Sylvia Geist

Shangri-La in Steveston

Man könnte so bleiben, im Schoß
die Hände ornamental, um das Leben
des Tischs nicht zu stören, das Wachstuch,
denn es wachsen Buschwindröschen
darüber und Ringelblumen im Quadrat.
Ein Schafgarbenbonsai blüht auf
der Dose für raffinierten Zucker, „Melissa“
sagt die andere zum Kandis. Der Raum
ist ein Kraut, mild und wild

mit den Kelchen seiner Sammeltassen
und persischen Teppiche aus Taiwan,
seine ganze fadenscheinige Unscheinbarkeit
entzieht dem Gedächtnis die Entzündung,
die frisch gekalkten Schlafbaracken für die
Arbeiter der Konservenfabrik, den Jungen
mit Sepiahaut, ausgestreckt auf einem Bett
aus Lachs. Die Narben im Gesicht der kleinen
runden Frau an der Kaffeemaschine

verewigen ihre Jugend, und ebenso lange
möchte man auf sie warten, um sie wieder
und wieder lächeln zu machen mit nichts
als Anwesenheit. Kutter gleiten stumm durch
das Gras, ein guter Augenblick zu stranden,
alles vergangen sein zu lassen, auch ihn, deshalb
vergeht er: Ein Gatter knarrt. Bald siebzig Jahre
nach Murakamis Internierung erntet man
in seinem Garten Bohnen.

24. Januar 2011 13:37










Sylvia Geist

Wiederfund (13): Die Freude

„Oft geht er hinunter zum Garten, dort ist er für sich. Zwar heißt es, er habe durchaus rauh spielen können, doch oft zieht er sich zurück, und der Garten macht dem Kind die Flucht leicht. Nimm die Rike mit, ruft die Mutter. Manchmal gelingt es ihm, ohne die Schwester fortzukommen. Muß er Rike mitnehmen, zieht er sie in einem Wägelchen hinter sich her. Er spielt Pferd oder Reiter oder Postmeister. Er redet auf Rike ein, ohne eine Antwort zu erwarten. Irgend jemand wird damals schon festgestellt haben, daß er mundfertig sei. Einmal galoppiert er, dann wieder schleicht er, als sei er ein alter Mann. Die Leute kennen ihn alle, den Buben vom Gok, dem Bürgermeister.
(…) Er schlägt mit einem Stecken die hohen Halme, verbirgt sich hinter einer Uferweide, ruft wie ein Totenvogel, was die Rike ängstlich macht. Sei schtill, bleib hocke, i ben ja do.
Er ist da, erzählt Geschichten, legt sich auf den Rücken, phantasiert Wolkenfiguren, mitunter ist es so spannend, daß die kleine Schwester eine Weile zuhört. So liegt er oft. Erst sieht er nur den Himmel, dann „das Gebirg“, den Albtrauf, den Jusi, den Neuffen und die Teck, dann die Stadt, die Kirche auf dem Fels, darunter die verrutschte Zeile der Häuser, das Neckartor, die Brücke: von dort ist er gekommen.
An diese Tage wird er sich erinnern, vor allem, wenn er heimkommt, ratlos, „ohne Geschäft“, und es wird nicht die Heldenerinnerung sein, „da ich ein Knabe war“, sondern der Drang „heimzugehn, wo bekannt blühende Wege mir sind, / Dort zu besuchen das Land und die schönen Tale des Neckars-.“ „Törig red ich. Es ist die Freude.“
Die Freude? Etwas wiederzufinden (…), eine Umgebung und Menschen, die sein Gedächtnis fassen kann, auch wenn es das Kind anders erlebte.“

Er habe dieses Kind erfinden müssen, schreibt Peter Härtling*. Heute hätte man ein Bündel Fotografien, die Hölderlins und die Goks hätten sicher wie andere Familien ihre Chronik fotografiert. „Der Kleine, der Allerkleinste, da in der Ecke, das warst du. Und der Mann lacht und wundert sich der alten Mutter zuliebe“, stellt sich Härtling eine in die Jetztzeit gerückte Familienszene vor.
In seinem Bemühen, „auf Wirklichkeiten zu stoßen“, belichtet er jedes Bild doppelt: den Schweizer Hof zum Beispiel, den der Autor als Hölderlin-Schule kennt, ein Gebäude, das nicht mehr dem gleicht, was als „stattliches Anwesen, mit landwirtschaftlichen Gebäuden und Kellern“ beschrieben wird, den Grasgarten, zu dem er zwar den Weg kennt, „die Neckarsteige hinunter, doch schon das Tor ist nicht mehr da und auch die Brücke hat anders ausgesehen.“ Er hält sich beim Queren der Zeiten an Lektüren fest und baut den Brückenkopf auf die Differenz der Erfahrung: „Wenn er Entfernung denkt, denkt er sie anders als ich; er denkt sie als Wanderer, als Reiter, oder als Passagier einer Pferdekutsche.“
Es sind solche Momente der zugewandten Distanz, die jene der Annäherung glaubhaft machen und auch den Leser hineinfinden lassen in die vorgestellte Kindheit, die so anders gewesen sein muss, dass Attribute wie „strenger“, „gefährlicher“ oder auch „reicher“ wieder nur auf ihn, diesen heutigen Leser, verweisen. Wenn Härtling in seinem Bild des Jungen, den seine Familie vielleicht Fritz nannte, trotzdem auf Wirklichkeiten stößt, liegt das daran, dass es vieles gibt, das man sich in der eigenen, von dort aus gesehen anderen, Umgebung nur als unveränderlich vorstellen kann, Lebensäußerungen wie Freude oder deren zeitweiligen Begleiter Übermut etwa, und dann stellt sich ein, wovon man liest:

„Die Mutter sitzt an einem der Fenster zur Neckarsteige, es ist fast ein Hochsitz, und schaut hinunter auf die Häuser an der Stadtmauer, aufs Neckartor. Es gefällt ihr, wie die Ochsenfuhrwerke sich den Buckel hinaufmühen müssen. Sie kann die Rufe der Bauern hören, das Knattern der Räder auf den Steinen. Oft sitzt ihre Mutter, die Großmutter Heyn, bei ihr. Eine Magd stößt den Fritz in die Stube, er ist erhitzt und betreten, doch seine Augen triumphieren. Er habe Maikäfer auf die Mägde losgelassen. Die seien vor Angst außer sich gewesen und der Lausbub habe noch gejubelt. Die Großmutter will für einen Augenblick lachen, sie verbietet es sich, denn ihre Tochter bleibt ernst und tadelt den Buben: Du hast den merkwürdigsten Unfug im Kopf, kannst du es nicht bleiben lassen? Soll ich es dem Vater sagen? Er schüttelt den Kopf, erwidert: Sie dürfen mir nichts tun, es ist die Freude, ganz einfach die Freude.“

*“Hölderlin“, in: „Ein Schriftsteller schreibt ein Buch. Dichter über Dichter und Dichtung“, herausgegeben von Gerhard Köpf, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 1984

10. Januar 2011 14:21










Sylvia Geist

Nachtausgabe

Innenbahn

Könnte eine Erinnerung sein,
das Abteil, die Innenseite von etwas

aus Schnee, Schnee. Woraus ist dieser
Vorhang: Landschaft mit Himmel um

die Stirn? Ich möchte fragen, da
neigt er den Kopf, dass ich spüre

die blaue Schläfe der Mütze,
die ich nicht tragen kann.

28. Dezember 2010 13:45










Sylvia Geist

Reduktionen eines Strandspaziergangs

Auf einem Spaziergang mit meinen Kieler Freunden Arne Rautenberg und Christopher Ecker sahen wir irgendwo zwischen Rantum und Westerland eine tote Robbe am Strand. Den Küstenbewohnern mag dieser Anblick weniger außergewöhnlich gewesen sein, wenn sicher auch nicht alltäglich. Für mich Landratte aber war es die erste Begegnung dieser Art, und ich merkte schon beim Hinsehen, dass mein Bewusstsein im Bemühen, das Bild möglichst schnell mit anderen Bildern zu verdecken, die Assoziationsmaschine anwarf. Da ein Erschrecken sich manchmal aber auch mit einem Witz Luft macht, schlug ich Arne vor, demnächst eine „Traurige Mär von der halben Robbe“ zu verfassen, und irgendwie ergab es sich dann, dass wir alle drei etwas zu dem Vorkommnis schrieben. Fürs erste kam bei mir das heraus:

Magrittematerial

Geschätzte zehntausendmal hatten wir vor
Augen: die rasiermesserscharfen Rasiermesser
Etuis aus echtem Kalk, den fetzenfachen Schaum,
viel an dem Tag. Wir hatten Tempo, feste
Schuhe, Atem, auch zu reden – sagt, ihr kennt doch
das Bild, das andere? Wir hatten gegessen, Auftrieb,
Laune, so viel hatten wir, dass wir es aufgaben
zu zählen. Geschätzte zehntausend Möwenschritte

zur Sauna, erinnerte Nackte gingen uns entgegen,
prächtig errichtet in imaginären Tagebüchern,
in denen passiert wäre, was gerade passierte,
Rückenwind. Jenes Bild – wisst ihr nicht mehr, das
mit dem Tuch – wie lieb wäre es mir gewesen,
lieber als meine Kammmuscheln, vielmals, aber
wir hatten den Fund, den Stillstand, das Herz,
hatten die Robbe auf den zweiten Blick

erkannt, da war das schon geschätzte zehntausend
Male drinnen, deutlich wie die Gesichter,
denen wir nur ansehen, sie sind unmäßig schön
unter dem Gewebe. Wir hatten kein Tuch, sie hatte
den Sand, lag dort zur Hälfte, sie war perfekt
geöffnet worden, keiner Schraube, der Muschel
Schärfe besserer Maschine war solche Sauberkeit
zu danken, mittendurch. Ihr Herz, noch vollkommen

rot, ein Klumpen Plasma und Schock, schlug uns
zurück an die Luft, auf den Magen, wie damals
als ihr, geschätzte zehntausend Jahre im Blut,
nicht wusstet, was wolltet ihr denn überhaupt
nicht missen. Keine Idee, ob ihre Beine dem Meer
geblieben waren, getauscht gegen Schaum, ab
geklungen, ob sie es uns zeigte oder wir ihr
Gesicht hätten ausgraben können. Das behielten wir.

*

Christopher reagierte schon weitaus bündiger mit diesem Gedicht, das ich mit seiner Erlaubnis hier einstelle:

***

ich lege euch tote
robben an die strände
lege sie euch bein
los lege sie euch kopf
los lege sie an eure
strände schwarz und
nass und an manchen
stellen dunkelrot

*

Arnes Gedicht soll vorerst im Zustand des Geheimnisses bleiben. Soviel darf ich aber doch dazu sagen: es bringt „die Sache“, nämlich das, was wir tatsächlich gesehen haben, in sage und schreibe zwei Zeilen auf den Punkt, und es ist anzunehmen, dass er noch ganz anders hätte loslegen können. Womöglich mit nur einem Wort.

11. November 2010 17:28










Sylvia Geist

Treppe mit Raupe

Braune Nerzmade, wie Staubgefäße
weich die Grannen auf ihrem Körper
aus Ringen, langsam und länger
als mein kleiner Finger hangelt sie
über die Klüfte zwischen den Planken
und erschrickt. Beide sind wir Blinde.

In Gedanken sehe ich kaum mehr
sie, die jetzt einen Schilfkolben imitiert,
sondern ihre Vorfahrin und eine der Meinen,
die vielbeschäftigte, eilige Frau, die jene
eines Augustabends zerstreut errettete vor
der peitschenden Wasserschlange im Garten.

Zwischen Skylla und Charybdis war der
ständig in Gefahr verschluckt zu werden
vom märkischen Sand oder unterzugehen
als Schlamm. Wie oft ertrank die Grasnarbe,
fortgeschwemmt im verstockten Bemühen
um die Stachelbeeren, die Kaiserkronen,

angepflanzt gegen den Maulwurf, die Nesseln
auf den Fahrradhügelgräbern bei der Lichtung
aus Krüppelkiefern? Kein Ankommen gegen
die Gliederkette dieser Vorwärtsmuskeln, nur
die Finger, die sie berühren wollen, die Motte
in der Zeit, die über die Beete fliegt.

Der, dem die Raupe nun den Ledernacken
hinhält, den Wurmfortsatz von Kopf
mit den unsichtbaren Augen, mein Finger
fühlte die lederne, unabsichtliche Sanftmut
streuende Frauenhand damals und den Strom
unter der kühlen Haut des Schlauchs.

18. Oktober 2010 13:01










Sylvia Geist

Blaues Pferd

Ich fand die Farbe deines Hemdes
gestern in einem geliehenen Buch
also soll es dieser Stoff sein
der den Abend schultert, mimetischer
Flachs, das Watt der Fältelung
über der Armbeuge, die Variation
von Bewegungsfreiheit, Regungsfreiheit
bloß sämtlicher reglos, so wie ich auch

das blaue Pferd oben am Haus
besteigen, dahintreiben könnte, einer
der unterm Verwinzigungsglas Raum
gelandeten Gegenstände, wo der Puls
einer Alge genügt und die Geschenke
vergeben werden, genommen, vergeben
als wäre alles noch mal getan ungetan
langte hinaus übers Eingebläute, zum

Stoff, der sich ins Unberührte erstreckt.
Wir stehen nicht auf, gaukeln weiter
nichts vor als die Mähre, die im Wind
unentwegt unbewegt ihre Schatten
um sich dreht, sitzen ganz still
auf flood, der Flut, die blau auf gelb
grün in den Dünen steht. Wie Falada
ist sie aus Kunststoff, und sie trägt.

(bearbeitet am 16./17.10.)

30. September 2010 12:16










Sylvia Geist

Empathie

Du hast Recht, lieber Thorsten, in meinem Text vermische ich Problemfelder und stosse so leider nicht auf des Pudels Kern. Hier liegt wohl auch die Krux meiner Ausgangsposition: ich wuenschte, es gaebe so einen Kern, eine gesellschaftliche Stellschraube, die zu justieren waere, um Exzesse zu verhueten, indem man deren Voraussetzungen bekaempft. Stattdessen gibt es solche Schrauben die Menge, und viele davon sind so locker, dass man eigentlich nur staunen kann, dass nicht noch oefter noch Schlimmeres geschieht.
Der Hinweis auf den zum Teil hysterischen Umgang mit kindlichen Aggressionen ist richtig. Leugnung des aggressiven Potenzials bringt nichts. Dass ein Mensch lernen kann, es zu steuern, darf man aber als erwiesen betrachten. Temperament ist Veranlagungssache, Verhaltensweisen werden abgeschaut und eingeuebt. Kleine Jungen (und auch manche kleinen Maedchen) „pruegeln“ sich seit Menschengedenken und werden das auch kuenftig tun, das praedestiniert sie nicht zu Gewalttaetern. Unangemessen reagierende Kindergaertnerinnen schaffen das aber auch nicht. Vielleicht ueberschaetze ich die Moeglichkeiten einer Einflussnahme auf diesen Prozess im Kindergartenalter, und die Pubertaet ist diesbezueglich die wichtigere Phase. Ich weiss auch nicht, mit wieviel Psycho-Gramm die Lizenz zum Sandkastenraufen nun genau ins Gewicht fallen wuerde. Doch dass das Wilde umso schmerzlicher vermisst wird, je weiter zum Beispiel der Weg in den Wald ist, das bezweifle ich nicht.

Und schon bin ich wieder in einem Exkurs… Wirtschaftliche Faktoren, soziales Umfeld, systemimmanent gefoerderte Fehlentwicklungen, individuelles Versagen – wenn es eine Wurzel gibt, hat sie natuerlich viele Straenge. Daneben gibt es vielleicht doch so etwas wie eine Voraussetzung, oder bescheidener formuliert: ein Phaenomen, das immer wieder anzutreffen ist, den eklatanten Mangel an Empathie, der zur Gewaltausuebung im unten geschilderten Mass faehig macht. Entsteht der aus ueblen Parolen? Muss sich erst ein menschenverachtendes Ideenwirrwarr in einem Kopf festgesetzt haben, damit jemand zum Schlaeger wird? Oder ist ein gravierender Empathiemangel eine Voraussetzung fuer die Hinwendung zu diskriminierenden Ideologien, die im Kern ohne Gewalt nicht denkbar sind?
Vieles laeuft auf Altbekanntes hinaus, nimmt im Bemuehen, einen moeglichst breiten Ausschnitt der Lebenswirklichkeit in den Blick zu nehmen, die deprimierende Form von Gemeinplaetzen an. Die Fokussierung auf konkrete Teilaspekte wiederum vernachlaessigt andere Aspekte, es gibt Widerspruechlichkeiten, und es gibt die grosse graue Muedigkeit. Nichts ersetzt Elternliebe, auch so einfach kann man es sehen. Und steht dann doch wieder im Dickicht, wenn man nicht im Fatalismus landen will. (Nein, das meintest du nicht, Thorsten.) Was ich ueber Tabuisierung schrieb, beduerfte allerdings der Differenzierung. Dieses Fass habe ich im Zorn aufgemacht. Mein Aggressionspotenzial ist, wie man so sagt, auch nicht von schlechten Eltern.

31. August 2010 00:23










Sylvia Geist

Was dann?

Ich rede nicht von den Sprechblasentabus unserer Gesellschaft, sondern von einem echten, einem gefuehlten Tabu. Arm zu sein, zum Beispiel, ist in Deutschland (aber natuerlich nicht nur dort) ein groesseres Tabu als Gewaltausuebung, das ist mein Eindruck. Meine Gedanken zu dieser Problematik sind sicher von einiger Hilflosigkeit gepraegt, aber wenn eine Erziehung zur Faehigkeit, Gewalt zu vermeiden – z.B. indem man sie schoepferisch kompensiert und kommunikativ kanalisiert, u.v.m. – wenn das kein (Teil-)Loesungsweg ist, was schlaegst du stattdessen vor? Doch wohl nicht, dass Eltern NICHT mehr informiert, nicht miteinbezogen werden sollen, wenn es Probleme gibt.
Ich bin auch nicht so naiv zu glauben, dass sich alles ausschliesslich mit den Mitteln der Fruehpaedagogik loesen laesst oder dass man bei Handgreiflichkeiten unter Dreijaehrigen gleich Zeter und Mordio schreien sollte. Aber zu leugnen, dass es in diesem Bereich noch Baustellen – und mithin vielleicht auch noch manche Chancen – gibt, erschiene mir ebenso unklug. Im Uebrigen enthielt mein Eintrag nicht nur diesen einen Punkt.
Ansonsten, vielen Dank fuer Deine Reaktion, lieber Thorsten.

30. August 2010 00:41










Sylvia Geist

In welchem Land

In Deutschland. Nicht in Sachsen, sondern in Niedersachsen. Abends, nicht mitten in der Nacht. In einem um diese Abendzeit gut besuchten Altstadt-Viertel mit Theatern, Restaurants, einem Opernhaus, Shoppingmalls. Kann ein junger Mann von drei Angreifern zusammengeschlagen werden. Fusstritte gegen den Kopf erhalten. Zaehne verlieren. Hoeren, wie die Schlaeger bruellen: „Wieder! Einer! Ohne! Weissen! Stolz!“
Dem jungen Mann kann das aus vielen Gruenden passiert sein. Weil er das falsche T-Shirt trug, die falsche Frisur. Weil er mit seiner Freundin gerade von einem Konzert kam und gluecklich aussah. Weil er dunkle Augen und dunkle Haare hat. Weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. Weil es ueberhaupt keine Gruende braucht fuer Leute mit „weissem Stolz“.
Die ersten Gefuehle, die dem Schock der Angehoerigen folgen, sind Ohnmacht und Wut. Aug‘-um-Aug‘-Gefuehle. Selbst 1,90m gross sein wollen und zu dritt, und denen begegnen.
Dann Trauer und Ratlosigkeit. In welchem Land kann das sein. In welchem Land auch kann es sein, dass Nazis ohne weiteres aufmarschieren duerfen, waehrend der DGB um eine Gegendemonstration erst vor Gericht streiten muss. In welchem Land ist es ein Problem, eine Partei zu verbieten, die Geschichtsfaelschung betreibt und sich in ihren Wertvorstellungen offen gegen das Grundgesetz stellt, waehrend man sich Ton- und Gangart des Protests gegen die extreme Rechte zunehmend von gewaltbereiten linksextremen Gruppierungen aus der Hand nehmen laesst, die ihrerseits den Behoerden opportune Argumente fuer Verbote oder Erschwerungen von Gegendemonstrationen liefern. Waehrend ein Ex-Senator, SPD- und Bundesbankvorstandsmitglied, die in Teilen der Bevoelkerung (die in keineswegs abseitigen Diskussionsforen, u.a. grosser Tageszeitungen, mittlerweile auch schon mal als „schweigende Mehrheit“ bezeichnet werden) ohnehin schon vorhandenen Ressentiments mit aggressiv diskriminierenden Polemiken schuert, ohne sich wenigstens die Frage zu stellen, wo er sich befindet, in welchem Land naemlich.
Dann Scham. Was hat man in den letzten zwanzig Jahren getan. Was haette man stattdessen tun koennen. Was kann man tun. Friedlich demonstrieren, bestehende Initiativen unterstuetzen. Beginnen, sich etwas mehr vorzustellen. Was, wenn es schon in den Kindergaerten ueberall im Land eine gezielte kindgerechte Erziehung zur Gewaltvermeidung und zur Solidaritaet mit Angegriffenen gaebe, wenn das an allen Schulen unterrichtet wuerde, nicht nur hie und da in sogenannten Problemvierteln, wenn Gewaltpraevention ein Lernfach waere, gekoppelt an den Bereich „Werte und Normen“, so dass Gewalt als etwas begriffen wuerde, dessen man sich nicht nur vor irgendeinem anonymen Buergertum oder vor den Eltern zu schaemen hat (wenn ueberhaupt), sondern vor Gleichaltrigen, vor den eigenen Freunden, und zwar durchaus aus weltanschaulichen Gruenden. Es gibt solche Programme bereits, darunter auch Ideen, wie und mit welchen geistigen und emotionalen Guetern gegen „weissen Stolz“ anzugehen ist, und Menschen, die dem Einsatz dieser Gegenmittel viel von ihrer Lebenszeit widmen, das ist gut. Es gibt noch lange nicht genug davon, das sollte, das muss sich aendern. Auch meine Haltung muss sich aendern, muss mehr Muehe machen, mehr Zeit kosten, viel mehr Zeit.

29. August 2010 23:49










Sylvia Geist

Sun Music

Weil meine Versuche, Musik zu beschreiben, mich regelmaessig frustrieren, habe ich mich im Internet nach einer Aufnahme der Sun Musics von Peter Sculthorpe (geb. 1929 in Tasmanien) umgesehen, um den Link hier einzustellen. Bis auf ein paar Sekundenausschitte bei Faber Music u.ae. sowie ein paar Bezahltracks blieb meine Suche leider erfolglos. Also begnuege ich mich mit einem Hinweis: Sir Bernard Heinze, der im Jahr 1965 das Orchesterwerk fuer die erste Welttournee des Sydney Symphonie Orchesters bei Sculthorpe in Auftrag gab, wollte „something without rhythm, harmony or melody“, eine Vorgabe, die Sculthorpe besonders in der ersten seiner vier Sun Musics erfuellte.
Nachdem ich Sculthorpe zuvor nur in seinem wohl populaersten Werk Earth Cry begegnet war, in einer Aufnahme mit dem Didgeredoo-Zauberer William Barton, fand ich Sun Music (I) beim ersten Hoeren fast langweilig. Doch beim zweiten Mal stellte sich ein Eindruck ein, der mich an die kurze partielle Sonnenfinsternis erinnerte, die ich als Kind erlebt habe. Damals war es, als wuerde die Sonne fuer mich mit jedem Grad sichtbarer, um den sie in den Schatten zu rutschen schien, als kaeme mir eine vage, traumartige, aber sonderbar fuehlbare Ahnung von Entfernung, von der schwarzen Ausdehnung um den Fixstern und von den dunklen Bestandteilen von Licht.
„The Sun Musics present a world devoid of human population, except in so far as the quasi-visual sounds come to us by courtesy of the composer’s listening ear and watchful eye“, heisst es in einem Kommentar zum Werk, und weiter: „Sculthorpes nature (…) is far from benign, though the visual quality of the Sun Musics has a positive aspect in that the works embrace another kind of otherness (…)“

PS: Statt Sun Musics fand ich ein Lied von dem mir bisher unbekannten englischen Komponisten Gerald Finzi: Fear No More The Heat O‘ The Sun (http://www.youtube.com/watch?v=LGcuFWpT0G0&feature=related) in einer Fassung fuer Bariton und Orchester. Das Video ist optisch wenig ansprechend, dafuer kann man den Shakespeare-Text mitlesen. Oder einfach mal fuenf Minuten lang die Augen schliessen.

17. August 2010 23:43