füßen.

Abends Training: Die Praxis vertreibt die trüben Gedanken, bis einzig die Freude an der Bewegung mich erfüllt.

14. August 2016 17:50










Christine Kappe

Jeder Tag

Jeder Tag wirft uns wie ein Meer an den Strand der Nacht, geht alles so schnell
& dennoch kämpfen wir uns ab
blicke ich des Abends zurück, habe ich nur existiert, bzw. das Existieren war
das Wesentliche, zwischen all dem Gerede, Gerenne und Geröll
springe ich in kaltes Wasser, liege ich in der Sonne
rieche den Regen, überlege, ob ich jemanden anrufe oder lieber nicht
lieber nicht

15. August 2016 08:30










Gerald Koll

Das fünfzigste Jahr (58)

15. August 2015, ein Sonnabend

Heute nacht, während der schlaflosen Phase, riss ich meinen Kopf los vom verschwitzten Kissen und suchte nach Filmen zum Stichwort „Meg Stuart“. Damaged Goods hat recht viel eingestellt, auch meinen Trailer, aber hängen blieb ich an einer Veranstaltung im Kaai-Teater namens „Soul Food #6 with Meg Stuart“, die zwei Stunden dauerte. Meg am Tisch wie sie ist: dauernd lachend, überlegt, geschickt antwortend, geistesgegenwärtig. Was für eine tolle humorvolle Frau, dachte ich und dachte danach: Die hast du nun auch ziehen lassen. Und hoffte, sie würde an irgendeiner Stelle auf uns anspielen.

Heute geht es los zum Lehrgang.

15. August 2016 10:01










Tobias Schoofs

VENUS

liebe verspricht ein werbeplakat
die liebe ist rosa hat krallen wie

kinski als nosferatu verkleidet
ratten überschwemmen die stadt
liebe ist nageldesign das biest

im beautysalon belauert die opfer
saugt ihr blut ihren glauben dass
liebe alles ist was du brauchst

verbittert sehen vor dem plakat
die gesichter der sterblichen aus

24. August 2016 23:38










Andreas H. Drescher

DER WALDMINISTER

Der Waldminister
wandert borkenein
er streift und streift
sich jetzt noch tiefer
in sein imperatives
Mandat aus Fraß
wegen und Wieder
wegen Netze aus
Duft-Gesprächen
pilzigen blätternen
darüber wer eben
an ihm nagenagt

(Antwort 1 auf Mathias
Jeschkes „Luftstudien“)

29. August 2016 08:40










Hendrik Rost

Der Körper zerfällt in Sprache

Aus dem Nichts heraus etwas Vergebliches zu schaffen, das ist ein sonniger Nachmittag am See. Nach dem Schwimmen weit hinaus zu den Barschen und den Florfliegen, die auf der Wasseroberfläche gelandet sind, schlenze ich mit vor Vitalität kribbelnden Extremitäten über den Rasen am Ufer und mache an einer Kinderreckstange Klimmzüge. Da ich mich stark fühle, mache ich gleich ganz viele. In der Netzschaukel daneben stehen zwei ungefähr 8-jährige Jungs und sehen zu. „Der kann das gut“, sagt der eine zum anderen und fügt hinzu: „dabei hat der gar keine Muskeln.“

29. August 2016 11:32










Thorsten Krämer

Dieses Gedicht hat schon vor mehr als vierzehn
Monaten aufgehört, an seiner Bikini-Figur zu arbeiten.
Genau in dem Moment, in dem es diesen Entschluss

gefasst hat, hatte es seine Bikini-Figur. Es ist eben
die Figur, die man hier sieht; eine andere Figur hat
dieses Gedicht nur noch in deiner Vorstellung.

31. August 2016 10:25